Rundgang

Diesen Text habe ich von meinem anderem Blog “geliehen” – er wurde am 24. Oktober 2012 veröffentlicht:

Tobias Roth

Rundgang

FILSER. Jetz wer i aba belzi. Was is denn fürkemma bei uns? Überhaupt’s is des mei Freind und bal mir dischkrier’n, geht des neamd durchaus gar nix o. […] Und um koa Minischteri bekümmer i mi durchaus gar nix.

Ludwig Thoma, Erster Klasse, Ende der fünften Szene

Es gibt keine Möglichkeit mehr, diese Fülle noch geradeaus zu berichten, mit einer Stimme, mit einem Handstreich. Es ist überhaupt gefährlich, von einer Erzählung auszugehen, wenn es beginnt zu sprechen. Die Zeit ist kein Tier wie andere auch. Es braucht überhaupt keine Größe und Bedeutsamkeit, sobald das Spiegelkabinett der Vergangenheit zu wachsen begonnen hat, und Amaltheia, die Nymphe, die das Horn der Fülle unter dem Arm trägt, hat ihren Schrein unter entlegenen Bäumen. Dann richte erst den Blick in die Städte. Die Anblicke stehen unverbunden nebeneinander und auch im Auge kommen sie nur langsam zusammen. Ich weiß nicht, ob ich es je so habe sprechen hören, aber so sehe ich es. Öliger Film auf allen Oberflächen, Zeit. Beginnen wir also mit

Anagnorisis und Peripetie.

„Herr Ministerialrat … des is ja der Herr Abgeordnete Filser.“ sagt der Zugführer zu Beginn der sechsten Szene in Ludwig Thomas Einakter Erster Klasse. Und damit bricht alles zusammen, alles kehrt sich um in dem Zugabteil aus Brettern, die die Welt bedeuten. Die emporgekommenen Herren aus dem Norden erkennen in dem bayerischen Bauern, der sie erst allein, dann mit seinem Kollegen durch lautstarke und derbe Scherze gequält hat, einen Abgeordneten, der sie allesamt steigen und sinken lassen kann. Die Hierarchie wird erst von Außen kenntlich gemacht. Mit einem Schlag und kurz vor Schluss wird allen Figuren ihr Ort zugewiesen, quer zum Habitus. An dieser Stelle des Stücks tritt noch ein weiterer markanter Ortswechsel ein. Der Einakter beginnt an einem namenlosen Bahnhof, zu dem offenbar keine Ortschaft gehört, er endet nach sechs Szenen am Münchner Ostbahnhof. Der preußische Teil der Reisegesellschaft hatte sich bereits laufend mokiert, der sogenannte Eilzug solle nicht so oft halten, vor allem nicht in Unterdingharting, Mitterdingharting, Oberdingharting und Hinterdingharting; in den Präfixen zeigt sich Thomas flimmernde Einstellung auf eine knappe Realität: es gibt unweit Münchens nur die Ortschaften Großdingharting und Kleindingharting (zudem: die Kirche von Großdingharting wurde von keinem geringerem als Jörg von Halspach erbaut, er auch für die Münchner Frauenkirche verantwortlich zeichnete). Erst die Haltestelle zwischen Hinterdingharting und Ostbahnhof fällt heraus. Es ist der Ort, an dem das Stück in die faktische Geographie eintritt, an dem sich zugleich herausstellt, dass der unverschämte Bauer ein Abgeordneter ist. Der Zugführer schreit zu Beginn des sechsten Szene die Haltestelle aus, Rekruten hinter der Bühne singen das entsprechende Lied: Trudering.

Es ist der wohl größte Auftritt, den Trudering bisher in der Literatur gehabt hat, als Ort einer Anagnorisis, einer alles umwerfenden Wiedererkennung, von bedeutendem Ausmaß. Es geht nicht darum, dass in Trudering Bauern zu Herrschern werden. Es geht darum, dass in Trudering die Verwechslung aufgedeckt wird. Dass hier eine Handlung umschwingt. Hier ist der geographische Punkt der Grauzone, in der für einen Moment alles in Schwimmen gerät, und dieses Flimmern auch angesprochen wird. Vor allem die Sphären von Stadt und Land, oben und unten, hinter der Zeit und in einer Gegenwart. Mit allem, was dazugehört. Der Einakter wurde 1910 in Egern am Tegernsee uraufgeführt. Der Autor konnte also nicht wissen, welche Wahrheit er allein durch diese Ortsangabe berührt hat. In der filmischen Inszenierung von Kurt Wilhelm aus dem Jahr 1973 fährt im Hintergrund eine Landschaftstapete vor den Fenstern vorbei. Zwischen Trudering und Ostbahnhof liegt flaches, grünes, waldiges, unbebautes Land. Das ist es.

Der ganze Text: Rundgang

Übersetzung ins Polnische / Tłumaczenie na polski: TobiasRoth

Są góry, przez które trzeba przejść; inaczej droga się urywa.
Ludwig Thoma