Auf den Spuren der Dichter

Edda Frerker

Drei Wochen in Masuren

bocianIch habe es geahnt. Keiner glaubt mir, wenn ich berichte, dass in jedem Dorf Masurens mindesten 30 Storchennester zu finden sind. Besetzt von je einem Storchenpaar. Der Himmel würde verdunkelt sein, wenn all die Störche auf einmal zum Flug abhebten. Sie brüten. Allenfalls zu einem Stelldichein mit einem Fuchs lassen sie sich überreden. Ich schreibe die Wahrheit: links der Straße auf einem Feld ein Storch – 20 m daneben ein Fuchs – und rechts der Straße eine Vogelscheuche. Ein Storch ist durch nichts zu erschüttern. Daher bringt er ja auch die Babys. Jedenfalls in Deutschland. Wie es in Polen ist, weiß ich nicht. Vielleicht aber ist es in Masuren so. Aus alter Gewohnheit.

Es war eine wunderbare Reise durch Masuren. Drei Wochen voller Anstrengung, Überraschungen, Begegnungen, neuen Einsichten. Ohne Ewa hätte ich das alles nicht erleben können. Sie war diejenige, die mich durch das chaotische Labyrint der polnischen Sprache geführt hat und die mit unermüdlicher Neugier Menschen für sich eingenommen und für uns zu Lotsen gemacht hat durch Dörfer, Städte, Museen, Friedhöfe und Wälder. Ich bin ihr unendlich dankbar.
RIMG0076Denn welch` ein Glück. Da schäumende Grün der Wälder. Auch wenn der Himmel schwer mit Wolken verhangen ist. Und wenn die Sonne scheint, dann singt die Erde. Dann glühen die Farben des Mohn. Dann steigen Schwäne aus dem See wie Pfönix aus der Asche. Wobei ich zugeben muss, dass ich noch keinen Vogel Phönix gesehen habe. Aber so kann es gewesen sein: Die Flügel riesig weit ausgestreckt, den Hals unendlich lang hochgereckt und die Füße den Bruchteil einer Sekunde über dem Wasser schwebend.

Nun bietet Masuren keine lieblichen Landschaften. Aber die tiefe Schwermut, die einen hinabzieht beim Lesen der Bücher Ernst Wiecherts, in denen er seine Heimat immer wieder beschreibt, habe ich nicht gefunden. Es ist wohl der besondere Blick eines Menschen wie Ernst Wiechert, dessen Leben schwer gezeichnet war durch den Selbstmord von Mutter und Ehefrau und den Tod des einzigen Kindes nur einen Tag nach seiner Geburt.

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Links: Erinnerungsstücke an Ernst Wiechert in Forsthaus Piersławek (Kleinort), rechts: Erinnerungsstücke an Konstanty Ildefons Gałczyński in Forsthaus Pranie.

Auf den Spuren der Dichter Ernst Wiechert und Gałczyński habe ich Gräber gefunden und lebendige Menschen. Einen Pfarrer der Evangelischen-Augsburgischen Kirche in Mrągowo, der im Gottesdienst eine Predigt hielt wie ein gesungenes Gedicht – natürlich auf Polnisch. Ich habe nur sehr wenig verstanden, aber wieder einmal bestätigt bekommen: Polnisch ist eine wunderbar klingende Sprache.
Eine pensionierte Ethnologin, Barbara, die mit unendlicher Hingabe das Eisenbahnmuseum in Angerburg (Węgorzewo) betreut und die uns den Weg wies ins weite Land Richtung russische Grenze auf halber Strecke nach Goldap, wo die Straßen schlechter, die Dörfer kleiner und ärmer werden, der Himmel aber gleichbleibend großartig ist. Dort fanden wir die Republika Ściborska des Dariusz Morsztyn. Ein Sammler und Kenner der indianischen Alltags- und Volkskunst. Und der Eskimos. Ein Besessener von der Idee des einfachen Lebens. Ein Kämpfer für Gerechtigkeit und Frieden. Old Shatterhand und Winnetou in einer Person. Leider habe ich nicht daran gedacht, ihn zu fragen, ob er die berühmten Winnetou-Bücher von Karl May gelesen hat. Ein Mann der Grundsätze: kein Alkohol, kein Nikotin, kein Fluchen, kein Fleisch, keine negativen Worte.
Dariusz Morsztyn sammelt alles, was er über und von Maria Rodziewiczówna ergattern kann. Bruchstücke der Orte, wo sie gelebt hat. Bruchstücke der Gegenstände, die sie einmal berührt hat. Er wird ein Museum für die Schriftstellerin gründen. Soweit ich dies mitbekommen habe, ist sie wohl die Courts-Mahler der polnischen Literatur. Aber da gebe es einen Roman, sagt man mir, der sei mehr. Sommerwaldmenschen ( Lato leśnych ludzi). Es ist die Geschichte vom einfachen Leben, die fasziniert und den herausfordert, der die zerstörerische Lebensweise der modernen Welt nicht mehr erträgt.
Der Dichter Ernst Wiechert, in Kleinort (heute Piersławek) im tiefsten Masuren geboren, hat sich damit auseinandergesetzt in seinem Roman „Das einfache Leben“. Auf seinen Spuren waren wir fast drei Wochen unterwegs. Wir haben Menschen gefunden, die das Andenken an ihn bewahren in kleinen Museen. In Deutschland ist er schon fast vergessen, obwohl er uns viel zu sagen hat. In Polen ist er geachtet. Das tut gut. Das Walddorf Sowiróg, in dem Teile seines großen Romans „Die Jeromin-Kinder“ angesiedelt sind, gab es wirklich einmal. Seine letzten Bewohner haben es nach 1945 in Richtung Deutschland verlassen. Die Spuren des Dorfes haben wir gesucht und nach mehrstündiger Wanderung durch einen grandiosen Wald gefunden. In der Nähe von Jaśkowo. Brennesseln habe die wüste Stätte gekennzeichnet. Daneben ein Friedhof, der von deutschen, polnischen und russischen Jugendliche vor einigen Jahren wieder hergerichtet nun doch seinem Vergehen anheimgefallen ist. Die Natur wird ihn gnadenlos überwuchern. So wie es vielen Dörfern in Europa ergeht.

martwanaturawhoteluEs muss noch über Essen geschrieben werden. Gibt es die polnische Küche? Wohl doch. Die deutsche? Vielleicht eher nicht mehr – wenn man die schlechten Gewohnheiten berücksichtigt. Wie auch immer. Ich habe in Polen vorzüglich gegessen. Wie man vielleicht hochgestochen sagen würde: klare Texturen. Oh diese Pieroggi – süß oder salzig gefüllt! Die wunderbaren Kartoffeln. Die so kernig schmecken. Und der Fisch, frisch aus dem See. Nicht in Becken gemästet oder gezüchtet. Aus der tiefen Flut der Seen. Er schmeckte herrlich: der Hecht , der Barsch, der Zander, die Maräne. Allein um diesen Geschmack wieder zu erleben lohnt sich die Reise nach Masuren. Denn wie lange noch wird man diese Geschmackserlebnisse haben können? Der europäische Markt ist unaufhaltsam auf dem Marsch in die Gleichmacherei. Der die Voraussetzung dafür ist, dass die Erträge sich erhöhen. Immer „besser“, immer schneller, immer billiger. So wird es auch in Masuren werden.

kwiatymydwieVielleicht aber gibt es doch eine Hoffnung. Wenn wir uns der Dichter erinnern, die in diesem wunderbaren Land gelebt haben, und sei es auch nur in ihren Träumen.
An Ernst Wiechert, der sich sein Leben lang nach Masuren zurückgesehnt hat. Den die deutsche Verbrecherbande ins Konzentrationslager Buchenwald einkerkerte. Und der vor der bösartigen Dummheit und Beschränktheit der Deutschen nach dem Ende des 2. Weltkriegs in die Schweiz emigrierte, wo er nur 63-jährig an Krebs starb – oder vielleicht auch an gebrochenem Herzen
An Konstanty Ildefons Gałczyński, dessen Zufluchtsort vor dem Chaos des Großstadt und den Erinnerungen des 2. Weltkrieg – er war Kriegsgefangener u.a. im Stalag 11a in Altengrabow – in den masurischen Wäldern in Pranie ich mit Ewa besucht habe. Nur drei Jahre konnte er sich dort ausruhen. Auch er starb an gebrochenem Herzen, mit nur 48 Jahren. So will ich es nennen, wenn man nach einem dritten Herzinfarkt zusammenbricht.

 

Der Weg nach Sowiróg

Edda Frerker

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SOWIROG (5)Der Ort existiert nicht mehr, gibt das Internet Auskunft. 1939 hatte er 169 Einwohner.

Er existiert nur noch in der Dichtung von Ernst Wiechert: Sowirog – die Heimat der „Jerominkinder“. Spuren des verschwundene Dorfes haben wir gefunden anhand von Brennnesselgebüsch, Reste von Häusern waren nicht zu entdecken. Aber ein Friedhof. Er war 2009 im Rahmen des Projekts „Verschwundene Dörfer“ von Jugendlichen aus Polen, Deutschland und Russland „ausgegraben“ und wiederhergerichtet worden. Ein Schild vor dem Friedhof weist darauf hin. Man wünscht sich, dass dieser Hinweis auch schon auf den Fahrradwegeschildern steht,
die an verschiedenen Stellen
im Waldgebiet aufgestellt sind. SOWIROG (4) SOWIROG (3)

Ohne die freudliche Hilfe einer Waldwegeradfahrerin, die eine maßstabskleine Waldkarte zur Verfügung hatte und ohne die Auskunft einer Lehrerin einer Schule in Pisz, hätten wir den Friedhof nicht gefunden. Diese Frau half heute ihren Eltern beim Verkauf in dem kleinen Geschäft in Jaśkowo. Sie wusste von Sowiróg und von dem Friedhof.

In diesem Masuren findet sich immer ein Mensch, der uns weiterhilft. Wir fanden den Friedhof auf dem Weg, den uns die junge Frau bezeichnet hatte.

Vorher waren wir einen anderen Weg gegangen und kehrten um, obwohl wir ahnungslos schon ganz in der Nähe des Friedhofs waren.

Wir glauben, wir sind 10 km gewandert.

Egal – es war ein Weg voller Ruhe, nur das Rauschen des Waldes und das Geschwitzer der Vögel war zu hören. Ein Reh schaute uns neugierig nach und wir entdeckten eine schnurgerade gezogene Allee mehrerer Reihen herrlicher Birken.
SOWIROG SOWIROG (7)SOWIROG (6)birken