Arkadiusz Łuba
Wie viel Don Quixote steckt in Lew Nikolajewitsch Myschkin und in Leopold Bloom
Nein, ich bin weder Cervantes- noch Don Quixote-Spezialist, dennoch fühle ich mich gezwungen, ein paar Worte über das Thema zu schreiben, da der hier genau vor einer Woche (im Post mdT: Jezus czyli ten Idiota Don Kichot (Barataria)) einbezogene James Joyce doch einer meiner Spezialgebiete ist und ich – mehr oder weniger – Pate Ewas Lektüre von Margaret Churchs Structure and theme – Don Quixote to James Joyce (und von James Joyces Finnegans Wake, wo sie nach „Sin Showpanza“ – FW 234.6 – und „dulsy nayer“ – FW. 234.23 – gesucht und es zuerst in Churchs Buch gefunden hat) bin.
In dem Buch von Margeret Church selbst habe ich keine direkte Referenz zu dem Fürsten Lew Nikolajewitsch Myschkin, dem Titelprotagonisten von Fjodor Dostojewskis Der Idiot, gefunden. Ein einziges Mal erwähnt sie dieses Buch (auf der Seite 85) und selbst dort tut sie es im Kontext von Die Brüder Karamasow. Sie beruft sich in ihrem Vorwort (und analysiert es auch in einem der Kapitel) auf Die Brüder Karamasow und seine [die des Romans] Protagonisten: „The structures of the novels that I discuss in the following pages provide a means of perspective on the development of the genre since Don Quixote and an ongoing thesis for this book. […] They [the novels – A. Ł.] are all tied together, as the title of the book [Structure and theme – Don Quixote to James Joyce] suggests, by the quixotic nature of characters in each one from Parson Adams, to Werther, to Emma Bovary, to Dmitri and Ivan Karamazov, to Raskolnikov and K., to Settembrini, and to Leopold Bloom, and by themes and techniques that also relate to the Quixote” (S. ix, x), also auf Deutsch: „Die Strukturen der Romane, die ich auf den folgenden Seiten untersuche, bieten einen Einblick in die Entwicklung des Genres seit Don Quixote und eine fortlaufende These für dieses Buch. […] [Die Romane] sind alle miteinander verbunden, wie der Titel des Buches [Struktur und Thema – Don Quixote bis James Joyce] suggeriert, durch die quixotische Natur der Charaktere in jedem einzelnen von Parson Adams über Werther, Emma Bovary, Dmitri und Ivan Karamasow, Raskolnikov und K., Settembrini und Leopold Bloom sowie durch Themen und Techniken, die sich auch auf den Quixote beziehen“ [alle Übersetzungen ins Deutsche, wenn nicht anders angegeben, von mir; meine Hervorhebung – A. Ł.].
Don Quixote wird von Church meistens kursiv geschrieben und als Titel eines prägenden Romans verstanden. Relativ selten bezieht sie sich auf die Figur Quixotes. Im Vordergrund stehen die Struktur und das Thema, die sich auf Cervantes‘ Roman beziehen, und nicht auf dessen Charaktere. –> „In Don Quixote, the ancestor, so to speak, of all fictions and of all metafictions, we find close and complex correlations between the structure of the book, the psychological development of the hero, and consequently, psychological theory, both Renaissance and modern. In fact, it is impossible to separate in Don Quixote intrinsic matters from extrinsic. On the one hand, Don Quixote is a statement about human behavior, psychology if you will, about the relationship of the individual to his society and to himself. On the other, it is a novel fully responsive to literary history, and it may be experienced simply as fiction” (S. 4). Zu Deutsch: „In Don Quixote, dem – sozusagen – Vorläufer aller Romanen und aller Metafiktionen [meine Hervorhebung – A. Ł.], finden wir enge und komplexe Zusammenhänge zwischen der Struktur des Buches, der psychologischen Entwicklung des Helden und folglich der psychologischen Theorie sowohl der Renaissance als auch der Moderne. Gewiss, es ist unmöglich, in Don Quixote intrinsische [also von innen her, aus eigenem Antrieb, stammende – A. Ł.] Angelegenheiten von extrinsischen [also von den von außen her anregenden, nicht aus eigenem innerem Antrieb folgenden – A. Ł.] zu trennen. Einerseits ist Don Quixote eine Aussage über menschliches Verhalten, Psychologie, wenn Sie so wollen, über die Beziehung des Individuums zu seiner Gesellschaft und zu sich selbst. Auf der anderen Seite handelt es sich um einen Roman, der voll und ganz auf die Literaturgeschichte eingeht und einfach als Fiktion erlebt werden kann.“ Zu stark scheint mir am Anfang von Ewas Post ihre Behauptung, dass Church Don Quixote (ohne die Kursivschrift, also den Protagonisten) „mit Sicherheit für das Vorbild von Prinz Leo Nikolaevich Myshkin“ hält (orig.: „Z całą pewnością, twierdzi autorka, był wzorem księcia Lwa Nikołajewicza Myszkina“). So eine starke Behauptung habe ich bei Church nirgendswo gefunden.
Vorbilder in diesem Sinne interessieren Church weniger als die „structure and theme“ der post-renaissanceschen Romane und deren moderne Entwicklung: Während „die innere Welt von Don Quixote sich in den Strukturen widerspiegelt, die Cervantes seinem Roman gibt“ (orig.: „The inner world of Don Quixote is mirrored in the structures Cervantes gives his novel“, S. 185), „geben die philosophischen, religiösen und psychologischen Spannungen der Charaktere Dostojewskis langen Werken Ordnung und Form“ (orig.: „the philosophical, religious, and psychological tensions of characters give order and form to Dostoevsky’s long works“, ebd.).
In ihrem Nachwort zu Der Idiot führt die Übersetzerin des Buches, Elisabeth Kaerrick (unter dem Pseudonym „E. K. Rahsin“), aus: Die von Dostojewski in seinen Entwürfen als „Fürst Christus“ bezeichnete und von Aglaja als „armer Ritter“ bespöttelte Mittelpunktgestalt, die als Gravitationszentrum alle Handlungen auf sich zieht, wird wegen ihrer komisch wirkenden, aber Sympathie ausstrahlenden Aktionen u. a. mit Cervantes Don Quixote verglichen, allerdings von Interpreten auch von ihm unterschieden, denn seine Charakterisierung folge nicht einem einfachen Gut-Böse-Schema: „Fürst Myschkin ist im Wesentlichen weder ein Don Quixote, noch schön und gut nur aus Güte, und beileibe kein ‚Demokrat’ […] ist auch kein Parzival oder ein Pestalozzi, sondern ist ein echter Dostojewski“ (E. K. Rahsin: Nachwort. In: F. M. Dostojewski: Der Idiot. Piper Verlag: München-Zürich 1980, S. 955). An einer Stelle schreibt Margaret Church sogar: „common factors in novels of different eras often abrogate time altogether so that Leopold Bloom or Settembrini or Emma Bovary may be seen to precede or to influence” Don Quixote“ (S. 4), also auf Deutsch: „Einige gemeinsamen Faktoren verwischen oft die Zeitunterschiede in Romanen verschiedener Epochen, so dass Leopold Bloom, Settembrini oder Emma Bovary Don Quixote vorausgehen oder ‚inspirieren‘ können“. Oder mit Worten von Jorge Luis Borges aus seinen Labyrinths: Selected Stories and Other Writings: „Jeder Schriftsteller entwirft sich seine eigenen Vorgänger“ (S. 201).
Auch im Falle Joyce ist der Einfluss Don Quixotes (wieder als Charakter verstanden) gering. Der irische Autor hat sich dazu selbst geäußert. Warum sollte man nicht zu allererst dem Autor glauben, bevor man zu Wissenschaftlern greift?! Joyce erzählte seinem Sprachschüler Georges Borach von seinem Buch, und dieser notierte in seinem Tagebuch: „Das schönste, alles umfassende Thema ist die Odyssee. Es ist größer, menschlicher als Hamlet, Don Quichotte, Dante, Faust. Das Jungwerden des alten Faust berührt mich unangenehm. Dante ermüdet rasch, wie wenn man in die Sonne blicken würde. Die schönsten, menschlichsten Züge enthält die Odyssee. Ich war zwölf Jahre alt, als wir in der Schule den Trojanischen Krieg behandelten, nur die Odyssee blieb mir haften. Ich will aufrichtig sein, mit zwölf Jahren gefiel mir am Ulysses das Mystische. Als ich Dubliners schrieb, wollte ich zuerst den Titel Ulysses in Dublin wählen, kam aber davon ab. In Rom, als ich ungefähr die Hälfte des Porträt vollendet hatte, sah ich ein, dass die Odyssee die Fortsetzung sein musste, und ich begann Ulysses zu schreiben.
Warum kam ich immer wieder auf dieses Thema? Gegenwärtig »nel mezzo del’cammin«, ist für mich der Stoff des Odysseus der menschlichste der Weltliteratur: Odysseus wollte nicht nach Troja ziehen, er wusste, dass der offizielle Kriegsgrund, Ausbreitung der Kultur Hellas‘, nur Vorwand war für die griechischen Kaufleute, die neue Absatzgebiete suchten. Als die Aushebungsoffiziere kamen, war er gerade beim Pflügen. Er stellte sich irrsinnig. Sein zweijähriges Söhnchen legte man ihm darauf in die Furche. Vor dem Kind hält er mit dem Pflug. Beachten Sie die Schönheit der Motive: der einzige Mann auf Hellas, der gegen den Krieg ist, und der Vater. Vor Troja verbluten die Helden umsonst. Man will abziehen. Odysseus ist dagegen. Die List des hölzernen Pferdes. Nach Troja spricht man nicht mehr von Achilleus, Menelaos, Agamemnon. Nur einer ist nicht erschöpft, seine Laufbahn hat kaum begonnen: Odysseus.
Dann das Motiv der Irrfahrt. Scylla und Charybdis, welch herrliches Gleichnis! Odysseus ist auch ein großer Musiker, er will und muss hören, er lässt sich an den Mastbaum binden. Motiv des Künstlers, der lieber sein Leben opfern will, als zu verzichten. Dann der köstliche Humor des Polyphemos. »Olus« ist mein Name. Auf Naxos der Fünfzigjährige, womöglich kahlköpfig, mit Ariadne, der kaum siebzehnjährigen Jungfrau. Welch feines Motiv. Und die Rückkehr, wie tief menschlich. Vergessen Sie nicht den Zug der Großmut bei der Begegnung mit Ajax in der Unterwelt und noch viele andere Schönheiten. Ich fürchte mich fast, ein solches Thema zu behandeln, es ist zu gewaltig.“
Seinem besten Freund in Zürich, Frank Budgen, erzählte Joyce, er schreibe ein Buch, das sich auf die Odyssee stütze, aber achtzehn Stunden aus dem Leben eines Zeitgenossen schildere. Es fiel ihm ebenso schwer, Budgen das vielseitige Wesen eines Helden zu verdeutlichen, wie seinerzeit gegenüber Borach: »Sie scheinen viel gelesen zu haben, Herr Budgen«, sagte er. »Ist Ihnen von irgendeinem Dichter ein lückenloser Allroundcharakter bekannt?« Als Budgen Christus nannte, wandte Joyce ein: »Er war Junggeselle und lebte nie mit einer Frau zusammen. Das Zusammenleben mit einer Frau ist aber zweifellos etwas vom Schwierigsten, was ein Mann tun muss, und das hat er nie getan.«
»Und wie steht‘s mit Faust«, fragte Budgen, »oder Hamlet?« »Faust«, sagte Joyce, »ist weit davon entfernt, ein ganzheitlicher Mensch zu sein; er ist überhaupt kein Mensch. Ist er ein alter oder ein junger Mann? Wo ist sein Heim, wo seine Familie? Wir wissen es nicht. Und er kann nicht ganzheitlich sein, weil er nie allein ist. Immer ist ihm Mephistopheles an der Seite oder auf den Fersen. Wir bekommen viel von ihm zu sehen, das ist aber auch alles.«
»Ihr ganzheitlicher Mensch in der Literatur ist wohl Odysseus, nehme ich an?«
»Ja«, sagte Joyce. »Der alterslose Faust ist kein Mensch. Aber Sie haben eben Hamlet erwähnt. Hamlet ist ein Mensch, aber er ist nur ein Sohn. Odysseus ist der Sohn von Laertes; aber er ist auch der Vater Telemachs, der Gatte der Penelope, der Geliebte Calypsos, der Waffengefährte der griechischen Helden vor Troja und der König von Ithaka. Er hatte viele Schicksalsschläge zu erdulden, überwand sie aber alle durch Weisheit und Mut. Vergessen Sie nicht, dass er ein Drückeberger war, der sich dem Militärdienst durch vorgeschützten Irrsinn zu entziehen versuchte. Er hätte vielleicht nie zu den Waffen gegriffen und wäre nie nach Troja gezogen, wäre nicht der griechische Aushebungsoffizier klüger gewesen als er und hätte den jungen Telemach vor den Pflug gelegt, während Odysseus das Sandufer pflügte. Als er aber einmal im Krieg war, wurde aus dem Kriegsdienstverweigerer ein Jusqu‘au-boutist. Als die anderen die Belagerung aufgeben wollten, war er es, der weiter auszuharren beabsichtigte, bis Troja gefallen wäre.« Dann fuhr er fort: Noch etwas: Die Geschichte des Odysseus hörte mit dem Ende des Trojanischen Krieges noch nicht auf. Sie begann erst, als die anderen griechischen Helden zurückkehrten, um den Rest ihres Lebens friedlich zu verbringen. Und dann« – Joyce lachte – »war er auch der erste Gentleman in Europa. Als er nackt vortrat, um die Junge Prinzessin zu begrüßen, verhüllte er vor ihren jungfräulichen Augen jene Teile seines von Meerwasser durchnässten und von Kletten überdeckten Körpers, auf die es ankam. Er war auch ein Erfinder. Der Panzer ist seine Schöpfung. Hölzernes Pferd oder Eisenkasten – das spielt keine Rolle. Beides sind Hüllen, die bewaffnete Krieger enthalten.«
»Was verstehen Sie dann«, fragte Budgen, »unter einem ganzheitlichen Menschen? Wenn zum Beispiel ein Bildhauer [Budgen war einer – Anm. A. Ł.] die Gestalt eines Menschen schafft, dann ist dieser Mensch ganz, dreidimensional, aber nicht notwendigerweise ganzheitlich in einem idealen Sinne. Alle menschlichen Körper sind unvollkommen, auf irgendeine Weise begrenzt, auch die Menschenwesen. Ihr Odysseus aber…«
»Der ist beides«, sagte Joyce. »Ich sehe ihn von allen Seiten, und deshalb ist er ganz im Sinne Ihrer Bildhauerfigur. Aber er ist ebenfalls ein ganzheitlicher Mensch – ein guter Mensch.«“ [alle Quellen zu James Joyce stammen aus: Richard Ellmann: James Joyce. Revidierte und ergänzte Ausgabe, betreut von Fritz Senn in Zusammenarbeit mit den Übersetzern Albert W. Hess, Klaus Reichert und Karl H. Reichert. Suhrkamp: Frankfurt am Main 1994.]
Bezogen auf Structure and Theme fasst Church zusammen: „In den Romanen von James Joyce findet man eine psychologische Struktur, die auf dem Viconischen System basiert und außerhalb der Werke liegt, aber von Joyce so geformt und neu gestaltet wurde, dass sie zu einem inneren Muster der Entwicklung seiner Protagonisten wird, beginnend mit dem Alter, in dem die Eltern dominieren, übergehend in die Pubertät und ihre Anpassungen, dann zur Reife und zu einer Rolle in der Gesellschaft, bis hin zu einem einschlagenden Blitz, wo man wie ein Phönix aus der Asche aufsteigen muss, um neu zu beginnen, »ein Commodius Vicus der Rezirkulation«“ (orig.: „In the novels of James Joyce, we find a psychological patterning, based on the Viconian system, exterior to the works but molded and redesigned by Joyce so that it becomes an interior pattern of the development of his protagonists, beginning with the age when parents dominate, moving to adolescence and its adjustments, then to maturity and a role in society, until lightning strikes and one must phoenix-like rise from ashes to begin anew, “a commodius vicus of recirculation“ (S. 185).
Die hier skizzierte Problematik schöpft weder das polemische noch das wissenschaftliche Potenzial der Frage „Wie viel Don Quixote steckt in Lew Nikolajewitsch Myschkin und in Leopold Bloom?“ aus und sollte hier als erste Anregung zu einer vertieften, gründlichen, komparatistischen Quellenforschung gelesen werden. Aber wen interessiert das schon außer ein paar besessene Anbeter?! 😉
Um es mit – wiederum – einem polnischen Schriftsteller abzuschließen, der u.a. durch sein Ferdydurke bekannt wurde und woraus auch folgender Zitat stammt:
„Schluss und Punktum!
Wer es las, der ist dumm!“
pozdrawiam
wiadomo kto 😉