Es war ein Freitag

C. C.

Es war der 11. Geburtstag meines kleinen Bruders D.

Mein großer Bruder P. war mit mir mit dem Motorrad – es war wohl ein milder Dezembertag – zur Feier von Kreuzberg zu meinen Eltern nach Wilmersdorf gefahren.

Am frühen Abend klingelte das Telefon meiner Eltern für meinem großen Bruder P. Es war ein sehr kurzes Gespräch, P. kam aufgeregt an den Tisch, an dem ich mit Vater, Großvater und Onkel Skat spielte, und sagte: „Wir müssen los, in Kreuzberg wird ein Haus geräumt.“ Eine Telefonkette war ausgelöst worden, was damals aber nicht so einfach war, weil Handy und Internet gab’s ja noch nicht – aber zum Glück wusste die Freundin meines Bruders wo wir waren.

Ohne uns groß zu verabschieden und nur erklärend „In Kreuzberg wird ein Haus geräumt“, zogen wir unsere Klamotten an verließen die kleine 2 ½ -Neubau-Zimmerwohnung in der ich 12 Jahre mit Eltern und drei Brüdern gewohnt hatten. Zurück ließen wir neben unseren Eltern und Großeltern, Onkel, Tanten, Cousinen und Cousins – den Großteil unserer Verwandtschaft.

Wir sprangen auf Motorrad und fuhren nach SO36, parkten am Wassertorplatz und gingen zu Fuß zur Kohlfurterstraße/Ecke Admiralstraße, die Helme setzten wir nicht ab. Genaueres hatte P. mir bis dahin noch nicht gesagt, aber er wusste ja wo wir hin mussten.

Die Schule, die dort heute steht, befand sich gerade im Bau, konkret wurden gerade die Kellergeschosse gebaut, also war hauptsächlich Beton und Eisen zu sehen, jetzt aber kaum zu erkennen, da es schon dunkel war. Ein schmaler Holzweg führte als südliche Verlängerung der Admiralstraße mitten durch die Baustelle. Auf der anderen Seite der Baustelle, wo sich besetzte Häuser befanden, hörten wir Lärm:

  • Bullenwannensirenen
  • Geschrei und Gegröle
  • die typischen Geräusche von geworfenen Pflastersteinen, die auf die Straße oder gegen Bullenschildern krachten,
  • und von abgeschossenen Tränengasgranaten

– alles uns wohl bekannte Geräusche, bis dahin aber noch nicht im Zusammenhang mit Hausbesetzungen, sondern u.a. von Anti-Nazidemos, Knast-Demos, Räumung des besetzten Daches des Amerika-Hauses und 1. Mai-Demos – die damals übrigens noch nicht in Kreuzberg stattfanden.

Bevor wir den schmaler Holzweg Richtung „Kampfgetümmel“ nahmen „bewaffneten“ wir uns mehreren Pflastersteinen, mit deren Umgang wir geübt waren.

Meinem Bruder P. hinterherlaufend, der immer viel „forscher“ war als ich, betrat ich den Holzweg. Aber nach wenigen Metern verließ mich der Mut bzw. wurde ängstlich, fing an zu denken:

Was passierte auf der anderen Seite des schmalen Weges?

Liefen wir den Bullen direkt in die Arme bzw. in deren Knüppel?

Wir sind in der Falle, wenn die Bullen jetzt selbst auch noch von der Kohlfurterstraße Richtung Kanal vordrangen!

Während P. mit einigen anderen, die sich mittlerweile auch an der Ecke eingefunden hatten, weiter Richtung „Kampfgetümmel“ stürmte, kehrte ich um. Und dann sah ich sie von links kommen: Ein ganzer Zug Bullenwannen rasten mit hoher Geschwindigkeit in unsere Richtung. Ich hatte in diesem Augenblick eine wahnsinnige Angst.

Als ich wieder den Anfang des Holzweges erreichte, bremsten die Wannen genau von mir. Ich sah nur eine Chance zu entkommen: Zwischen den Wannen durch, Richtung Kotti. Kurz bevor ich durch kam, öffnete sich die hintere Tür der Wanne, die ich passieren wollte, und ein Bulle in Kampfmontur mit Helm und Schild erschien in der Tür.

Ich schleuderte kurz hintereinander zwei Pflastersteine, die ich in den Händen hielt, in die Wanne. Ich sah den ersten Stein auf das Visier des Helmes krachen, den zweiten Stein hörte ich nur „einschlagen“, da ich diese während des Laufen oder genauer gesagt während des Sprints „abfeuerte“, und mich ganz schnell auf der anderen Seite der Wannenreihe befand. Ich rannte immer weiter, erst kurz vor dem Kotti drehte ich mich um und sah: keinen Bullen oder anderen Menschen hinter mir.

Ich war alleine. Mein Bruder wurde jetzt sicher von den Bullen, denen ich gerade noch entkommen war, gejagt. Ich hatte Angst um ihn.

An der Ecke Kotti/Admiralstraße befindet sich heute eine Bank, damals war dort ein Supermarkt. Voll Wut und Hilflosigkeit schleuderte ich die zwei Pflastersteine, die sich noch rechts und links in den Taschen meiner Lederjacke befanden, in die Schaufensterscheibe des Supermarktes – die Geschäfte schlossen damals schon um 18:00 Uhr.

In diesem Augenblick hörte ich von der anderen Seite des Kottis das Klirren von Fensterscheiben – da waren also auch andere am werken.

Ich sprintete rüber, da ich nicht alleine sein wollte und irgendwie war ich auch noch tatendurstig.

Zwischen Adalbertstraße und Reichenberger Straße direkt an den Geschäftseingang eines Ladens – heute Rossmann – sah ich einen Mann zwischen 40 und 50 Jahren auf einem Vermummten sitzen und auf diesen mit Fäusten einschlagen. Ich stürmte auf die beiden zu und rammte den einschlagenden Mann, damals ein sogenannter „Aktivbürger“, so dass er zur Seite weg kippte und der Vermummte fliehen konnte. Zu zweit rannten wir in Richtung Reichenberger Straße.

Um dann aber wieder umzukehren und jetzt direkt an der Straße entlang wieder Richtung Adalbertstraße zu laufen, da wir von dort Geschrei und weiterhin Scheiben der Berliner Bank und von Kaisers klirren hörten und zu Recht Mitstreiter vermuteten.

Ich sah wieder den „Aktivbürger“, diesmal aber zusammen mit einem Bullen, der seine Knarre in der Hand hielt. Der „Aktivbürger“ zeigte in unsere Richtung, wobei ich nicht wusste, ob er mich oder den von mir Befreiten meinte.

  • Von dieser Szene gibt es ein Foto, welches ich schon oft in Veröffentlichungen gesehen habe und mich immer wieder erinnern läßt.-f-12-12-1980-3

Angesichts der gezogenen Waffe hatte ich zum zweiten Mal innerhalb weniger Minuten sehr große Angst – alles spielte sich sehr schnell und mit hoher Geschwindigkeit ab.

Im Sprint ging es weiter in die Adalbertstraße rein. Hinter der Treppe, die zum Kreuzberg-Café hoch führt, sah ich aus den Augenwinkeln wie ein Zivilpolizist einem Mann mit Lederjacke und schwarzem Tuch eine Pistole an den Kopf hielt. Da war bei mir alles vorbei. Ich rannte den Durchgang von der Adalbertstraße zur Dresdener Straße und so schnell ich konnte in eine Wohnung in der Dresdener, in der ich gerade bei Freunden unterkommen war.


Foto:Michael Kipp/Umbruch Bildarchiv https://www.umbruch-bildarchiv.de/bildarchiv/ereignis/30jahre_hausbesetzungen_in_berlin.html

Ich zitterte am ganzen Leibe und nach dem ich mich Helm und Lederjacke entledigt hatte hielt ich meinen Kopf unter die Dusche. Ich wollte einen klaren Kopf bekommen, aber hatte immer noch Angst und vor allem Angst um meinen Bruder.

In der Wohnung, in der ich alleine war, rauchte ich dann zur Beruhigung erst mal eine Tüte und blieb mindestens eine Stunde dort.

Erst dann wagte ich mich wieder raus und traf erst am Kotti eine Freundin, die sich gerade bei einer Spontandemo ein paar Prellungen am Arm durch Polizeiknüppeln eingefangen hatte und kurz darauf auch meinen Bruder. Er erzählte mir dann, dass sie über die Baustelle vor den Bullen flüchten konnten und er dabei seinen Helm verloren hat. Das er danach dabei war als der Bullen-VW-Bulli am Kotti umgeworfen wurde, hat er mir nie erzählt, aber angesichts von Fotos, die ich später sah und auf denen ich ihn erkannte, wusste ich es.

Vermutlich war es der VW-Bulli des Polizisten in dessen Knarre ich geschaut hatte.

Wo ich danach war und ob und wie ich gekämpft habe weiß ich nicht mehr – irgendwie fehlen mir da ein paar Stunden.

Erinnern kann ich mich nur noch, das wir, P. und ich, gegen 23:30 Uhr zur Ecke Dresdener Straße/Oranienplatz gegangen sind und den dort versammelten Leuten gesagt haben, sie sollten jetzt verschwinden, da der Kampf jetzt schon seit Stunden toben würde und die Bullen jetzt bald alles platt machen würden. Wir haben uns dann in die Wohnung zurückgezogen.

Die Leute sind unserer Aufforderung aber nicht gefolgt. Kurze Zeit später ist eine Bullenwanne in diese kleine Menge gefahren und hat einem Mann zwischen Wanne und einem großen Beton-Blumenkübel beide Beine abgequetscht. Der Mann musste seit dem – salopp ausgedrückt –  im Rollstuhl Platz nehmen.

Ach ja, es war der 12. Dezember 1980.

Nachwort:

Seit September 1979 waren bis dahin 19 Häuser besetzt worden, 1 Haus davon wurde im Sommer 1980 sofort nach der Besetzung geräumt -auch da wurde eine Telefonkette ausgelöst, wir waren aber gerade mal 10 Leute, die sich den Bullen dann lieber doch nicht in den Weg stellten.

Nach dem 12.12. haben wir in den nächsten drei Tagen noch zweimal große Demos organisiert, die durch brutales Vorgehen der Bullen jedes mal zu heftiger Randale auch auf dem Kudamm führten.

Wir sagten damals: „Unsere Argumente sind endlich im Rathaus Schöneberg – dem damaligen Regierungssitz West-Berlins – angekommen.“ Denn dann wurde erst mal kein Haus mehr geräumt, der Senat trat zurück, die Wohnungsbaupolitik änderte sich, Kreuzberg wurde nicht weiter zerstört und aus ein paar Hausbesetzungen wurde eine Bewegung, in der u.a. 3 Monate später als ca. 114. Haus am 14. März 1981 die Regenbogenfabrik besetzt wurde.

Nachtrag:

Ein Teil meiner Verwandtschaft, die unseren Abgang vom Geburtstag mitbekommen und dann im Fernsehen die Nachrichten aus Kreuzberg gesehen hatte, hat danach kaum noch mit mir geredet. Politische Diskussionen gab’s in der Familie eigentlich sowieso nie.