Frauenblick. Kapadokien (3)

Monika Wrzosek-Müller

Derwische – der spirituelle Weg

Noch ein Text über meine Reise nach Kappadokien, in die Türkei.

Natürlich haben wir der Zeremonie der Tanzenden Derwische in einer unterirdischen Höhle beigewohnt. Auch wenn sich das sehr touristisch anfühlt, und auch ist, zwingt die Veranstaltung selbst zum Nachdenken. Denn jeder sucht seinen Weg, einen Sinn im Leben, etwas, was darüber hinausweist, was in schwierigen Momenten an etwas Höheres glauben lässt. Schon lange liefern unsere Religionen nicht genug Nahrung oder sie sind zu rigide, zu hermetisch, ihre Institutionen zu schwerfällig, als dass man sich ihnen anvertrauen möchte. Unsere Ewa macht sich mit dem Don Quijote auf die Reise und sucht auf dem alten, ewigen Weg nach konkreten Lösungen oder nach Konzepten für ein Weiterkommen.

Die Autorin hat sich auf den Yoga-Weg begeben, ohne sich dabei auf die sektenähnlichen Verstrickungen einzulassen, ohne auf ihre andere, „normale“ Lebensroutine zu verzichten. Ein bequemer Yoga-Weg, der manches besser zu verstehen, zu meistern erlaubt, der Körper und Geist einen Ausweg bietet und die Seele auch nicht vergisst.

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Frauenblick. Ballonfahrt und…

Monika Wrzosek-Müller

… die Landschaft in Kappadokien

Fliegen wurde in meiner Familie immer großgeschrieben; als Kind hörte ich die fantastischen Erzählungen über meinen Großvater, der während des Zweiten Weltkrieges in der Royal Airforce war, junge englische Piloten ausbildete und über Schottland von den Deutschen abgeschossen wurde. Irgendwann, nicht lange her, habe ich tatsächlich seinen Grabstein auf einem kleinen Friedhof unweit von Aberdeen, in Lossiemouth gefunden. Er war das große Vorbild in unserer Familie, ich das schwarze Schaf; doch das Fliegen blieb immer ein Thema für mich. Ich erinnere mich, als ich nach Deutschland, West-Berlin kam, träumte ich monatelang vom Fliegen. Dieses Fliegen war mit einem gesteigerten Gefühl der Freiheit und des Loslassens verbunden. Im Traum stand ich am offenen Fenster, stieg hinaus und flog, ohne Sorgen, ohne Angst, schwebte einfach so über ganze Landschaften, über Häuser, Kirchen mit ihren Türmen, Flüsse, Brücken, Felder, Wälder, erstaunlicher Weise aber nicht über Städte; es waren immer grüne Landschaften, keine Häusermeere. Ich sah große Seen, Meeresküsten unten; in keinem Moment empfand ich Angst. Ich wachte meistens am Ende einer solchen Reise auf.

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Frauenblick. Kapadokien.

Monika Wrzosek-Müller

Die Reise nach Kappadokien und Antalya

Die Reise liegt nun schon mehr als eine Woche zurück, trotzdem habe ich mich noch nicht wieder ganz hier in Berlin eingelebt. Es ist zu kühl, zu chaotisch und voll mit Problemen, die ich lösen sollte, einige schon vorher, oder solche, die man gar nicht angehen sollte. Eine Reise bedeutet doch ein bisschen Flucht vor dem überbordenden, routinierten Alltag, vor Verpflichtungen jeglicher Art, vor kleinen mühsamen Zusammenhängen, die einen einengen? Auf die Reise gehen, sich auf den Weg machen, aufbrechen, Neues erleben, aktiv sein, auf jeden Fall motiviert so eine Reise immer zu neuen Blickwinkeln, zu neuen Perspektiven, besonders wenn der Weg in Gebiete führt, die zu einem anderen Kulturkreis gehören.

Morgens, kurz vor Sonnenaufgang weckte mich meistens der Muezzin, nicht immer war mir das angenehm; doch wir sollten darauf achten, welchen Ton er anschlug: morgens, mittags und abends und noch zwischendurch, denn er ruft fünfmal am Tag; zweifellos war für mich der Ruf Adhan morgens am schönsten. Die immer gleichen paar Sätze: „Gott ist groß. Ich bezeuge, dass es keine Gottheit gibt außer Allah. Eilt zum Gebet. Eilt zur Seligkeit. Gott ist groß.“ wurden durch Lautsprecher hörbar. Angeblich gibt es noch einen Satz: „Das Gebet ist besser als Schlaf“, wird aber nur von Sunniten ausgerufen. In der Türkei Atatürks erfolgte der Ruf auf Türkisch, seit 1969 gab es wieder die arabische Variante und so ist es bis heute.

Der Flug nach Antalya mit „Sunexpress“ dauerte 3,5 Stunden und wäre an sich angenehm gewesen, nur wurde uns nichts zu Trinken angeboten, nicht einmal Wasser, das ich vergessen hatte zu kaufen. Die Gruppe, die sich nach der Ankunft zusammenfand, bestand aus eher ältlichen Teilnehmern aus Berlin und München. Die ein wenig Jüngeren konnten das Durchschnittsalter kaum senken. Der Graben zwischen Ost- und Westdeutschen hat sich, schien mir, noch vertieft, so war ich ganz selig und froh, dass ich ausgerechnet eine allein reisende Schwedin in der Gruppe traf.

Nach einem kurzen Zwischenaufenthalt in der Nähe von Antalya und dem Ort Manavgat sollten wir gleich in die Berge aufbrechen und bald ging es auch schon durch das Taurus Gebirge über viele Serpentinen bergauf, durch richtig viel Schnee, nach Kappadokien. Die Unterschiede bei Klima und Vegetation hätten nicht größer sein können, unten in der Antalya-Ebene blühten Orangen, Mandeln, Aprikosen, Zitronen auch Granatäpfel – ein blühendes, grünes Meer von Pflanzen, Früchten und Gemüse, aber auch Blumen mit unheimlich vielen Gewächshäusern lag auf beiden Seiten der sehr gut ausgebauten Schnellstraßen. Oben auf dem Pass, auf 1850 m, lag kniehoch Schnee, wir waren in den Wolken, es gab Tannen und Kiefern, aber auch riesige alte Zedern. Der Übergang zu der anderen Seite war weniger dramatisch, denn die Hochebene Richtung Konya liegt auf 1200 m. Kurz vor der Reise hatte ich auf ARTE eine Sendung über Pferdezüchter in der Mongolei gesehen und die weiten, breiten, hügeligen, wunderschönen Landschaften bewundert; das erlebte ich jetzt hier vor meinen Augen. Bevor die Steppe zu trocken, grau und steinig wird, gibt es einen Streifen wunderschöner Landschaft mit noch grünen Weiden und Hügeln im Hintergrund, menschenleer soweit das Auge reicht, diese Weite ist imposant, unendlich, überwältigend. An mehreren Stellen haben wir Projekte zur Aufforstung und Urbarmachung des Bodens gesehen; es ist eine Gegend, in der es kaum regnet. So sind riesige Anstrengungen nötig, um Wasser von den Bergen in die Hochebene zu leiten und die Pflanzungen zu bewässern. Bereits da unterwegs habe ich gespürt, dass die Türkei ein riesiges Land mit noch ungeahnten Möglichkeiten ist und dass sich unheimlich viel in dem Land getan hat seit meinem letzten Aufenthalt zu Ende 80er Jahre. Wir kamen dann hinter Konya in die Steppenregionen, die bedrückend leer und fast tot sind. Stundenlang graue Steppe, die auch zu dieser Jahreszeit (Frühling) ausgetrocknet ist. So, habe ich gedacht, musste die Steppe in Kasachstan ausgesehen haben, wohin meine Mutter 1940 mit ihrer Familie aus Lemberg von den Sowjets verschleppt wurden. Völlig menschenleer, ohne Tiere, aber auch ohne Bäume oder höhere Pflanzen, nichts war zu sehen, keine Dörfer, keine Häuser, stundenlang nichts. Wie hat man da überlebt, wie hat man das bewältigt, fragte ich mich immer wieder; die Steppe dort in Kasachstan war noch größer, noch leerer, noch hoffnungsloser, ohne Straßen, Zivilisation, ohne Fluchtmöglichkeiten. Von dort kamen die Nomadenvölker, die Seldschuken, die auch die Steppe in Anatolien bevölkert haben.

Inzwischen waren wir schon auf der Route der Seidenstraße und besichtigten in Aksaray, eine seldschukische Karawanserei, die es an Mächtigkeit mit einer Festung, einer Burg hätte aufnehmen können, auch hinsichtlich der unheimlichen Baukunst, mit schönen Steinmetzarbeiten an den Portalen. Man kann sich richtig vorstellen, wie die Karawanen mit ihren Waren und Transporttieren (Kamele, Esel, seltener Pferde) und die Menschen dort Unterschlupf fanden, also ein Nachtlager, Ruhe und vor allem Sicherheit. Entlang dieser Straße gab es alle 30 bis 50 km. eine solche Karawanserei, nicht alle waren so reich geschmückt und groß, doch alle wehrhaft und mit einem riesigen verschließbaren Tor versehen.

Die Hochebene von Kappadokien erstreckt sich zwischen zwei riesigen Vulkanen, Hasan Dagi (3268 m) und Erciyes Dagi (3916 m), die sich mit schneebedeckten Gipfeln in der klaren, durchsichtigen Luft sehr schön präsentierten und über die Ebene wachten. An den Hängen des Erciyes Dagi kann man angeblich sogar Skifahren; ich selbst habe abends einige junge Japaner mit Skiern in unserem Hotel unweit von Göreme gesehen. Auf jeden Fall sehen die Berge imposant aus, auch von der ohnehin schon auf ca. 1000 m gelegenen Hochebene. Tatsächlich ähneln sie für mich dem Fuji-Vulkan bei Tokio, meistens waren ihre Gipfel auch von den Wolken verhüllt.

Die Geschichte Kappadokiens begann schon in Urzeiten; seitdem zogen immer wieder viele verschiedene Nomadenvölker durch dieses erstaunliche Land. Mal blieben sie länger, mal zogen sie schnell weiter. Von den wichtigeren seien hier Hethiter, Phrygen und Perser zu nennen, auch Alexander der Große hat das Territorium besetzt. Dann gab es starke griechische Einflüsse, bis schließlich das Land zur römischen Provinz wurde. Doch gleichzeitig blühte das Christentum in Kappadokien auf, wovon auch die unzähligen Kirchen, Klöster und Abteien zeugen, die bis heute existieren. Zwischenzeitlich kamen die Araber mit dem Islam und die Kirchen wurden geschlossen, doch schon bald breiteten sich die Seldschuken aus, die die christliche Religion durchaus tolerierten. Erst danach übernahmen Osmanen die Herrschaft.

Doch es ist ein Land geblieben, das von vielen Völkern/ Ethnien bewohnt war und ist, immer wieder auch überfallen wurde. Davon zeugen die unterirdischen Städte, die 150 unterirdischen Zufluchtsstätten, über 30 davon kann man als Städte bezeichnen. Sie erstreckten sich über mehrere Stockwerke und auch in die Breite, verfügten über sehr komplizierte, raffiniert konstruierte Systeme für die Wasserversorgung und die Luftzirkulation und über Vorratskammern. Die Bewohner dieser Städte konnten sich einige Monate dort versteckt halten. Die Eingänge wurden mit riesigen flachen Steinen blockiert; diese Torsteine waren aus einem anderen harten Stein gemeißelt, sie erinnerten an Mühlsteine und waren rundlich. Eindeutig erwiesen scheint die Tatsache, dass es sich vorwiegend um christliche Bevölkerung handelte, die dort Unterschlupf fand; davon zeugen die Kirchen und Kapellen, die man gefunden hat. Diese Städte sind wirklich unheimlich und riesige Gebiete besitzen solche Anlagen. Leider wurde mir bei der Besichtigung einer solchen Stadt schon im zweiten unterirdischen Stockwerk übel; ich bin also nicht ganz nach unten vorgedrungen, so habe ich sie nur aus Erzählungen und Beschreibungen erlebt. Ganz unten befanden sich offenbar Toiletten und Grabstätten; es war an alles gedacht. Die Temperaturen blieben das ganze Jahr niedrig, um 10 Grad, deshalb werden einige Räume heutzutage als Weinkeller genutzt. Die ländliche Bevölkerung lebte noch sehr lange in den unterirdischen Räumen, den Höhlen; als in den 60er Jahren endgültig Schluss damit sein sollte, kehrten im Sommer immer wieder Leute in ihre alten Behausungen zurück. Sie wussten, dass es derart frische Temperaturen auch in modernsten Appartements nicht gab.

Das alles ermöglicht der Tuffstein; die in früheren Jahrhunderten oder gar Jahrtausenden aktiven Vulkane spien Asche und vulkanische Erde aus, es strömte Lava aus, in Jahrtausenden sind diese vulkanischen Aussonderungen versteinert. Jetzt präsentieren sie sich als Tuffstein mit bizarren, wirklich außergewöhnlichen Formationen. Der Tuffstein ist so weich, dass er sich relativ leicht formen lässt und macht das Aushöhlen für unterirdische Anlagen möglich, erst in Verbindung mit Sauerstoff, also an der Luft, verhärtet sich der Stein. Noch heutzutage entstehen Bauwerke in dieser Bauweise: wir haben ein Keramik-Museum in ausgehölten Grotten, sehr schönen Räumen, besichtigt. Die Arbeiten für dieses private Güray Müse in Avanos dauerten 6 Jahre, doch das Ergebnis beeindruckt durch die Präsentationsart und die Objekte, aber auch durch die moderne Verkaufsgalerie. Es gibt ein Café, man kann auch Führungen buchen; an den ausgestellten Objekten wird die kulturelle Vielfalt und das Alter dieser Kulturregion sichtbar.

Über meine Ballonfahrt und die „Feenkamine“ berichte ich das nächste Mal.

Frauenblick auf Frauenliteratur und Frauenleben

Monika Wrzosek-Müller

Tove Ditlevsen

Drei schmale Bändchen und so viel Erfahrung, so viel Wissen über das Leben von Menschen, über sich selbst, so viel Erlebtes darin, aber vor allem so viel Sensibilität und Gefühl für Worte, Sätze, Sprache. Und ein Leben voller Brüche, Wendungen, Leid und Hoffnung. Erstaunlich, erstaunlich, dass wir/ich sie nicht schon längst entdeckt haben. „Kindheit“, „Jugend“ und „Abhängigkeit“, so die Titel der drei Bände, erschienen zuerst 1967, dazu noch der Roman „Gesichter“, 1968 auch in Kopenhagen veröffentlicht.

Autofiktionales Schreiben, oder ist das eher biografisches Schreiben? Auf jeden Fall bringt Ditlevsen Erlebtes und Erfundenes zusammen, die Fakten, auch die sehr intimen, sind mit Fantasiesträngen durchflochten. War denn ihre Kindheit in wirklich sehr ärmlichen Verhältnissen daran schuld, dass sie psychisch labil geworden war und daran zerbrach, oder war ihr dritter Ehemann der eigentlich Schuldige? Schon als kleines Mädchen lebte sie immer in ihrer eigenen Welt, stellte sich ganz viel vor, schrieb auch ganz früh Gedichte. Sie las auch viel, doch ihren Wunsch, Schriftstellerin, Dichterin zu werden, musste sie geheim halten. Sie fragte ihren Vater: “´Was bedeutet Kummer, Vater´? Ich war bei Gorki auf dieses Wort gestoßen und liebte es. Er überlegte lange, während er über seine gezwirbelten Schnurrbartenden strich. ´Das ist ein russischer Ausdruck´, antwortete er dann. ´Es bedeutet Schmerz, Elend, Trauer. Gorki war ein großer Dichter`. Ich sagte fröhlich: ´Ich möchte auch Dichter werden`! Er runzelte die Stirn und erwiderte: ´Bild dir bloß nichts ein. Ein Mädchen kann nicht Dichter werden´. Ich zog mich gekränkt und betrübt wieder in mich selbst zurück, während meine Mutter und Edvin über meinen abstrusen Einfall lachten. Ich schwor mir, nie wieder jemand anderem meine Träume zu verraten und hielt mich meine ganze Kindheit daran.“ Doch sie kämpfte ihr Leben lang dafür und bekam auch ihren Platz in der dänischen Literaturgeschichte, im Kanon der Schullektüre.

Apropos Lesekanon: Nebenbei habe ich das gut recherchierte Buch von Nicole Seifert über den unpassenden Begriff Frauenliteratur gelesen. Erstaunlich für mich, was sie über Deutschland berichtet; nur Droste-Hülshoff hat es in den Kanon der Schullektüre geschafft, es gibt keine anderen „vorzeigbaren und würdigen“ Autorinnen. Da könnte Deutschland von seinem Nachbarland Polen viel lernen; ich bin mit so vielen Schriftstellerinnen aufgewachsen, dass ich sie gar nicht aufzählen kann. Hier nur die wichtigsten: Konopnicka, Orzeszkowa, Zapolska, Łuszczewska und natürlich die Königin der Trivialliteratur Rodziewiczówna, dann Pawlikowska-Jasnorzewska, Nałkowska. Folglich ist es wenig verwunderlich, dass gerade zwei Polinnen, Szymborska und Tokarczuk, in letzter Zeit den Nobelpreis bekommen haben.

„Schreiben heißt, sich selbst auszuliefern“, sagte Ditlevsen in einem Gespräch, “sonst ist es keine Kunst. Man kann das verschleiern, aber letzten Endes schreibt man doch immer über sich selbst.“ All die kleinen aber feinen Momente aus ihrer „Seelenbibliothek“ schrieb sie irgendwann auf, zuerst in ihr Poesiealbum, später in ihr Tagebuch; da standen alle ihre Gedichte, Gedanken und Reflexionen, die sie fleißig notierte. Sie durfte nicht aufs Gymnasium, musste eine Stelle annehmen, obwohl sie sehr gerne weiter gelernt hätte. Trotz der vielen Widerstände beharrte sie darauf, ihren Weg zu gehen, zu schreiben. Darum hat sie auch ihren ersten Mann geheiratet, der zwei Jahre älter als ihre Mutter und dreißig Jahre älter als sie selbst war – um überhaupt einmal veröffentlicht zu werden und um mehr Bildung und an etwas mehr Wohlstand zu kommen. Irgendwann wollte sie auch ein Zimmer für sich allein, zum Schreiben haben; es hätte auch eine Dachkammer ohne Heizung gewesen sein können. „´Denk immer daran, dass es Schoffeur heißt´, sagt er, ´nicht Schafför, Französisch, nicht Kopenhagenerisch´. Die Bemerkung verletzt mich, und ich gerate in Wut auf meine Herkunft, meine Unwissenheit, meine Sprache, meinen völligen Mangel an Bildung und Kultur, diese Wörter, die ich kaum kenne.“

Tove Ditlevsen wurde 1917 in Kopenhagen geboren, starb 1976, erlebte schlimme Phasen der Alkohol-, und Medikamentenabhängigkeit. Sie nahm Drogen, wozu ihr dritter Mann sie verführt hatte. Er war Arzt und gab ihr Spritzen mit Pethidin, um sie an sich zu binden. Dabei war sie zu dieser Zeit eigentlich schon eine gestandene Schriftstellerin, die viel veröffentlichte und gut davon alleine hätte leben können. Doch die Wirkung der Drogen, die sie bekam, war für sie so entlastend, sie verlor sich in Träumereien, musste an nichts mehr denken, nichts mehr machen. Die Zustände nach den Drogeninjektionen versetzten sie in ein anderes Leben, sie hatte keine Schmerzen, keine Verantwortung, keine Verpflichtungen, sie beschrieb es so: „Schlapp und fern und selig sah ich zu, wie er Kaffee trank und Helle ihren Haferbrei zubereitete. Dann verabschiedete ich ihn ebenso dösig und glücklich, doch tief in meinem vernebelten Gehirn nagte eine leise Angst“. Sie wurde vollständig drogenabhängig und landete irgendwann in der Psychiatrie, im Krankenhaus. Dort eine Entwöhnungskur, die sie sehr ehrlich beschreibt. Das Buch endet positiv, sie trennt sich von dem Mann, findet einen neuen: „Ich war von meiner jahrelangen Abhängigkeit geheilt, aber noch heute erwacht die alte Sehnsucht manchmal ganz leise in mir, wenn ich mir Blut abnehmen lasse oder an der Apotheke vorbeigehe. Sie stirbt nie ganz, solange ich lebe“.

Im wirklichen Leben verlief das etwas anders, bereits neun Jahre nach Erscheinen der autobiografischen Romane starb sie an einer Überdosis an Schlaftabletten, doch schon zwei Jahre vorher hat sie einen Suizidversuch gemacht. Die Beziehung zu ihrem letzten, ihrem vierten Mann Victor Andreasen scheint die beste und glücklichste gewesen zu sein. Trotzdem war der Mangel an Geborgenheit und Sicherheit, die unendliche Einsamkeit seit der Kindheit stärker als ihr Erfolg, der Mangel führte zu Depressionen, zur Schlaflosigkeit, sie versuchte damit zu kämpfen, indem sie immer mehr Tabletten konsumierte, immer mehr Alkohol trank und letztlich Drogen nahm; geholfen hat ihr das alles nicht. In ihren Aufzeichnungen finden wir aufschlussreiche Sätze: „Mit niemanden kann man seine heimlichsten Gedanken teilen. Mit dem Wichtigsten auf der Welt ist man allein. Es ist eine ewige Bürde und eine leise Freude, dass dich niemand dort erreicht und du niemanden hereinlässt.“

Sie fand in den Kanon der Schullektüre in Dänemark, wird auch gelesen und von jungen Leuten besprochen. Inzwischen gilt sie als Wegbereiterin für viele Autorinnen und Autoren, so für Anni Ernaux, für viele englische, aber auch deutsche Schriftstellerinnen und ihr autofiktionales Schreiben. Inwieweit das Schreiben sie befreit hat, denn sie schrieb offen und direkt über ihr Leben; was die Ursache für ihren frühzeitigen Tod war, werden wir nicht erfahren.

Frauenblick auf Tár

Monika Wrzosek-Müller

Gedanken zum Film Tár

Eigentlich wollte ich über Cate Blanchett schreiben, die man letztens oft im Film sah, aber auch im deutschen Fernsehen. In einem Live-Interview der ARD saß sie der bekannten Moderatorin Sandra Maischberger auf dem Sessel gegenüber. Auch bei der Oskar-Verleihung fehlte sie nicht. Ich bewundere sie sehr, ihren Stil, ihre Anmut, Coolness und ihr professionell wirklich fantastisches Spiel – jetzt gerade wieder in dem langen Film Tár. Trotzdem gehen meine Gedanken nach dem Film in eine andere Richtung.

Immer öfter denke ich darüber nach, was für eine Welt wir uns aufgebaut haben, wie werden die Generationen nach uns leben müssen. Es geht mir sogar weniger um die Klimakatastrophe als um die Welt des Geldes, obwohl diese Welten erstaunlich eng zusammenhängen; es handelt sich eher um die Welt der Habgier, der horrenden Ungleichheit der Menschen in allen Lebensbereichen. Das haben wir alles selbst hervorgebracht, selbst gewollt, bei der Entwicklung zugesehen, sie zugelassen.

Warum komme ich gerade bei diesem Film (bei Tár) auf solche Gedanken? Eigentlich verbindet man die Kunst (im Film geht es um die Musik) nicht mit Ungleichheiten und Bevorteilung, sondern mit Talent, Hingabe, Fleiß und (etwas) Glück. Doch was mich beim Ansehen von Tár am meisten beeindruckt hat – neben dem hervorragenden Spiel von Blanchett – das war die Einsicht, wie abgehoben die Welt der Dirigenten und ihrer gottgleichen Stellung in der Welt der Musik ist; sie wird hier wie ein Epizentrum der Macht dargestellt. Wir erleben, wie eine relativ junge Frau als Chefdirigentin der Berliner Philharmonie berufen und damit mit Geld und Privilegien überhäuft wird. Sie fährt sofort einen grotesk großen Porsche, bekommt ein zweites Luxus-Appartement, wird eingekleidet von einem Herrenausstatter, bekommt maßgeschneiderte Hemden, einen Smoking; die Szenen bei dem „Maßschneider“ Egon Brandstetter in Berlin-Wedding sind sehr gelungen, er spielt sozusagen sich selbst. Vielleicht konnte er von diesen Szenen sogar als Werbung für sein Atelier profitieren. Lydia Tár, die Stardirigentin, fliegt im Privatjet nach New York, nur um am nächsten Tag bei der Orchesterprobe dabei sein zu können. Wohl ganz zu schweigen von der Gage, die sie monatlich bezieht. Was ihr dann zustößt, ist offenbar auch durch die Überhöhung ihrer Position sozusagen vorprogrammiert. Die Umstände formen die Menschen im Guten wie im Schlechten. Natürlich ist sie noch dazu so schön, so cool, aber lesbisch und zu scharf, und sie verlangt von anderen wahrscheinlich zu viel. Sie hat ihre ganz präzisen Vorstellungen von ihrer Interpretation der Partitur, ihre ganz eigene Sicht der Musik. Die Welt des Orchesters mit ihren Problemen existiert aber genauso, und sie ist für die Musik, die wir zu hören bekommen, vielleicht sogar noch wichtiger als die des Dirigenten.

Mich hat das immer wieder abgestoßen und verwundert: die Erzählungen über die Unverschämtheiten von Dirigenten wie Karajan, Barenboim oder anderen und wie alle das ausgehalten und still hingenommen haben. Wieviel Raum, wieviel Macht darf so ein Genie bekommen, vielleicht auch ausnutzen, davon handelt der Film. Von einem Bekannten, selbst Orchestermusiker, hörte ich aber auch, dass gut eingespielte Musiker die DirigentInnen wenig bis gar nicht brauchen, kann das denn stimmen? Im Film wird die Erinnerung an diese männlichen, patriarchalischen Dirigenten in den Szenen festgehalten, in denen das Vorspielen der KandidatInnen für einen Platz im Orchester hinter einem Vorhang stattfindet. So kamen damals auch die Frauen zu einer Einstellung, vielleicht auch Ausländer. In Tár wird die Bedeutung des Vorhangs heruntergespielt, gar verlacht, denn der Vorhang ist zu kurz und man sieht deutlich die Schuhe des Kandidaten; also doch durchschaubar, wer gerade vorspielt. Und siehe da: die junge, coole, exzellente Dirigentin macht sich das zunutze.

Jemand hat mir gesagt, das sei ein Film über Aufstieg und Fall von Stars in künstlerischen Berufen, über ihren Platz, ihre Privilegien und manchmal auch ihren Anteil an Macht; es könnte sich genauso um ArchitektInnen, MalerInnen oder gefeierte SchriftstellerInnen handeln. Doch ich denke, die Stellung eines Chefdirigenten ist schon etwas besonders. Er herrscht über andere KünstlerInnen, soll ein absolutes Gehör haben und, was wahrscheinlich noch wichtiger ist, ein Charisma, das ihm eben erlaubt über die anderen zu herrschen – um der Musik willen. Das ist hier wirklich die große Frage.

Erstaunlich unterschiedliche Meinungen hörte ich zu dem Film, aber zugleich immer und wirklich immer wieder die große Begeisterung für das Spiel von Cate Blanchett. Manche sahen sie als Inbegriff des Bösen, Überheblichen, andere als Opfer der komplizierten Welt der Musiker, der Musik, des Kampfs um Machtpositionen. Auf jeden Fall wird ihr Abstieg, ihr Fall richtig schockierend dargestellt; ihre Verbissenheit, fast Besessenheit, mit der sie sich in der Welt der Musik zu behaupten versucht, weckt aber auch Bewunderung. Andererseits, was sonst blieb ihr übrig? ihr Elternhaus existierte nicht mehr, sie stammte aus sehr bescheidenen Verhältnissen und arbeitete sich allein durch Disziplin und harte Arbeit hoch. Manche fanden gar, dass sie verrückt geworden sei und dass die letzten Szenen aus Asien sich vielleicht in ihren Träumen abgespielt hätten. Hinweise auf ihre übergroße Sensibilität für Geräusche finden sich in vielen Szenen, ebenso wie auf ihre übermäßige Nervosität.

Der Film zeigte deutlich, wie schwer es für eine Frau ist, in der ehemaligen Welt der Männer zu bestehen, sich zu positionieren und eine Stellung zu behaupten, daneben eine Beziehung zu pflegen, ein adoptiertes Kind als Mutter-Vaterfigur zu betreuen. Es wird schließlich erwartet, dass eine Frau sich anderer Mechanismen bedient, um an der Macht zu bleiben. So etwa lautete die Frage der deutschen Journalistin, doch darauf antwortete Blanchett sinngemäß: warum glaubt man, die Frau müsse mitfühlender, toleranter, besser, sanfter und anders agieren als der Mann? Sie wolle doch auch ihre Rolle, ihre Karriere, ihre Machtposition behaupten.

Auf jeden Fall finde ich den Film sehenswert, die kontroversen Meinungen, Sichtweisen darüber zeigen deutlich, dass er einen Nerv getroffen hat und uns auf vielen Ebenen berührt.

Frauenblick: Der achte März

Monika Wrzosek-Müller

Der Internationale Frauentag

Soweit ich mich erinnern kann, sehe ich meine Mutter, meine Tante und meine Oma mit Blumen an diesem Tag nach Hause kommen; nicht irgendwelche Blumen: eine rote Nelke, später gab es bei meiner Mutter auch mal eine Gerbera und meine Tante bekam eine Schachtel irgendwelcher zuckersüßer Pralinen. Sie haben alle im sozialistischen Polen gearbeitet und alle bekamen an diesem Tag Blumen, früher gab es noch manchmal ein paar Strümpfe, Handtücher, ein Päckchen Kaffee oder so, oder einen Gutschein für irgendetwas besonders Erstrebenswertes. Meine Oma, die im polnischen Film als Buchhalterin arbeitete, bekam auch Freikarten für Filmvorführungen. Die sie dann meistens an die Verkäuferinnen in den Delikatessläden weiterreichte, um an besondere Artikel (Schokolade, Kaffee, gutes Fleisch) zu kommen. So war der Tag für mich schon als Kind immer positiv besetzt, abgesehen davon, dass meine Mutter manchmal über die blöden, nicht enden wollenden Feiern in ihrer Arbeitsstelle (dem Verteidigungsministerium) schimpfte. Es war zwar von oben verordnet und inszeniert, diente aber doch einer guten Sache; die Frauen arbeiteten nun genauso fleißig wie die Männer, oft noch mehr, da sie die Versorgung der ganzen Familie auf dem Kopf hatten.

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Frauenblick auf Fotografien

Monika Wrzosek-Müller

William Eggleston, Anastasia Samoylova, Karolina Wojtas

Am Samstag, dem 18. Februar 2023 hat es so stark geregnet, dass jegliche Beschäftigung im Freien unmöglich war. Also suchte ich nach einer geeigneten Alternative – und fand eine interessant klingende Ausstellung im C/O Berlin. Ehrlich gesagt hatte ich gar nicht damit gerechnet, auf eine so fantastische Sammlung fotografischer Arbeiten zu stoßen. Präsentiert werden drei Fotografen aus unterschiedlichen Ländern, unterschiedlichen Alters und aus verschiedenen Zeiten: William Eggleston „Mystery oft the Ordinary“, Anastasia Samoylova „Floridas“ und Karolina Wojtas „C/O Berlin Talent Award 2022“.

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Frauenblick auf Inisherin

Monika Wrzosek-Müller

Der Film Banshees of Inisherin

Lange war ich nicht im Kino gewesen, in Berlin eigentlich zuletzt vor der Pandemie, also vor drei Jahren. Der Genuss, etwas auf der großen Leinwand zu sehen, ist schon beeindruckend, besonders bei einem Film, der visuell so fesselt. Der Film, aufgehängt zwischen einem weiten, dramatischen Himmel und der sehr schweren, von Steinmauern durchzogenen Erde, den wunderschönen grünen Wiesen, ist für mich ein Meisterstück. Die Pracht der Bilder strengt fast an, macht beinahe abhängig, alles wirkt wie ein Märchen, der Betrachter ist leicht benebelt. Zwar wissen wir, dass drüben auf der großen Insel ein Kampf im Gange ist, in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts, genauer es handelt sich um den irischen Bürgerkrieg von 1922-1923, doch auf der kleinen Insel wird darüber wenig gesprochen, man ist kaum davon betroffen. Für das alltägliche Leben bleibt jämmerlich wenig Platz, Einsamkeit, Not und Armut sind erdrückend. Die Chance auf eine gute, interessante Neuigkeit dagegen gering; es passiert einfach zu wenig, nur der Himmel wechselt ständig sein Kleid. Die Menschen tragen immer dieselben alten, eher lumpigen Klamotten – außer der Schwester eines der beiden Haupthelden; sie ist überhaupt die kluge und schöne Prinzessin des Films.

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Frauenblick: Zinkjungen

Monika Wrzosek-Müller

Von schwarzen Tulpen und Zinksärgen

Wahrscheinlich war die Wahl des Stoffes für die jüngste Arbeit von Elżbieta Bednarska, einer polnischen Regisseurin und Theatermacherin, nicht durch die Ereignisse des Angriffskrieges auf die Ukraine bestimmt. Wahrscheinlich hat die Regisseurin schon vorher die Vorlage gewählt, nämlich das Buch von Swetlana Alexejewitsch, Zinkjungen Afghanistan und die Folgen. Doch Krieg bleibt Krieg, seine Zustände, Begleitumstände und Folgen sind ähnlich und so erleben wir ein einzigartiges Spektakel, für 90 eiskalte Minuten tauchen wir in die Absurdität des Krieges und seiner Grausamkeiten ein. Die Kälte der wunderschönen, doch nicht beheizten riesigen Vierung der Parochialkirche erinnert uns umso eindringlicher an das, was die Menschen in der Ukraine jetzt erleben: Kälte, Dunkelheit, Unsicherheit, Krieg, Detonationen, Sterben… Schrecken.

Der Reihe nach; am 19. 01. 2023 fand in der Parochialkirche in Berlin-Mitte die Premiere des Stücks Zinkjungen – Von schwarzen Tulpen und Zinksärgen statt. Das Konzept, die Auswahl der Texte und die Regie hat Elżbieta Bednarska besorgt, eine polnischstämmige Regisseurin. In Zinksärgen wurden die sterblichen Überreste der jungen russischen Soldaten, die im Afghanistankrieg gestorben waren, nach Hause gebracht; die Särge waren verschlossen, damit die Eltern nicht den entstellten Zustand der Leichen sehen konnten; sie wurden von den Schwarzen Tulpen, den Flugzeugen, „nach Hause“ gebracht, in die auseinanderfallende Sowjetunion, in der die Parolen des Kommunismus nichts mehr galten. Ihr Unglück war ein doppeltes: sie kehrten nicht als Helden zurück, der Krieg wurde nicht als großer Vaterländischer gefeiert, sondern sie wurden nur zu Opfern der Lüge und der Fehler gemacht. Den Eltern wurde eine Entschädigung in den damals gerade inflationären Rubel ausbezahlt, die auch bald nichts mehr Wert waren.

Zwar schreibt Alexejewitsch: „Es geht nicht darum, möglichst viel Schreckliches zu erzählen, das ist keine Literatur. Wichtig ist eine neue Perspektive“; doch ihre dokumentarische Erzählung, so nah am Kriegsgeschehen, bietet ein Bild des schrecklich sinnlosen Krieges, der für nichts und wieder nichts geführt wurde – dessen Opfer, die zu Tausenden gefallenen Soldaten, dann sehr schnell vergessen werden sollten. Ihre Stimme ist dreifach mächtig. Sie ist selbst dahin, also nach Afghanistan, gereist und hat darüber Tagebuch geführt; sie hat mit verschiedenen Soldaten gesprochen, nach der Rückkehr dann aber auch mit den Eltern, hauptsächlich Müttern. Es wurde sogar ein Gerichtsverfahren gegen ihre vorgeblich lügnerischen Berichte angestrengt; in einigen Anklagepunkten wurde sie schuldig gesprochen und sie musste für die Gerichtskosten aufkommen. Es entspann sich danach eine längere Diskussion darüber, was es denn eine „dokumentarische Erzählung“ im literarischen Sinn bedeutet, welchen Zwängen, Pflichten unterliege sie, aber auch welche Freiheiten bringt das Genre mit sich. Es gibt nämlich den Raum der Erkenntnis, dass jeder Angriffskrieg sich früher oder später als eine Lüge, als ein Unglück für die betroffen Menschen auf beiden Seiten entpuppt.

Die große stärke aller Inszenierungen von Bednarska sind die Orte, an denen sie stattfinden; immer ausgefallen, ungewöhnlich, bildstark, unterstreichen das Thema und verstärken den visuellen Charakter des Spektakels. Mir fielen im Vorraum der Kirche sofort der Totenschädel und das Skelett auf. Die Größe und die Pracht des leeren Raumes, der kreuzartig angelegt ist, mit einer riesigen Kuppel darüber, mit ganz schlichten freiliegenden Backsteinwänden eignet sich hier wunderbar. Bei der Kirche handelt es sich um den ältesten in Berlin reformierten Gemeindebau. Auf jeden Fall spielt der Raum mit und ist Teil der Aufführung. Auch die von Aljosa Dakic gestaltete Beleuchtung mit den Fresken, die auf das Gewölbe oben durch Handbewegungen immer neu projiziert werden – sich zwischen Helligkeit und Dunkelheit ständig verschiebende Sandmengen – spielen mit. Der Zuschauer muss sich immer wieder neu orientieren und konzentriert auf das Geschehen auf der riesigen Bühne reagieren. Diesmal wurden wir eigentlich auch sitzengelassen (was angesichts der Kälte fast eine „Zumutung“ war), wir konnten uns nur umdrehen und aufstehen, normalerweise (in anderen Aufführungen von Bednarska) wurden wir auf die Reise des Geschehens wortwörtlich mitgenommen. Die wunderbar gesungenen russischen, sowjetischen Lieder runden das Geschehen ab.

Mir ist besonders die junge Schauspielerin (Florentine Schara) auf den Rollschuhen aufgefallen, die mit Tempo und Bravour mit einer riesigen roten Fahne durch den Raum rast, zu pathetischer Musik; dieses Bild gibt dem ganzen Stück zusätzliche Dynamik, überzeugt auch mit symbolischer Kraft. Dem entgegengesetzt sind die fast in Zeitlupentempo vorgeführten Bewegungen der Soldaten auf der Bank; gelungenes Spiel mit den Gegensätzen.

Mir fehlten eindeutig die Särge, ich hätte sie in den Raum gestellt, sie sind so aussagekräftig. Die Schwarzen Tulpen haben wir richtig sehen können und ihre Landung beobachten. Die Texte von Swetlana Alexejewitsch sind für etliche Kriege repräsentativ; es reicht, das Wort Sowjetunion in Russland zu ändern – und dann passt der Text auch zu dem anderen, aktuell geführten Krieg. Diese Wahrheit über die Lügen des Krieges transportiert die Aufführung ganz klar und eindeutig.

Frauenblick: Bernardine Evaristo kontra Annie Ernaux

Monika Wrzosek-Müller

Jeder kämpft um seinen Platz in der Welt; selbst die bloße Existenz beweist das. Doch in der modernen, kapitalistischen Welt ist dieser Kampf zum Sinn des Lebens geworden. Manche haben mehr Kraft, Wut, Charisma, Talent, so dass sie sich an die Spitze durchkämpfen und sich da oben dann etablieren. Das Recht des Individuums auf Eigentum, auf seinen individuellen Weg ist festgeschrieben und das wird als Erfolg gefeiert. So wundert es niemanden, dass dieser Kampf und die Karriere wichtiger werden als das Leben mit den Mitmenschen, als die Moral – umso weniger, als die Kirchen immer weniger Zulauf haben und kaum jemand sich noch als gläubig bekennt und nach religiösen Geboten lebt.

Zunehmend kämpfen auch verschiedene Teilgruppen um ihre Rechte, wahrscheinlich zurecht. Nur, müssten wir nicht immer im Kopf behalten, dass mehr Platz für mich weniger Platz für andere bedeutet – was in den laufenden Auseinandersetzungen gar nicht beachtet wird.

Für mich interessant wird es, wenn solche Kämpfe in der Literatur ausgetragen werden, wenn die Literatur gar zur Waffe des Kampfs wird.

Der erste Satz in Annie Ernauxs Rede bei der Verleihung des Nobelpreises an sie klag nach erbittertem Kampf:

j`ai écrit pour venger ma race“ – „Ich habe geschrieben, um meine Rasse zu rächen“. Was meinte sie denn damit, sie, die weiße Tochter einer weißen christlichen Mittelklassefamilie in Frankreich. Es geht nicht um ethnische Herkunft auch wenig um das Geschlecht. Viel mehr meint sie ihre „Benachteiligung“ als eine, die nicht in die Elite der herrschenden und reichen hineingeboren wurde. Und letztendlich geht es um ihren persönlichen, eigenen Kampf um den persönlichen Aufstieg. So wie ich die Bücher unserer diesjährigen Nobelpreisträgerin verstanden habe (gelesen habe ich: „Die Jahre“, „Der Platz“, „Eine Frau“), hat sie tatsächlich für sich, für ihren Platz in der Welt, in der Literaturgeschichte geschrieben. Immer wieder über sich selbst, über ihre Eltern, ihre Mutter, ihren Vater berichtet – sachlich, wenig emotional, ausführlich, auch interessant, aber nur ihre Welt fand Eingang in die Beschreibung. Auch in der gut halbstündigen Rede drehte sich alles um ihr Schreiben, ihren Weg, ihre Suche nach der geeigneten Sprache, erst ganz zum Schluss kamen allgemeinere Aussagen über die Welt um sie herum. Mich macht immer wieder diese selbstbezogene Perspektive stutzig, die Welt ausschließlich durch die eigenen Augen, aber auch durch das Prisma der eigenen Interessen zu sehen, was bei manchen Autoren fast an Narzissmus grenzt; so bei Emmanuel Carrère in seinem Buch „Yoga“, bei dem ich völlig entsetzt war, da er gerade diesen Narzissmus als den yogischen Weg kennzeichnet, wo doch das Zügeln des eigenen Ego das Hauptziel des Yogaweges sein sollte. Ist das nicht ein bisschen dürftig für große Literatur, das ständige Kreisen um sich selbst…

Ein Gegenbeispiel bot mir das Buch von Bernardine Evaristo „Mädchen, Frau, etc.“. Auf 550 Seiten beschreibt sie Schicksale und Lebenswege von 12 britischen Frauen, die alle zu den „people of colour“ gehören. Ihre Lebensläufe sind miteinander verflochten und daraus resultiert für mich die Erkenntnis der Schriftstellerin: wir sind miteinander verbunden, wir leben nicht jeder für uns allein. Die geschilderten Umstände und Ereignisse werden auch durch autobiografische Tatsachen unterbaut und unterstützt. Wenn man sich die Interviews mit der Schriftstellerin anhört, erfährt man, wie viel Parallelen es zu ihrem eigenen Leben gibt; das macht das Buch so authentisch und kraftvoll.

Es ist durchaus ein feministisches Buch, es streitet für die Rechte der „coloured“ Frauen in England. Auch wenn Sätze fallen wie: „Feminismus ist doch voll Herdennummer, hat Yazz [die Tochter der Hauptheldin] ihr erklärt, ganz ehrlich, heute ist es sogar schon durch, noch eine Frau zu sein, neulich hat bei uns an der Uni diese nicht-binäre Aktivistenperson gesprochen, M M das war der mega Eye-Opener für mich, ich denke, in Zukunft sind wir irgendwann alle nicht-binär, weder männlich noch weiblich, was ja alles sowieso nur Genderperformance ist, und das heißt dann auch, Mumsy, dass deine Frauenpolitik überflüssig wird, abgesehen davon bin ich Humanistin, das spielt sich auf einer viel höheren Ebene ab als Feminismus
Hast du davon gehört?“

Das Buch dokumentiert fast auf ethnologische Art und Weise das Leben dieser 12 Frauen, in Gesprächen, Monologen stellen sich die Frauen vor. Sie stammen aus allen Teilen der Welt; das Einzige, was sie verbindet, ist ihre dunklere Hautfarbe und, daraus folgend, ihre komplizierten Schicksale, die irgendwie zusammenhängen. Die Schriftstellerin selbst wurde in London geboren, ihr Vater stammt aus Nigeria, die Mutter war englische Grundschullehrerin, sie studierte und war am Theater tätig, inzwischen lehrt sie kreatives Schreiben an der Londoner Universität. Über die Hauptheldin, die eindeutig die Züge der Autorin trägt: „sie widmete sich ganz der Mission, sich in schwarzer Geschichte, Kultur, Politik und Feminismus weiterzubilden, entdeckte die alternativen Buchläden von London…und stöberte dort stundenlang: Geld, um sich etwas zu kaufen hatte sie nicht, las aber Home girls: A Black Feminist Anthology von vorn bis hinten durch, im Stehen und in wöchentlichen Tranchen…
Die Buchhändlerinnen schien das nicht zu stören
Als ich schließlich an einer sehr konventionellen Schauspielschule genommen wurde, da war ich lange politisiert und stellte dort alles in Frage
Als einzige Nichtweiße der Schule…“

Das Buch liefert uns aber auch ein Panorama der Zeit; da die Frauen verschiedensten gesellschaftlichen Schichten angehören, aus unterschiedlichen Familien stammen, verschiedene Berufe ausüben, erfährt man, wie sich die Beziehungen mit der Zeit verändern, wie die Probleme sich vertiefen oder auch lösen. Es ist ein Roman, der etwas sehr Warmes, Menschliches an sich hat, er erinnert uns daran, was uns zusammenhält, was wichtig für das menschliche Zusammenleben ist. Mit Humor, wirklich oft witzig und augenzwinkernd, auf keinen Fall moralisierend, schlägt auch vor, die DNA zu untersuchen, um die eigenen Identitätsprobleme zu lösen:

„als das Testpaket eintraf, gab Penelope den Anweisungen gemäß eine Speichelprobe in das Teströhrchen, schickte es mit der Post zurück…
Jüdisch, das ging noch, aber nie im Leben hätte sie damit gerechnet, Afrika in ihrer DNA zu sehen, das war der größte Schock überhaupt, der Test hielt überhaupt keine Antworten bereit, er stellte sie vor lauter neue Fragen“

Überhaupt ist das Buch so undogmatisch und ohne jegliche Ansprüche, einer Ideologie folgen zu müssen, es zeigt die ganze Ambivalenz des Lebens in der modernen Welt.

Ich kann mir den Text sehr gut als ein Bühnenstück, vorstellen; vielleicht auf einige Episoden reduziert, aber mit dieser Wucht der Authentizität und des Gelebten, direkt vorgetragen, ohne sich in die Schablonen der gerade modernen Begriffe zwingen zu lassen.

„Dr. Roland Quartey, landesweit erster Professor für Modernes Leben an der University of London
Echt jetzt? Für das ganze moderne Leben, Dad? …‘
ist das nicht, na ja, ein bisschen sehr hoch gegriffen? Musst du dafür nicht eigentlich Experte für alles sein, in einer Welt mit über sieben Milliarden Menschen und, was weiß ich, zweihundert Ländern und mehreren Sprachen und Kulturen
ist das nicht mehr so Gottes Zuständigkeitsbereich? Sag bloß, du bist neuerdings Gott, Dad? Also, so ganz offiziell? …“

So und ähnlich laufen die Gespräche, es gibt aber auch einige episch erzählte Lebensläufe, die unkonventionell und einzigartig sind. Der Roman ist wirklich wert gelesen zu werden.