Krzysztof Jagielski
aus dem Polnischen von Tibor Jagielski
Einführung
Es gab einmal vor langer, langer, sogar sehr langer Zeit, in Siebenbürgen, ein ungarischer Dorf namens Kaszoningyar. Dort wohnte ein Bauer, der Zsigmond Gabosi hieß.
Er hatte so viele Kinder, dass er – wie er lachend sagte – nicht einmal wußte, welche im Frühjahr und welche im Herbst geboren waren.
Um die Wahrheit zu sagen, es gab deren elf, sechs Söhne und fünf Töchter.
In diesen alten Zeiten sagte man: “Hut geht vor der Haube“, darum war der Bauer Gabosi traurig, daß so wenig Söhne im Hause herumliefen. Aber er hatte die Hoffnung, daß seine Frau Terezia, die gerade wieder schwanger war, ihm noch einen Sohn gebären würde. Es kam jedoch nicht dazu…Aber der Reihe nach.
Die Bäuerin Terezia gebar ihre Kinder in ihrem Haus, in der Küche. Das war der größte Raum, dessen Löwenanteil ein gemauerter Ofen einnahm, man konnte auf ihm nicht nur viele Töpfe unterbringen, Brot backen und während der Feiertage ein Ferkel oder ein paar Gänse braten, man konnte auf ihm sogar sehr bequem schlafen. Während des strengen Winters strahlte er wärme aus, so daß man sich nicht wundern darf, daß die Bewohner sich dort am liebsten versammelten.
Eines Novembernachmittags, als der Schnee schon bis zum Dachrand reichte und die rote Sonne sich hinter den hohen Berggipfeln zu verschwinden schickte, konnte das geschäftige Treiben der Nachbarinnen in der Küche, das Gurgeln des heißen Wassers in den Töpfen, die leere, mit duftendem Stroh ausgelegte Wiege, nur eines bedeuten – die Vorbereitungen auf die Ankunft des zu erwartenden Kindes.
Und so erblickte ein zartes Mädchen das Licht der Welt, und, als man den Bauern rief, damit er sich mit dem frisch Geborenen freuen durfte, passierte etwas Unerwartetes: fünf Minuten später gebar die Bäuerin noch ein zweites.
Es wurde still. Man konnte nur das Rauschen des brennendes Holzes hören. Auch die Neugeborenen schrien, wie es üblich ist, nicht. Der Bauer, an den Tisch gelehnt, schwieg erschüttert, und die Brüder und Schwestern, die inzwischen in die Küche gedrängt waren, beobachteten mit großen Augen dieses Naturwunder. Zwei Mädchen?! Das konnten sogar die Erwachsenen nicht verstehen. Bis heute hatten sogar die Ältesten nichts von einem solchen Ereignis berichtet, ja, nicht einmal davon gewusst, jedenfalls hier, im Gebirge, im Komitat Nagykaszon. Und Bauer Gabosi, der mit allen Wassern gewaschen war, konnte kein Wort über die Lippen bringen.
Endlich erinnerten sich die Zwillinge an ihre Pflicht und fingen an zu schreien; man weiß nicht, ob vor Kälte oder Hunger, oder ob sie einfach ein Zeichen setzen wollten, daß sie geboren worden waren und man sich mit ihnen beschäftigen sollte.
Schon goss man warmes Wasser in den Trog, in dem man üblicherweise Brot knetete, schon
fing die Geschwisterschar auch zu schreien und zu drängen an, um den Schwestern näher zu kommen, schon half man der Bäuerin, schon genossen die Mädchen ihr erstes Bad.
Der Bauer rief den Opa Ferenc und goß in die Kelche Birnenschnaps. Und als sie ein und ein zweites Mal getrunken hatten, setzten sie sich auf die Bank, um über die Namen für die Mädchen zu beraten. Dann legten sie sie fest – die ältere soll Aranka, die jüngere Orsolya heißen; wie die Großmutter. Und so wurden sie getauft.
Als die Neugeborenen, eingewickelt in saubere Leinentücher, schliefen und die Bäuerin Terezia auf dem warmen Ofen ruhte und die Dunkelheit von den Öllampen erhellt wurde, saßen am Tische der Bauer Zsigmond, Großvater Ferenc, Großmutter Ildiko, Bäuerinnen, die bei der Geburt geholfen hatten, sowie die ältesten Söhne. Man langte zu dem speziel für diesen Tag gebackenen Kuchen Pogatsch, trank vorsichtig den starken Birnenschnaps oder genoss den alten Wein aus den Tonkrügen.
Kein Gespräch kam zustande. Der Bauer schaute manchmal die Zwillinge an. Doch sein Gesicht war trübe, man weiß nicht, ob aus Enttäuschung, dass es die Mädchen und nicht den erhofften Jungen gegeben hatte, oder ob schwarze, abergläubische Gedanken ihn plagten. Aus Achtung schwiegen alle.
Großvater Ferenc räusperte sich, zog zweimal an der Pfeife und sagte:
„Heute haben wir den 13.November, dreizehn Kinder wurden geboren, und wie ich gerade zähle, sitzen wir in der Stube, deren Decke von dreizehn Balken getragen wird, auch zu dreizehn; ich heiratete die Großmutter auch am Dreizehnten. So sehe ich, dass 13 eine glückliche Zahl sein muss. So war es früher. Ich sage euch, es ist ein gutes Zeichen, ein Geschenk des Erzengels und nicht, pfui!, der Teufelsmacht“.
Als in der Küche die Aufbruchstimmung einzusetzen begann, kam plötzlich ein unerwarteter Gast herein und fegte den Schnee von der Schafskutte und von seinen langen, weißen Haaren herab. Im Halbdunkel konnte man zuerst sein Gesicht nicht erkennen, aber als er an den Tisch, ins Öllampenlicht trat – erhoben sich die Anwesenden und riefen durcheinander:
„ Janosch Kovacs, um Himmelswillen…!“
„ Sei gegrüßt Bauer, seid gegrüßt Leute. Mich friert und ich habe Hunger von der langen Reise, erlaubt es mir, ein Weilchen auszuruhen“. Und ohne auf die Erlaubnis zu warten, warf er die Kutte auf die Bank und kam an die Wiege. Die Zwillinge öffneten die Augen und lächelten ihn an. Dann setzte er sich an den Tisch und aß gierig, tunkte Brot in die Soße und langte oft zum Weinkrug, ohne sich um seinen langen Schnurbart zu kümmern.
Obwohl jeder tausend Fragen stellen mochte, schwiegen alle und ließen den unerwarteten Gast seinen Hunger stillen. Man beobachtete aufmerksam jede seiner Bewegungen.
Vor vielen Jahren war er im Dorfe ein angesehener Schmied gewesen und lebte gut, bis eines Frühjahrs die Bäche über die Ufer gestiegen waren und die Täler überschwemmt hatten, die Anwesen vernichtet und viele Menschen getötet wurden. Auch die Familie von Janosch – die Frau und seine vier Kinder gehörten zu Unglücklichen.
Seitdem war er verschunden, als ob ihn die Erde verschluckt hatte, und es wurde still um ihn.
Jetzt war er zurückgekommen. Aber wie hatte er den meterhohen Schnee überwunden, der die Wege versperrte?
Bis jetzt war das keinem gelungen; auch im Sommer brauchte man aus dem nächstgelegenen Dorf viele Stunden, um hierher zu gelangen. Die Zwillinge, die Rückkehr des Janosch, der dreizehnter November – sollte das ein Zufall sein? Alle warteten auf Kovacs Worte.
Der hörte auf zu essen und setzte sich auf den Ofen, angelehnt an den warmen Kamin. Großvater Ferenc reichte ihm eine seiner langen Pfeifen und das Säckchen mit Tabak. Janosch stopfte langsam den Pfeifenkopf, zündete ihn mit einem Holzstück an und zog ein paarmal.
In der Stube war es so still, dass man das Zischen der Öllampendochte hören konnte.
„ Vielen Dank, Bauer, für Speis und Trank“ – sagte Janosch endlich. Obwohl seine Haare weiß und sein Gesicht mit Furchen gepflügt auf ein hohes Alter hinwiesen, klang seine Stimme hell und kräftig, und seine Augen brannten wie Glut im Halbdunkel.
– “Vielen Dank für die Gastfreundschaft. Einen langen Weg habe ich hinter mir, ich wollte hier sein, wenn die Zwillinge geboren werden. Woher ich von diesem Ereignis wusste und wie ich den Schnee überwand, das kann ich euch nicht berichten.
Mein Leben wäre sonst in Gefahr. Ich bin zurückgekommen und werde hier bleiben. Wenn der Frühling kommt, werde ich auf meiner Erde ein Haus bauen und dort wohnen. Jetzt erlaubt mir, Bauer, in die Scheune zu gehen und auszuruhen, da ich sehr müde bin, und auch die Zwillinge brauchen ihre Ruhe.“

Die Versammlung löste sich zögernd auf. Janos unerwartete Rückkehr, die Geburt der Zwillinge, der dreizehnte November, all das erfüllte die Menschen mit abergläubischer Furcht. Alle waren Christen, doch seit Menschengedenken glaubte man in Siebenbürgen an Zauber und Hexen. Die umliegenden Berge und Wälder waren voll von Geistern, die in Tiergestalten herumwanderten und fähig waren, in Menschenleiber einzudringen; in den Schluchten und Grotten wohnten Drachen und Lindwürmer, die unermessliche Schätze argwöhnisch bewachten. Man sprach vom Himmelhohen Birnbaum, dessen Früchte jede Krankheit heilen sollten, und von Wagemutigen, die auf der Suche nach ihm vom Teufel gefressen worden waren. Doch wo dieser Baum wuchs, wusste niemand. Vielleicht sind die Geister von Bären oder Bergadler in den Zwillingen wiedergeboren worden? Fragen über Fragen…
In Erwartung des Frühlings und um sich bei dem Bauern für Obdach und Bewirtung zu bedanken, half Janos Kovac´s auf dem Hof. Er reparierte nicht nur kaputte Schlösser, Pflüge und andere Feldgeräte, sondern nahm eine dampfgetriebene Dreschmaschine in Betrieb. Die meiste Zeit verbrachte er im Stall. Die Pferde wieherten zufrieden, ihre Haut glänzte, man sah, dass Kovacs Obhut ihnen gut tat. Er sprach mit den Rössern wie mit den Menschen, doch keiner wunderte sich. In Ungarn war das Pferd nicht nur ein Freund, es gehörte einfach zur Familie. So war es seit jeher, als die Ungarn noch in den Steppen wohnten.
Kovac´s zweites Steckenpferd waren die Zwillinge. Obwohl sich, nach altem Brauch, ausschließlich die Frauen um die Kinder zu kümmern hatten, wurde Janos Kovacs ihr ständiger Begleiter. Großmutter Ildiko fluchte laut über diese Unanständigkeit, aber der Schmied lies sich nicht beirren und tat das Seine. Unter die Wiege zimmerte er Kufen und zog sie überall mit hin, wo er sich bewegte. Und da er die meiste Zeit im Stall verbrachte, so kann man sagen, dass die Zwilinge mit den Pferden aufwuchsen. Seine Liebe zu den Mädchen wurde von den Dorfbewohnern mit der Sehnsucht nach den eigenen, in der Katastrophe umgekommenen Kindern erklärt.
Doch Janos Kovacs war der einzige im Siebenbürgenland, der die Wahrheit kannte. Aranka und Orsolya waren sein Trost auf dieser Erde, und er brachte den beiden die Sprache der Tiere bei, wie es der Wille der Königin der Nymphen vom Himmelshohen Birnbaum war.
Sie hatte ihm auferlegt, auf die Erde zurückzukehren, in sein Dorf Kaszoningyar, um die Zwillinge in seine Obhut zu nehmen. Obwohl Kovacs die Liebe und den Frieden in dem Königreich der Nymphen wahrlich genossen hatte, beugte er sich dem Befehl der Königin, die ihm während der Wanderung zu dem Himmelshohen Birnbaum das Leben gerettet hatte, als er die lebensspendenden Früchte für seine Frau und Kinder gesucht hatte. Aber diese lebten schon glücklich im Siebten Himmel. Und der Erzengel, Wächter der Sieben Himmelsphären, ließ ihn einen Einblick gewähren.
Und so war Janos Kovacs zurückgekommen auf dem siebenbeinigen, geflügelten Ross, das schneller als die schneeschwangeren Wolken und der Abendfrost war, und war vor dem Haus des Bauers Gabosi unbemerkt gelandet, wo alle so mit der Geburt beschäftigt gewesen waren.
Die Tage vergingen, die Monate vergingen. Die Zwillinge wuchsen rasch und genauso prächtig heran wie ihre Zeitgenossen, obwohl man munkelte, dass sie „anders“ seien. Vielleicht waren sie doch etwas kräftiger, reger, aufmerksamer. Ihre Augen funkelten, pechschwarze Zöpfe fielen auf die Arme, die Gesichter waren braungebrannt von Sonne, Wind und Regen. Man hörte sie mit Schwalben, Kühen, Pferden, Mäusen, sogar Käfern, sprechen. Doch keiner nahm es ihnen ab; andere Kinder lachten sie aus, und die Erwachsenen zeigten ihnen einen Vogel.
Je älter sie wurden, desto kürzer wurde die Zeit für Spiele. Es kamen neue Hausaufgaben auf sie zu. Die Mädchen waren sehr tüchtig und halfen gerne überall mit. Sie fegten mit den Gänseflügeln Haus und Hof; sie tränkten die Pferde, melkten die Kühe und weideten, gemeinsam mit den älteren Geschwistern, die Schafe auf der Alm. Das strenge Klima, die schwere Hofarbeit, das Klettern auf den Felsen, das Sammeln von Beeren, Kräutern und Pilzen, härteten sie ab.
Sie durchstreiften nicht nur das Gebirge und halfen der Mutter, sondern lernten ihre Welt genau kennen. Und sie hatten zwei ausgezeichnete Lehrer dabei – Opa Ferenc und Janos Kovacs.
Im Hause Gabosi gab es, außer der Bibel, alte, schon vergilbte Zeitschriften, diverse Bauernkalender und sogar ein Kochbuch. Das waren die Wissensquellen für Orsolya, Aranka und ihre Geschwister. Opa Ferenc bemühte sich redlich, allen Kinder Lesen und Rechnen beizubringen.
Die Zwillinge erwiesen sich als erstaunlich lernfähig. Im Alter von fünf Jahren hatten sie schon ihre Geschwister überflügelt.
An die Stelle des alten, durch die Flut vernichteten Anwesens, baute sich Janos Kovacs eine kleine Hütte. Den Schmiedeberuf hängte er an den Nagel. Er half den anderen Dorfbewohnern bei den täglichen Arbeiten, doch vor allem widmete er jede freie Minute Orsolya und Aranka. Er kümmerte sich um sie und wurde zu ihrem Schatten. Die Mädchen hingen an ihm, da er die Sprache der Tiere kannte und ihnen die Geheimnisse der Natur offenbarte.
Er lehrte sie die Kraft der Kräuter, die Heilkraft der Bäume, der Steine und Felsen kennen. Gemeinsam durchwanderten sie kniehohe Moraste, voll von Blutegeln und Mücken; gingen durch halshohen Schnee; kletterten auf steile, bemooste Wände, übersät von scharfen Steinen; durchquerten hohe Gebirgspässe, um dorthin zu gelangen, wo die Familie des Steinadlers wohnte und der Bär seine Höhle hatte; sie wateten durch Bäche, wo sich Forellen versteckten und Krebse im Krebsgang krochen; durchstreiften die Täler, wo Murmeltiere huschten und Steinböcke sprangen; beobachteten das Leben der Ameisen, der Spechte und schauten zu, wenn der Falke das Kaninchen fing; sie spürten die Winde und den Lauf der Wolken und lernten das Wetter vorauszusagen – ob sonnige Tage, ob Gewitter voll Regen oder Schnee zu erwarten wären
So lehrte Janos Kovacs die Mädchen, die Welt zu lieben und zu achten.
Doch über den Himmelshohen Birnbaum schwieg er.
Die Zwillinge wurden erwachsen. Man beäugte sie im Dorfe inzwischen nicht mehr, sondern brachte ihnen viel Achtung entgegen, da sie imstande waren, viele Dorfbewohner von ihren Krankheiten zu heilen. Auch kranke Tiere wussten sie zu pflegen – auch ein gebrochenes Kuh– oder Schafsbein vermochten sie zu richten.
Doch der Großvater bereitete ihnen Sorgen. Er blieb immer öfter auf dem Ofen liegen. Geplagt von Schmerzen, die seine Hände krümmten, konnte er nicht mehr seiner Lieblingsbeschäftigung nachgehen – dem Schnitzen von Stöcken, die Bauer Gabosi oft auf den umliegenden Märkten verkauft hatte. Großvater hatte selbst mehrere davon: einige für den Alltag, und andere für die Feiertage.
Nur einen außergewöhnlichen, der auf dem Ofen hing, lies er niemanden anfassen, nicht einmal die Zwillinge. Warum? Das blieb Großvaters Geheimnis.
Keine Medizin, weder Kräuterbäder, Murmeltier- oder Bärensalben, weder Janos Kovacs’ Besprechungen noch Gebete der Nächsten, vermochten ihm zu helfen. Der Großvater bereitete sich auf den Tod vor.
Orsolya und Aranka waren verzweifelt und baten sogar die Tiere und Vögel um Hilfe. Doch keiner wusste Rat – und Opa Ferenc wurde von Tag zu Tag schwächer.
Eines Sommernachmittags kamen die Zwillinge auf der Rückkehr vom Forellenfang, bei Janosch vorbei. Im Schatten der Eiche im Garten, als sie die, sehr schmackhaft vorbereitete, Fischsuppe gegessen hatten, hörten sie Janoschs Erzählung zu. Er offenbarte den beiden sein Geheimnis. Er sprach von der Reise zum Himmelshohen Birnbaum und seiner Suche nach den Früchten des Lebens. Die Mädchen wurden murcksmäuschenstill, ergriffen von der Ungewöhnlichkeit der Geschichte. Es fing schon an zu dämmern, als Janosch, das Gesicht in den Händen vergraben, sichtlich erschöpft, seine Geschichte beendete. Orsolya und Aranka schmiegten sich an den Mann, um ihn zu trösten und zu zeigen, wie nah er ihnen war. Jetzt begriffen die Zwillinge, dass die einzige Rettung für den Großvater die Früchte des Lebens sein könnten. Sie waren zum Aufbruch bereit, trotz aller Gefahren und Ängste, die sie, nur auf die eigenen
Kräfte bauend, würden überwinden müssen. Doch wie könnten sie aufbrechen ? Die Eltern würden es bestimmt verbieten, und der Großvater würde davon abraten.
Janosch merkte ihre Ängste, ihre Zweifel. Er wusste, dass die Königin der Nymphen ihn auf die Probe stellte. Die Zwillinge waren sein Trost, er liebte sie wie seine eigenen in der Flut verlorenen Kinder. Doch jetzt musste er über den Abschied entscheiden. Wenn sie zurückkommen würden, würde er nicht mehr da sein, sondern bei seinen Nächsten, im Siebten Himmel.
Die Entscheidung aber war schon gefallen. Die Mädchen waren entschlossen, diese abenteuerliche Reise zu wagen. Und keiner konnte sie mehr aufhalten, nicht einmal Janosch selbst.
So musste er sie vorbereiten und ihnen viele Ratschläge erteilen. Doch nicht jedes Geheimnis konnte er preisgeben, da ihm das doch die Königin der Nymphen strengstens verboten hatte.
Sie müssten alleine zurecht kommen, selbst lernen, richtige Schlüsse zu ziehen, die Angst und eigenen Schwächen zu überwinden.
Als über den Wipfeln die rote Sonne herunterfloss und der Schatten der Tannen immer länger wurde, entfachte Janosch Kovacs ein Lagerfeuer und ging zurück in die Hütte.
Nach einer Weile, genau bei Einbruch der Dunkelheit, hörte man rhythmische Trommelschläge, und Janosch trat heraus. Mit einem Spitzhut mit Eulenfeder und Hirschledermantel verkleidet, mit Glöckchen und Krimskrams behangen, kam er an das Feuer heran und fing an zu tanzen, gleichzeitig mit den hölzernen Stöckchen auf die Trommel schlagend. Er stieß dabei kaum verständliche Laute raus. Die Mädchen erkannten den Ruf des Falken, das Heulen des Wolfes, und Schrei eines Schafes, das zerrissen wird.
Plötzlich fing er an zu singen:
Ko – ho –i ke – ho oj – kej –kou
Ko – ho – i … Alle toten Geister,
Wenn ich euch darum bitte,
oj – kei – kou!
Hört auf die verzauberte Stimme meiner Trommel!
Die Bewegungen des Tänzers wurden immer ruhiger, und die Stöcke wirbelten immer langsamer, und seine Stimme wurde farblos und monoton.
Orsolya und Aranka schliefen ein. Und ihnen träumte, dass Janosch mit ihnen sprach.
Er wies den Mädchen den Weg zum Himmelhohen Birnbaum; er zeigte ihnen den über den Gebirgspass wachenden Riesen, in dessen Ohr sich ein Schlüssel befand; er erzählte von dem Teufel über den Wolken, der den Birnbaum hütete und wie man ihn mit Feuer besiegte; er erzählte und erzählte…
Die Mädchen wachten am nächsten Morgen in ihren Betten auf und wunderten sich, wie sie wohl nach Hause gelangt waren. An den Traum konnten sie sich beide jedoch genau erinnern : sie sollten zur Eiche mit der ausgebrannten Höhle gehen, dort einen Stock nehmen mit dem Knauf in Gestalt des Kopfes der Königin der Nymphen; Äxte mit kurzen Griffen, mit Silber beschlagene Bögen aus Knochen, deren Saiten aus Hirschgedärmen gefertigt waren; meterlange, elastische Schnüre; das Glöckchen und den Feueranzünder sowie wundersame Krafttropfen. Dort sollten auch Tiere auf sie warten.
Doch welche, hatte Janosch nicht erwähnt.
Den Eltern konnten sich Orsolya und Aranka bezüglich ihrer Reise zum Himmelhohen Birnbaum nicht offenbaren; sie wären dann sicher in einer dunklen Kammer eingesperrt und streng bewacht worden. Sie gingen zum Opa Ferenc.
Großvater hörte ihnen schweigend zu, weinte , schloss sie in die Arme, küsste und bekreuzigte sie. Dann zeigte er auf den Stock, der an dem Ofen hing und sagte:
„Nehmt ihn mit. Er kann euch in vielen gefährlichen Situationen behilflich sein. Ich weiß, dass ich euch nicht aufhalten kann. Ich warte auf euch.“
Die Zwillinge packten Käse, Pogatsch, Räucherspeck und warme Sachen in die leinenen Säcke und verließen das Haus.

Fortsetzung folgt
Die Bilder – Tibor Jagielski