Brygida Helbig
Eine Erinnerung an die Fußballweltmeisterschaft von 2006
Sie werden doch sowieso verlieren. Und ich werde wohl den deutschen Kommentar dazu nicht ertragen. Dachte ich mir und wollte dieses Spiel eigentlich gar nicht sehen. Doch irgendetwas zog mich magisch zum Bildschirm, mich, die ich doch nie Fußball gucke, die ich kaum einen Namen eines Fußballers kenne, keine einzige Spielregel, außer der, dass man Tore schießen soll. Polen gegen Deutschland, dass musste ich doch miterleben, trotz aller Ängste und Bedenken. Das sind doch zwei Länder, mit denen mich ein starkes Band verbindet, manchmal denke ich, ein gleich starkes – lebe ich doch schon um einige Jahre länger in Deutschland als ich in Polen gelebt habe, fließt doch in meinen Adern teilweise deutsches Blut… Also kaufte ich Nachos mit zweierlei Dippsoßen, holte mir eine Flasche Kristallweizen und kein Glas dazu, knallte mich aufs Sofa und ließ mir die Fernbedienung von meiner Tochter erklären. Irgendwie möchte man doch nicht ganz abseits stehen, möchte man etwas von dieser Karnevalsstimmung und Ausgelassenheit haben, einmal mitten im Leben stehen, mitreden, mitsingen, mit ausflippen. Noch gar nicht 21 Uhr und schon geht es los, dabei musste ich schnell noch auf Toilette. Zu lange an der Fernbedienung rumgefummelt, beinahe zu spät angefangen. Sie singen schon die Nationalhymne, fast hätte ich das Wichtigste verpasst – wie sich mein Herz bei der polnischen Hymne weitet, wie es bei der Melodie der deutschen Hymne zusammenzuckt, ähnlich wie beim Wörtchen „Halt“, das bei mir, obwohl ich lange nach dem Krieg geboren bin, eine Krise hervorruft.
„Und schon ist Polen verloren“, hieß es nach dem unglückseligen Spiel Polens gegen Ecuador vor einigen Tagen in der Zeitung. Was für eine Schadenfreude. Was für ein Pech, dass sich der erste Satz der polnischen Nationalhymne, „noch ist Polen nicht verloren“, im Deutschen so schön reimt und damit so blöd klingt und für Späße sorgt. Warum weiß keiner, worum es sich bei dem Lied eigentlich handelt, und dass auch Preußen bei diesem drohenden Verloren-Sein eine weiß Gott nicht nebensächliche Rolle spielte?
Und dann ging das Spiel los. Wenn ich die polnischen Jungs sehe, geht mir das schon zu Herzen. Smolarek, Krzynówek und wie sie alle heißen. Manche spielen in deutschen Clubs und mussten gegen ihre Kumpels kämpfen. Sie sind nicht unbedingt schön, aber allesamt gute, liebe Jungs, das spüre ich, wohlwissend, dass ich idealisiere, dass sie in der Freizeit bestimmt ihre Frauen verprügeln und alles Mögliche entwenden. Und doch erscheinen sie mir sanfter, feinfühliger und vertrauter als die Deutschen. Vielleicht sind sie etwas zierlicher, vielleicht sind ihre Frisuren nicht ganz so auf der Höhe, aber gerade das macht sie in meinen Augen liebenswert. „Trotz des besseren Wissens“ weigerte sich der Kommentator, ihre Namen mit der richtigen, für das Polnische typischen Betonung auf der vorletzten Silbe auszusprechen. Und ich habe ihm sofort verziehen, obwohl man so etwas mit französischen Namen niemals anstellen würde.
Die Post ging ab, und ich wurde mächtig stolz auf unsere Jungs. Ich schrie bei jedem Beinahe-Tor vor Angst oder Euphorie und wurde ungehalten wie Angela Merkel, nur unter umgekehrtem Vorzeichen. Ich bewunderte den geschickten polnischen Torwart. Ich spekulierte darauf, dass der spanische Schiedsrichter mehr Sympathie den Polen entgegenbringen würde. Viel Aufmerksamkeit schenke ich nicht nur Elch (Łoś) und Hummel (Bąk) – sondern auch zwei Spielern aus der deutschen Mannschaft, Klose und Podolski, aus Gründen, die man sich denken kann. Auch wenn es mich ein wenig störte, wie Podolski beim Grinsen etwas schräg die Zähne zeigte – ich fand die beiden Jungs einfach klasse, und es fiel mir auf, dass vor allem sie für deutsche Torchancen sorgten. Fast hatten sie mit ihrem Charme mein Herz für die deutsche Mannschaft höher schlagen lassen. Ich fand es rührend, wie sich Klose (der doch so polnisch aussieht) und zwei polnische Fußballspieler herzlichst auf die Schulter klopften. Irgendwie sind die nationalen Kriterien bei diesen Spielen in ein erfrischendes Durcheinander geraten. Die Presse berichtete, Klose und Podolski würden manchmal untereinander Polnisch sprechen. Und sie hätten beide polnische Frauen, weil diese aus irgendwelchen Gründen besser für diese Rolle geeignet sein sollen. Was ja unter deutschen Männern eine weit verbreitete Illusion zu sein scheint.
Hin und wieder schaute ich mir die beiden Trainer an. Der polnische saß verkrampft da, guckte finster, seine Lippen und Hände zuckten. Der deutsche fuchtelte mit den Armen, sah viel sportlicher, attraktiver, eleganter aus – Mensch, so eine gute Figur, so dynamisch und emotional! Ich dachte, er wäre dreißig, meine Tochter aber äußerte den Verdacht, er könnte genauso gut fünfzig sein, Deutsche wären eben auch in hohem Alter noch so fit und blond. Nun gut, zugegeben, er sah ganz passabel und sympathisch aus, doch die düstere Nervosität des Polen ging mir auch nahe.
In der Pause tätigte ich einen Anruf: „Für wen bist du?“ fing ich streng an. „Für die Deutschen“, gab Ralf schuldbewusst zu, „aber die Polen sind doch auch toll, Mäuschen.“ „Mensch, wie kannst du denn für die Deutschen sein?“ – fragte ich verzweifelt und spürte, wie plötzlich ein Graben zwischen uns aufgerissen wurde. „Das ist doch ein entscheidender Unterschied zwischen uns!“, stellte ich mit Entsetzen fest. „Ich hätte nie gedacht, dass du nach zehn Jahren, die du mit mir auf Deine ostdeutsche Art verbracht hast, für Deutschland sein würdest“, fügte ich wütend-resigniert hinzu und knallte mit dem Hörer. Mir selbst war allerdings noch bis vor einer Stunde gar nicht bewusst, wie sehr ich mich mit dem Land identifiziere, in dem ich groß geworden bin, auch wenn ich mich dort heute fremder fühle als hier…
Tja, so gespannt und lebendig wie bei diesem Spiel war ich schon lange nicht mehr. Vielleicht 1974, als die Polen den historischen dritten Platz gewonnen haben, mit Trainer Górski, der Legende meiner Kindheit. Eine dunkle Erinnerung steigt in mir auf – LATO? TOMASZEWSKI? Oder als sie bei der Moskau-Olympiade ihr Bestes gaben, da war ich noch ein junges Mädel, und ich kann mich an einen Namen und einen netten Mann dazu erinnern – BONIEK! Doch diesmal sollten die Polen mal wieder verlieren. „Die Polen haben immer Pech“, singt die polnische Band „Big-Cyc“, „niemals haben wir eine Weltmeisterschaft, niemals die Eurovision gewonnen“… Böses ahnte ich bereits, als der deutsche Trainer Stirn an Stirn mit einem schwarzen Spieler im Blickfeld erschien und diesen mit beschwörenden Worten in den Kampf schickte, die sich ungefähr so angehört haben müssen: „Odonkor, du bist die letzte Rettung der Nation!“
Und das war er offensichtlich auch – Mensch, wie kann man nur so schnell sein? Da kann kein Pole doch mithalten, vor allem sind sie jetzt nur noch zu zehnt… Und es kam, wie es kommen musste. Tränen und Zähneknirschen – musste das Tor gerade in den letzten Minuten fallen? Und auch nicht mal von Klose oder Podolski…? Wo man sich schon an den Gedanken an einen Gleichstand, der einen Sieg bedeuten würde, gewöhnte? Wo man sich schon gefreut hat, dass Deutsche in ihrem leichten Größenwahn gebremst werden? „Na endlich“, seufzte Ralf erleichtert am anderen Ende der Stadt. „Nein, nein, nein!“ – schrie ich zur gleichen Zeit an meinem Ende. Draußen knallte es schon. Dann wurde ich ruhig wie Kaczyński als ihm Angela nach dem Spiel die Hand reichte und ihren Arm mit einer Freundschafts-Überlegenheits-Geste jovial um seinen Arm legte. Podolski tröstete den tapferen polnischen Torwart. Der deutsche Trainer strahlte wie der liebe Gott. Den polnischen haben sie gar nicht mehr gezeigt.
Das Telefon klingelte: „Mäuschen, es tut mir leid.“ „Ich will dich nie wieder sehen…“- zischte ich erbost.
Autorin (links) nach dem Lesen ihres Fußball-Texts bei dem Projekt Female Kick 2012 während der Europa Fußballmeisterschaft (Berlin, ehemaliges Amerika Haus); im Hintergrund Ausstellung über schlesische Fußballer in den deutschen Mannschaften