Reblog: Haytarma – Rückkehr

Zwei Jahrzehnte nach dem Zerfall der Sowjetunion und der Rückkehr der Tataren auf die Krim ist ein Film entstanden, der ein Ausdruck einer lebendigen und selbstbewussten krimtatarischen Kulturszene und eine lang ersehnte filmische Aufarbeitung der traumatischen Erlebnisse ist. “Haytarma” –  ein Film über die Deportation der Krimtataren nach Uzbekistan im Jahre 1944.
Wir übernehmen den Artikel „Повернення народу, що вистояв проти знищення“ aus der Zeitschirft “Кіно-Театр”, Ausgabe 5/2013, übersetzt aus dem Ukrainischen von Oleksandra und Ingo Jakobs vom Ukrainschen Kinoklub
in Berlin.

Die Redaktion hat den Text gekürzt und z.T. neu redigiert, weil er für den Blog zu umfangreich war.

Marija Teterjuk
Die Rückkehr eines Volkes, das die Vernichtung überlebte
Titel: “Haytarma”
Regie: Achtem Sejtablajew
Drehbuch: Mykola Rybalka
Kamera: Wladimir Iwanow
Darsteller: Achtem Sejtablajew, AlexejGorbunow, Usnije Chalilowa, Andrij Mostrenko, Andrij
Saminin, Lesja Samajewa
Produktionsstudio: ART. Ukraine, 2012

Die Erfahrungen eines kollektiven Traumas sind zu Beginn unmöglich in Worte zu
fassen. Nach und nach jedoch wird das traumatische Ereignis in die Geschichte einer
Gemeinschaft übernommen und verliert durch die Integration auf symbolischer Ebene mit der Zeit seine destruktive Wirkung. Erst hierdurch wird die Interpretation des traumatischen Ereignisses möglich. Nach dem Ende der sowjetischen Repressionen gegen das krimtatarische Volk dauerte es 24 Jahre bis es möglich wurde, das wichtigste historische Trauma der Krimtataren filmisch aufzubereiten: Die stalinistische Deportation am 18 Mai 1944.
Die Premiere des Filmes “Haytarma” fand am 17. Mai 2013 statt, einen Tag vor dem
Gedenktag an die Opfer der Deportation. (…) Die Idee zum Film”Haytarma”
stammt vom Leiter des KrimTV-Senders ART Lenur Isljamow, der auch zum wichtigsten Investor und Produzentendes Filmes wurde. Er bat dem Schauspieler des Kiewers Theaters auf dem linken Ufer Achtem Sejtablajew an, den Film zu drehen, der davon so hingerissen war, dass er auf Honorar verzichtete. Obwohl eigentlichTheaterschauspieler, hat Sejtablajew umfangreiche Erfahrungen als Filmschauspieler und Regisseur. (…)
“Haytarma” ist der Name eines tatarischen Volkstanzes, und bedeutet “Rückkehr”.
Die Umsetzung des Filmes ist ein Werk von erfahrenen Profis. Bei der Arbeit am Drehbuch stützte sich Mykola Rybalka auf historische Tatsachen und Erinnerungen von Augenzeugen der Tragödie. Die durchdachte, in sich schlüssige Handlung hält die Spannung beim Zuschauer über die gesamte Dauer des Filmes aufrecht. Diese basiert auf einer realen Episode aus der Biographie eines „Helden der Sowjetunion“, dem Piloten Amet-Chan Sultan (siehe Foto rechts). Im Mai 1944 erlaubte ihm das Kommando seines Regiments, seine Eltern in Alupka zu besuchen. Gerade in die Zeit seines Besuchs fiel die Operation des NKWD zur Deportation der Krimtataren. Es gelang ihm seine Eltern zu retten und sie in dieRegion Krasnodar zu bringen (Nach dem Krieg konnten sie nach Alupka zurückkehren). Dieses historische Gerüst erwacht zum Lebenund wird angereichert durch humorvolle, alltägliche Szenen, Liebesgeschichten und unerwartete Wendungen.  (Den Filmemacher gelang es) die historische Atmosphäre der Kriegsjahre authentisch darzustellen (…) und spektakuläre Kampfszenen in der Luft zu drehen. Da der Film zum Massenkino gehört, beinhaltet er viele Zufälle und einfache Metaphern. (…) Diese “rhetorischen” Abläufe bewegen sich jedoch innerhalb der Grenzen des gesunden Menschenverstandes und der Glaubwürdigkeit.
“Haytarma” arbeitet mit dem kollektiven Trauma der Deportation, das nicht nur die
Krimtataren, sondern auch andere Völker (Kalmücken, Inguschen, Tschetschenen, Karatschai, Balkarien, Mescheten) erlebt haben. Der Film überschneidet sich in einer Episode mit dem Holocaust: Als der Vater von Amet-Chan Dankbarkeit für die Frauen ausdrückt, die gegen die Besatzung gekämpft haben, wird die Tatarin Sajide erwähnt, die jüdische Kinder versteckte.
Der Film versucht dieses Trauma zu überwindenund es in die Geschichte hineinzuschreiben: In der letzten Szene des Filmes strecken sich Kinder unter dem löcherigen Dach eines Güterzuges nach Licht und Luft: Eine strahlende Metapher für die Lebenskraft des krimtatarischen Volkes, die ihm half, unter den unmenschlichen Bedingungen in der usbekischen Siedlungen auf die Rückkehr zu warten. Damit nimmt „Haytarma“ auch an der Bildung der nationalen Identität der Krimtataren teil, für die eine Rekonstruktion des nationalen Gedächtnisses nötig ist. Diese nationale Identität lehnt Aggressionen gegen andere Völker der Krim ab: Der Film zeigt gute nachbarschaftliche Beziehungen zwischen Ukrainern, Russen, Armeniern und Tataren vor der Deportation.
Obwohl „Haytarma“ ein Spielfilm ist, wurde die Deportation selbst im dokumentarischen Stil dargestellt. Das Ziel der Filmautoren war es, (…) die Tragödie zu zeigen und die Erinnerung an sie zu bewahren. So herrscht in Szenen, bei denen es um die Vertreibung geht, nicht die Atmosphäre von Terror und Grausamkeit, sondern von Verlust, Trauer und Sehnsucht. Es gibt weder überflüssiges Pathos noch Theatralik. Beim Dreh der Vertreibungsszenen nahmen Zeitzeugen der Deportation teil, die zum damaligen Zeitpunkt 5-6 Jahre alt waren. Deren Gesichtsausdrücke sind stärker als jede filmische Fiktion. Die Kamera konzentriert sich hierbei nicht an den naturalistischen Details der Gewalt, obwohl es genug davon gibt: Ein Baby zurückgelassen im leeren Haus, ein alter Mann sterbend auf einer Treppe, eine Frau auf die während eines Fluchtversuchs Hunde gehetzt werden.
Man muss jedoch vermerken, dass die Ursachen der Deportation im Film nicht vollständig geklärt werden. Zum Verantwortlichen der Tragödie wird Stalin, jedoch nicht als politische Figur oder reale Persönlichkeit, sondern als infernale Gestalt und böses Schicksal,welches über allen schlüssigen Momenten der Deportation schwebt: Seine Portraits „überwachen“, was im Arbeitszimmer eines Generals und auf dem Bahnhof geschieht. Der Vater von Amet-Chan Sultan stößt gerade auf Stalin an und ahnt nichts Böses, als der General den Befehl zur Deportation gibt. Stalin wird als eine irrationale, böse Macht gezeigt und somit gleicht die Deportation einer Naturkatastrophe: Eine plötzliche, unerklärliche Zerstörung. Der Film widerspricht die Theorie des Verrats an die Nazis, die von der sowjetischen Propaganda verwendet wurde, um das historische Verbrechen der Deportation zu legitimieren. Aber auch wenn die Krimtataren keine Kollaborateure waren, bleibt die Frage, welche Gründe die Deportation in der Tat gehabt hat? War es eine wirtschaftliche Nachfrage nach Arbeitskräften zum Ausbau der östlichen Republiken oder soll man die Tragödie als Vorbereitung zum möglichen Krieg gegen die Türkei verstehen? (…)

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Und noch eine Frage bleibt im Film unbeantwortet sehr wohl aber in der Reaktionen zum Film: Wie steht Russland von heute zu dieser Tat? Und die Antwort ist paradoxal: „Die Deportation ist die Tragödie des sowjetischen Volkes, nicht des krimtatarischen Volkes“, kommentiert den Film der russische Botschafter in Krim.

Ja, klar, die Täter haben auch ihre Traumas…