Nach den Aufständen

collungaricumnachts Ich freue mich, dass ich heute ein Referat von Professor Hans Henning Hahn  veröffentlichen darf. Ich hörte mir sein Referat während einer Konferenz, die Ende April (siehe unten) in Berlin statt fand. Genauer gesagt im Collegium Ungaricum, einem fantastischen Haus von Peter P. Schweger.
Interessierte, die mehr über Professor Hahn erfahren möchten, sind gebeten, seine Homepage zu besuchen: http://www.bohemistik.de/hhhahn/

Prof.  Hans Henning Hahn

Nach den Aufständen – Folgen für Politik, Gesellschaft und Opposition

 Wahrscheinlich hat noch niemand eine Statistik aufgestellt, aber es scheint plausibel: im Laufe allein der europäischen Geschichte der letzten 1000 Jahre sind die meisten Aufstände und Revolutionen gescheitert. Daß also die Aufstände in Ostmittel- und Osteuropa in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhundert meist keinen direkten Erfolg hatten, ist historisch nicht unbedingt etwas Neues oder auch nur erstaunlich. Die beiden ersten Aufstände in Europa im 20. Jahrhundert, die erste russische Revolution von 1905 und der irische Osteraufstand in Dublin von 1916 endeten in Blutbädern – und doch waren sie auf lange Sicht gesehen erfolgreich: 12 Jahre später wurde das Zarenregime gestürzt, und 6 1/2 Jahre nach dem Osteraufstand trat die Verfassung des Irischen Freistaates in Kraft.

Diese und andere Beispiele sind oft zitiert worden, auch in Osteuropa, um zu unterstreichen, daß man langfristig doch am längeren Hebel sitze. Nun sind die genannten Beispiele zugegebenermaßen nicht unbedingt repräsentativ: Von der 1848er Revolution bis zur Ausrufung einer Republik in Deutschland dauerte es 70 Jahre (in Frankreich allerdings nur 23 Jahre), vom ersten polnischen Aufstand 1794 bis zur Wiederherstellung Polens 124 Jahre, von der Schlacht auf dem Weißen Berg 1620 bis zur Gründung der Tschechoslowakischen Republik knapp 300 Jahre – und von der langen notwendigen Geduld von Kolonialvölkern brauchen wir hier gar nicht zu sprechen.

Wenn wir also Überlegungen darüber anstellen, was in der uns interessierenden Zeit 1953-1989 in und mit den ostmitteleuropäischen Gesellschaften geschah, dann müssen wir auf der einen Seite vermeiden, diesen 36 Jahren einen Exzeptionalitätsstatus zuzusprechen, und auf der anderen Seite müssen wir sehr differenzieren.

Es geht um die Folgen von Niederlagen von etwas, was im Titel unserer Tagung etwas emphatisch ‚Freiheitsbewegungen’ genannt wurde, für die Politik, für die Gesellschaft und für die Opposition in  den jeweiligen Ländern – ein recht komplexes Thema, um darüber 20 Minuten zu sprechen, und die Gefahr, daß man entweder pathetisch wird oder Stereotypen produziert, liegt nahe. Im Grunde geht es darum, was die Beteiligten gelernt haben aus den Niederlagen. Beteiligte gab es viele: der Staat und die Partei, jeweils mit einzelnen Akteuren und Akteursgruppen, die alle über einen Kamm zu scheren weder wissenschaftlich zulässig ist noch schon damals klug war. Da gab es erklärte Oppositionelle, die aus ihrer Haltung meist keinen Hehl machten und vom jeweiligen Regime entweder aufgrund ihrer Publizität bzw. kulturellen Autorität respektiert wurden und damit eine gewisse Narrenfreiheit genossen, oder auch nicht – das hing von dem jeweiligen Land ab. Da gab es die Kirchen, die in jedem Land einen anderen Status und damit eine unterschiedliche Bewegungsfreiheit genossen. Da gab es die weniger bekannten Oppositionellen, als Individuen oder auch als Gruppen bzw. Bewegungen. Und da gab es die Gesellschaften, die von außen, von Westen aus gesehen grau und uniform aussahen, und die doch so vielfältig waren, nicht nur in ihrer sozialen Lage, sondern auch in ihren mentalen und kulturellen Befindlichkeiten. Sie alle schlossen höchst unterschiedliche Schlüsse aus diversen Ereignissen. Letzteres, die Ereignisse, waren keineswegs nur Aufstände – denn man wird weder das polnische oder auch sowjetische Tauwetter noch den Prager Frühling als solches bezeichnen.

Die Reaktionen auf die Niederlagen waren vielfältig. Bevor ich versuche, sie etwas zu typisieren bzw. zu ordnen, läßt sich wahrscheinlich eines als gemeinsam herausstellen: In allen Gesellschaften, von denen wir hier reden, funktionierte eine mentale Dichotomie von Staat und Gesellschaft, am stärksten profiliert wohl in Polen mit dem „my“ und „oni“, und dort auch an ältere diskursive Traditionen anknüpfend. In Ansätzen war diese mentale Dichotomie in allen Ländern vorhanden – stärker ausgeprägt bei der Gesellschaft, die dadurch auch ein Wir-Bewußtsein gegenüber den Institutionen der „władza”, des Staates und der Partei, entwickelte, zu finden aber auch häufig bei Vertretern des Regimes, die das natürlich schon aus Gründen der offiziellen Ideologie nicht offen zugeben durften und wo diese mentale Dichotomie eher versteckt oder besser noch indirekt auftauchte. Versuche des Regimes, das sich auf diesem Hintergrund entwickelnde Wir-Gefühl zu bekämpfen, wurde von der Opposition nicht selten als Versuch denunziert, die Gesellschaft zu atomisieren bzw. aus einer ihrer selbst bewußten Gesellschaft eine atomisierte bzw. amorphe Bevölkerung zu machen – womit sie nicht unrecht hatte, denn darum ging es in der Tat. Wenn wir nämlich mal so verständliche Reaktionen wie Mutlosigkeit, Enttäuschung, individuelle Flucht ins Private oder ins Exil außer Acht lassen, dann ging es im Grunde vor, während und nach den Aufständen darum, daß die Gesellschaft (und oft genug die Opposition als ihr selbsternannter moralischer  Führer) politisches Subjekt sei, oder, besser ausgedrückt, ihren Charakter eines politischen Subjekts bekommen, erhalte oder wiedergewinne. Diese Fragestellung nach dem politischen Subjektcharakter von Gesellschaft ist nun nicht etwas, was nur im Osteuropa der letzten 60 Jahre aktuell sei – das Problem kennen wir spätestens seit den Kommunen des hohen Mittelalters, im Grunde aber seit den athenischen Verfassungsreformen der Antike. Fragt man sich nach dem Spezifikum Ostmitteleuropas nach dem Zweiten Weltkrieg, so stellt sich die klassische Frage nach der sozialen und politischen Elite: da diese Rolle die traditionellen Eliten nicht mehr ausfüllen konnten, weil sie meist nicht mehr vorhanden waren – hatte sie doch die nationalsozialistische Besatzung und/oder der kommunistische Umschwung vernichtet oder ins Exil gezwungen –, so ergab sich eine bisher so nicht da gewesene Rolle von Intellektuellen. Daß deren Rolle in der Öffentlichkeit durch Repression und Verleumdung zwar erschwert, aber kaum verhindert werden konnte, lag an dem seltsamen Umstand, daß mit wenigen Ausnahmen die Regime lange Zeit auch nicht ohne sie auskommen zu können glaubte.

Man könnte unser Thema auf die Frage reduzieren: Wer hat was aus was gelernt? Und wer hat sich letztlich als am lernfähigsten erwiesen? Von Peter Burke stammt der Satz:

„Schon oft hieß es, die Sieger hätten die Geschichte geschrieben. Und doch könnte man auch sagen: Die Sieger haben die Geschichte ver­gessen. Sie können sich’s leisten, während es den Verlierern un­möglich ist, das Geschehene hinzunehmen; diese sind dazu verdammt, über das Geschehene nachzugrübeln, es wiederzubeleben und Alterna­tiven zu reflektieren.“

Auch in Osteuropa gab es Debatten darüber, was man falsch gemacht hatte und welche Alternativen man habe. Die polnische Entwicklung ist hier ein gutes Beispiel: 1956 scheiterte der Posener Aufstand, aber als große Teile der Partei-Intelligenz in Warschau auf eine Reform drängten, gab der Partei-Apparat nach. Als das Tauwetter in der „kleinen Stabilisierung“ verkam, rebellierten die Studenten und Intellektuellen 1968 – und blieben isoliert, wenn auch mit großem Echo. Als 1970 die Arbeiter an der Küste rebellierten, mußte zwar die Parteiführung einer anderen Platz machen, aber wiederum blieb der Aufstand isoliert. Als 1976 die Arbeiter wieder rebellierten, fanden die repressionierten Arbeiter intellektuelle und studentische Unterstützer und eine untergründige Hilfe kirchlicher Kreise. Daraus entwickelte sich eine Volksbewegung, die sich Solidarność nannte. Aus jeder Niederlage lernte man und reflektierte dies in Strategiedebatten, von der Frage über Sinn oder Unsinn von Gewaltanwendung bis hin zu Jacek Kurońs Finnlandisierungsstrategie,  Adam Michniks Neuem Evolutionismus und der Taktik des KOR, sich auf die Rechtsakte des Regimes selbst zu berufen und damit dessen Fassaden ad absurdum zu führen.

Nicht in jedem Land konnte das klappen. In Ungarn glaubte das Regime nach der blutigen Niederschlagung des Aufstands von 1956 und einer harten Repressionsphase, die Gesellschaft mit etwas verführen zu können, was man damals als „Gulaschkommunismus“ bezeichnete. Das konnte nur eine sehr begrenzte Zeit funktionieren, war sozusagen das „kleinste gemeinsame Vielfache“ auf das sich Gesellschaft und Regime einigen konnten, das aber keinen Bestand mehr hatte, als sich besseres bot. Das Ventil des Konsums glaubte auch die DDR gehen zu können, nach dem Motto: „Wenn die Menschen etwas zu verlieren haben, dann werden sie keine großen Sprünge machen wollen und vermeiden, ihren kleinen Wohlstand aufs Spiel zu setzen.“ Diese Art von Wohlstandsverführung konnte nicht gelingen, zum einen, weil die Bestechungssummen zu gering waren, vor allem aber zum anderen, weil das Bedürfnis danach, politisches Subjekt zu sein, und damit gleichzeitig auf der individuellen Basis Subjekt des eigenen Schicksals zu sein, zu groß war. Darüber hinaus widersprach die angebotene kleine Wohlstandsverführung nicht nur dem offiziell propagierten Egalitarismus, sondern auch den realen egalitären Denkarten in weiten Teilen der Gesellschaft, und vor allem vieler Intellektueller. Mit anderen Worten – die Option „Gulaschkommunismus“ war nicht in der Lage, eine östliche Variante des „homo oeconomicus“ für größere Kreise attraktiv zu machen.

Im Endeffekt haben sich Gesellschaft und Opposition als lernfähiger erwiesen als das Regime bzw. die klügeren Schlußfolgerungen gezogen. Daraus ergab sich etwas, das noch heute terminologisch nicht eindeutig ist. Die Aufzählung, die mir als Titel gestellt wurde: „Folgen für Politik, Gesellschaft und Opposition“, hat für mich den Nebengeschmack, als sei mit „Politik“ das Regime gemeint. Und ich habe noch heute die Worte mancher osteuropäischer Oppositioneller im Ohr, die meinten, sie trieben keine Politik, sondern forderten nur ihre Rechte, ihre Menschenrechte, das sei keine Politik, und es sei nicht ihre Schuld, daß dies von den Herrschenden, der „władza”, als Politik mißverstanden werde. Als Analytiker a posteriori dürfen wir nicht den Denkfehler machen, dies einfach zu übernehmen. Denn natürlich waren die Oppositionellen jener Tage in Osteuropa Politiker in dem Sinne, daß sie politisch handelten, und selbst wenn sie selbst nicht nach Macht strebten, so stellten sie doch mit ihren Forderungen die Systemfrage und damit im damals herrschenden System die Machtfrage. Jeder Revolutionär und Reformer ist ein Politiker; man kann nicht unpolitisch einfordern, daß die Gesellschaft politisches Subjekt wird – denn das ist ein eminent politischer Vorgang. Das haben damals nicht alle so verstanden, und das hat zu einiger Verwirrung geführt, bis hin zu der Debatte in der Tschechischen Republik über eine angeblich „unpolitische Politik“ bzw. die Selbstbezeichnung Václav Havels als „unpolitischer Politiker“. Insofern hat der in westlichen Ohren nicht immer präzise Begriff von ‚Politik’ doch auch für einige Zeit die politische Kultur der osteuropäischen Länder geprägt, einer Auffassung von Politik, in der Effizienz nicht der höchste Maßstab politischen Handelns ist.

Letztlich hat sich das alles, was wir als Aufstände bezeichnen und was ich lieber als endemische Unruhe benennen würde, als sehr fruchtbar erwiesen, denn sie, die Unruhen, haben Folgen gehabt – sie brachten die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse in Unordnung und machten überdeutlich, daß die Machthaber nicht mehr als Stagnation zu produzieren in der Lage waren. Solche und andere Folgen haben Unruhen nicht nur in diktatorisch regierten Regimen, sondern auch in Demokratien, und also kann ich uns allen für die Gegenwart und Zukunft nur weiterhin sehr viel Unruhe – Aufstände nicht ausgeschlossen –wünschen, damit auch unsere Gesellschaften und Regierungen nicht vergessen, daß es letztlich um die Subjektrolle der Gesellschaften und ihrer einzelnen Bürger geht.

Der Text war ein Impulsreferat bei der Tagung: Die mittelosteuropäischen Freiheitsbewegungen 1953-1989. Opposition, Aufstände und Revolutionen im kommunistischen Machtbereich. Berlin 25./26.4.2013