Wielkanoc na pustyni i w Berlinie

Jacek Slaski

Mail do całej rodziny, niedziela wielkanocna o 6:42

Przesyłamy ucałowania i najlepsze życzenia wielkanocne z Sylvaine Ranch niedaleko miasteczka pustynnego Dolan Springs, Arizona, w połowie drogi między Grand Canyon i Las Vegas. Mamy nasz koszyczek wielkanocny i właśnie wróciliśmy z kościoła katolickiego Our Lady of the Desert, w którym afrykański ksiądz przez dwie godziny prowadził mszę wielkanocną po angielsku i hiszpańsku, a na koniec poświęcił nasz koszyczek. Tak to jest!
Całujemy

Jacek i Anton

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Wir und Elfriede Jelinek

Anne Schmidt & Ewa Maria Slaska

AS:

Ich setze auf einem bevorzugten Platz im Deutschen Theater und könnte mich ohrfeigen:  Ich habe meine Hörgeräte vergessen. Mir wird schnell bewusst, dass ich den Monolog der jungen Schauspielerin nur zu einem Bruchteil verstehen werde, obwohl ich vorn sitze und sie – ganz offensichtlich, aber nicht sichtbar – ein Mikrofon trägt.

Wortspiele, so wird mir trotz meiner Schwerhörigkeit schnell klar, sind auch ein bevorzugtes Stilmittel von Elfriede Jelinek, deren Stück  Angabe der Person  ich gerade konsumiere, ohne ihre Festplatte geklaut zu haben.

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Dwa wiersze wojenne

Mieczysław Węglewicz

***

Drzemie Bóg zmęczony
gdzieś w koronach drzew
a w tych drzewach wiatr mu nuci
ukraiński śpiew

Od Czerwonej Połoniny do Czarnego Morza
gore ziemia Ukrainy
w rzekach łzy i pożar
Dnieprem, Prutem, Czeremuszem płyną łzy i krew
Bóg jest z nami
choć zmęczony
śpi
w koronach drzew
Ale uwierz Nasza Ziemio
my jak klucz żurawi
powrócimy Wolni, wiosną
nikt Cię nie zostawi
Uwierz wolna Ukraino
nie cofniemy słowa
Zbudujemy nasze domy
jeszcze raz od nowa

Tułacze

Jadą i idą,
Nie śpią i płaczą
Na plecach niosą
dolę tułaczą
I smutek w oczach
czarny,
ogromny
Lęk polnej sarny
w sercach bezdomnych
Jadą i idą
Nie śpią i płaczą
Na plecach niosą
dolę tułaczą

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Anne Schmidt

Foto Anne Schmidt

13 Tage nach dem Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine fuhr ich mit 2 Töpfen heißer Linsensuppe zum Berliner Hauptbahnhof, wo sich hunderte von ukrainischen Flüchtlingen vor einer einzigen Essensausgabe drängten.
Ich hatte am Abend vorher in der Berliner Abendschau davon gehört, dass es im Bahnhof keine Möglichkeit gäbe etwas zu kochen. Also brachte ich eine vegetarische und eine Suppe mit Fleisch in noch warmem Zustand mit Hilfe der Freiwilligen unter das hungrige Volk.
Die Töpfe ließ ich gleich da, in der Hoffnung, sie könnten dem spendablen Hotel von der anderen Straßenseite von Nutzen sein.
Nach einem Slalomlauf durch Taschen, Koffer und Rucksäcke mitsamt darauf kauernden Menschen gelangte ich ins Freie am Washington-Platz unter einem azurblauen Himmel.
Der alles beherrschande Cube spiegelte Gebäude, Menschen und Bäume wider, unter ihnen ein kleines Bäumchen mit dichtem braunen Laub. Da ein kleiner Zaun dieses Bäumchen umgibt, war mir sofort klar, dass es das Bäumchen sein muss, dass 2014 angedenk der Opfer vom Maidan, vom damaligen ukrainischen Botschafter in Deutschland und dem ehemaligen deutschen Botschafter in der Ukraine gepflanzt worden war.
Bei näherer Betrachtung sah ich ein Schild an dem Bäumchen, auf dem des größten ukrainischen Dichters gedacht wird.
Mir ist sein Name entfallen, aber er ist es sicherlich wert, bei dem nächsten Ausflug ins Regierungsviertel dieses umzänte Bäumchen am Spreeufer gegenüber vom Cube aufzusuchen und den gelb-blauen Bändern an seinen Ästen noch die eigenen hizuzufügen.

***

Autorin hat ihre Angaben ein paar Tage später ergänzt: Es ist Taras Szewczenko Baum. Taras Hryhorowytsch Schewtschenko (ukrainisch Тарас Григорович Шевченко, wiss. Transliteration Taras Hryhorovyč Ševčenko; * 25. Februar / 9. März 1814; † 26. Februar / 10. März 1861) war Maler und der bedeutendste ukrainische Lyriker. War so wichtig wie in Deutschland Goethe und in Polen – Mickiewicz.

Blutbrüder (9)

Anne Schmidt

15. Jahnke und Tuncay

 Jahnke und Tuncay überlegen, wie sie Kai aus seiner Lethargie holen können. Kai soll einer der wichtigsten Belastungszeugen gegen den pädophilen Lehrer Krause sein, der nach einem Jahr Therapie wieder rückfällig geworden ist.

Einer seiner Schüler hat ihn angezeigt, aber Krause bestreitet natürlich alles.

Um die Folgen seines Missbrauchs und die Perfidie seiner Vorgehensweise deutlich zu machen, hat die Staatsanwaltschaft um die Aussage früherer Pflegekinder vor Gericht gebeten. Bei ihrer Recherche sind sie auf Kais Namen gestoßen, dessen Kölner Verbrechen in den juristischen Kreisen Berlins nicht bekannt war, bzw. nicht in Zusammenhang gebracht wurde mit dem früheren Prozess gegen Krause.

Jahnke und Tuncay wissen, dass das Kölner Urteil gegen Kai durch diesen Prozess zwar nicht revidiert werden kann, aber sie hoffen, dass die Aufdeckung der Ursachen für Kais Tat, ihm sein menschliches Gesicht wiedergeben wird. Sie hoffen, dass er von den Medien vom blutrünstigen Monster zum Opfer transformiert werden wird.

Jahnke ist sicher, dass Tuncay Kai zu einer Aussage überreden kann. Er beantragt eine Besuchserlaubnis für Tuncay und verabredet sich für den nächsten Tag mit ihm in Moabit.

Als die beiden Männer die Unterwelt des Archivs verlassen, empfängt sie draussen warmer Sonnenschein.

Die Luft ist schwanger von Frühling.

16. Kais Helden

Kai verdämmert den Tag in seiner Zelle. Ab und zu schaut er in das Taschenbuch von Ringelnatz, das Jahnke ihm mitgebracht hat. Bisher hat er nur die Gedichte gelesen, die in der Schule zur Pflichtlektüre gehörten. Am besten hat ihm die Ballade vom Ritter gefallen, der den Handschuh einer Hofdame aus einem Raubtierzwinger holt, ihn der hochnäsigen Dame hinwirft und stolz zu der empathiefreien Frau, die ihren Körper als Preis angeboten hat, sagt: “Den Dank, Dame, begehr ich nicht.”

Diese Haltung findet Kai stark und bewundernswert.  Er hat sich oft das Szenario vorgestellt, die Manege, in die die Tiger und Leoparden hineinschleichen, wie der Löwe drohend seinen Rachen öffnet und brüllt, um den Wildkatzen zu zeigen, wer das Sagen hat. Kai wäre gern so mutig wie dieser Ritter, der um seiner Ehre willen sein Leben aufs Spiel setzt.

Ringelnatz hat für Kai eine andere Bedeutung. Die meisten Gedichte von ihm  heitern ihn auf; sie handeln von Liebe, kleinen und großen Tragödien im Alltagsleben und skurrilen Figuren. Trotz aller Armut, allen Unglücks funkelt immer ein bisschen Humor durch, ein Schalk, der das ganze Elend erträglich macht.

Um sein Gehirn zu trainieren, versucht Kai die  Gedichte, die er besonders mag, auswendig zu lernen.

17. Besuch von Herrn Tuncay

Herr Tuncay sitzt allein mit Kai im Besucherzimmer. Er legt Kai eine Hand auf den Arm und versucht ihm in die Augen zu schauen. Kai rückt von ihm ab und fixiert einen Punkt auf dem Tisch.

“Kai, was Du getan hast, ist eine Folge von dem Missbrauch durch Deinen Lehrer. Er hat Dich kaputt gemacht und er macht weiterhin Jungs kaputt, wenn keiner gegen ihn aussagt; willst Du das? Du hast damals im Prozess geschwiegen, aber jetzt musst Du aussagen gegen ihn. Der Kerl muss aus dem Verkehr gezogen werden und zwar endgültig. Du bist nicht mehr abhängig von ihm und Du bist ihm zu nichts verpflichtet. Du bist durch ihn ins Unglück gestürzt worden und hast nicht nur Deine Ehre verloren, sondern auch jegliches Selbstwertgefühl. Durch Deine Aussage könntest Du Dein Image aufbessern, denn bisher denken die Menschen, Du hättest aus reiner Mordlust jemanden getötet, aber vor dem Hintergrund Deines Missbrauchs werden die Leute Deine Tat besser verstehen. Denk an die armen Jungs, die er nach Dir von sich abhängig gemacht hat und die er auch in Zukunft mit Versprechungen und großzügigen Angeboten in seine Wohnung oder sogar in seine Pflegschaft locken wird, wenn er nicht gestoppt wird.”

Kai, der seit einem Jahr nicht mehr in zusammenhängenden Sätzen geredet hat, seufzt laut und schaut Tuncay endlich an. Der spürt, dass er Kais Apathie durchbrochen hat und bietet ihm an, mit ihm in einer Art Rollenspiel die wahrscheinlichen Fragen vor Gericht vorwegzunehmen und die Antworten darauf einzuüben.

Kais Gesicht hellt sich auf. In seinem Kopf formt sich das Bild vom Ritter, der furchtlos die Arena mit den wilden Tieren betritt. Ja, er will der tapfere Ritter sein, der dem bösartigen Ungeheuer Krause die Stirn bietet und dem Richter alle Fragen beantwortet. Er wird seine Scham und seine Angst überwinden und durch seine Aussage das Schwein, das das Leben vieler Jungen zerstört hat, zur Strecke bringen.

Kai schaut Tuncay entschlossen in die Augen: “Ich werde alles sagen.”

18. Der Prozess

In den zwei Verhandlungstagen, die für den Prozess angesetzt sind, wird viel schmutzige Wäsche gewaschen.

Der Schüler, der Krause angezeigt hat, wirkt im Zeugenstand genauso verwirrt und verschüchtert wie Arne damals, aber er hält im Kreuzverhör stand. Das Gericht hat sich vorbehalten, noch weitere Zeugenaufzurufen, beschränkt sich auf Kai als Nebenkläger.

Als Kai in den Saal kommt, trägt er Handfesseln, denn er ist, wie alle Welt weiss, ein gefährlicher Mörder. Genau das soll Krause visuell wahrnehmen nach Meinung des Richters; deshalb beginnt er seine Befragung mit der Bluttat in Köln.

Krause soll vor Augen geführt werden, welche Konsequenzen seine Vergewaltigung eines jungen Lebens haben kann und tatsächlich gehabt hat. Er soll ausführlich damit konfrontiert werden, dass eines seiner Opfer zum Mörder wurde.

Kai antwortet laut und  klar auf die Fragen des Richters. Er sieht während der gesamten Vernehmung Krause nicht an, nicht aus Angst sondern aus Abscheu. Da Krause vor zwei Jahren nur wegen des Missbrauchs von Arne verurteilt wurde, aber nicht für den an Kai, bezieht sich das Urteil auf einen Fall, der zwar alt ist, aber noch nicht abgeurteilt wurde und ist dementsprechend hart.

Krause wird zu 12 Jahren Gefängnis und einer mehrjährigen Therapie verurteilt.

Kai empfindet keine Freude über dieses Urteil, aber eine gewisse Genugtuung und Erleichterung. Er hat noch die Chance, sich von seinen früheren Mitschülern und von Tuncay und Jahnke zu verabschieden, bevor er in den Gefangenentransporter steigen muss.

Seine Mutter ist zum Prozess nicht erschienen, obwohl sie benachrichtigt wurde. Wahrscheinlich wäre es für ihr armes kleines Herz zu belastend gewesen, ihrem Mörderkind gegenüberzustehen.

Blutbrüder (8)

Anne Schmidt

13. Akten aus Köln

 Jahnke hat inzwischen die angeforderten Akten aus Köln bekommen. Er sitzt im Archiv und liest. Was er liest, lässt ihm das Blut in den Adern gefrieren.

Er setzt immer wieder ab, putzt die Gläser seiner Brille oder macht draussen eine Zigarettenpause.  Ihm wird bald klar, dass dieser schnächtige, schüchterne Junge eine solche Tat nur unter Drogeneinfluss begangen haben kann, aber davon steht nichts im Protokoll. Wahrscheinlich haben die Fahnder damals keine Blutkontrolle veranlasst und keinen Psychologen zur sofortigen Erstellung eines psychologischen Gutachtens hinzuziehen lassen. 

Für sie war Kai ein rachsüchtiger und blutrünstiger Gewalttäter und damit war eine weitere Analyse des Falles überflüssig. Nach fünf Seiten Horror ist Jahnkes Aufnahmekapazität erschöpft. Er beschließt, von zu Hause Herrn Tuncay anzurufen.

Am nächsten Tag sitzen Erol Tuncay und  Rudi Jahnke zusammen in der Leseecke des gerichtlichen Archivs. Tuncay hatte von dem Mordfall der Mordbrüder in Köln gehört und gelesen, aber eine Verfolgung der Ereignisse dort aufgegeben.

Als Kai das erste Mal nicht zum Kreisgespräch erschienen war, hatten die Kumpel in der WG ihm erzählt, Kai sei zu seinem Bruder nach Köln gefahren. Der Bruder sei mit seiner Baskettballgruppe dort in einem Camp.

Tuncay hatte sich mit dieser Erklärung zufrieden gegeben, obwohl es ihn wurmte, dass Kai sich bei ihm nicht abgemeldet hatte. Der Bericht in der Zeitung, den er wenige Tage später las, verunsicherte ihn so sehr, dass er versuchte, Kontakt zur Polizei in Köln aufzunehmen.

Dieser kam jedoch nie richtig zustande, weil die Kollegen in Köln wohl glaubten, einen glasklaren Fall vor sich zu haben: Zwei Stricher aus Berlin haben einen Freier brutal abgeschlachtet und sich danach auf den Weg nach Holland gemacht. Das war die Aussage, die Tuncay von der Polizei in Köln erhielt.

Jetzt liest Tuncay die Einzelheiten nach und auch ihm ist sofort klar, dass zumindest Kai unter Drogeneinfluss gestanden haben musste.

14. Panik

Kai erwacht mit einem Schrei. Er liegt benommen auf seiner Pritsche und sieht um sich herum Blut, viel Blut. Ein Mann liegt auf seinem Bruder, ein Bär von einem Mann;  er tut seinem Bruder so weh , so weh, wie Lehrer Krause ihm getan hat. Sein Bruder jammert unter den Stößen, die dieser Bär in ihn hineinrammt; Olli kann sich nicht wehren, denn seine Hände sind an die Bettpfosten gefesselt und seine Beine verschwinden unter dem Koloss. 

Kai rüttelt den Bären an der Schulter, aber der schüttelt ihn ab wie Fliegenschiss. Kai sieht sich panisch nach einem Instrument um, mit dem er den Bären mehr als zwicken kann. Er sieht eine Schere, eine kleine Nagelschere. Er klappt sie auf und sticht den Mann in die Schulter; doch der scheint nichts zu spüren; er hört nicht auf, in Olli hineinzustoßen und Kai sticht immer wieder zu. Der Koloss schnaubt, lässt aber nicht von Olli ab.  Der kann nur grunzen, denn sein Mund ist mit einem Pflaster verklebt. Da stößt Kai die Schere mit voller Wucht in den Hals des Peinigers unterhalb des rechten Ohres.   

Ein Schwall von Blut spritzt aus dem Loch. Der Mann sackt zusammen und röchelt. Jetzt kann ihn Kai mit einiger Anstrengung von seinem Bruder rollen.

Er schneidet die Fesseln an den Händen durch und reisst Olli das Pflaster vom Mund. Ein unheimlicher Laut, der tief aus Ollis Innerem zu kommen scheint, entringt sich seiner Kehle, gefolgt von heftigem Schluchzen. Ollis Handgelenke bluten und als er sich mühsam vom Bett rollt, sieht Kai mit Entsetzen seinen blutenden After. Er weiss, dass er Olli in dieser Verfassung kaum zu einer schnellen Flucht wird bewegen können. Aber er hat ein paar von den Schmerzpillen dabei, die er an Stelle von Crack aus der Berliner Drogenszene mitgebracht hat. Sie helfen nicht nur gegen Schmerzen, sondern putschen auch auf, machen übermütig und high. Er legt seinem Bruder gleich drei davon auf die Zunge, kippt ein Glas Wasser nach und säubert, während Olli sich langsam erholt, seine Wunden von Blut.  Dann nimmt er selber eine der Pillen, stellte seinen Bruder auf die Füße und hilft ihm beim Anziehen.

Kai drängt zur Eile, denn es kann jeder Zeit jemand aus dem Basketball-Team an die Tür klopfen. Olli zieht seine Dickie hoch, die weit genug ist, um nicht auf die schmerzende Stelle zu drücken. Kai zieht noch Ollis basecap unter dem schlaffen Körper hervor, der in einer riesigen Blutlache auf dem Boden liegt.

Kai öffnet die Augen, um den inneren Film zu beenden, aber es gelingt ihm nicht. Niemals wird er sich von diesen Bildern befreien können. Seine Strafe sind nicht die zehn Jahre Jugendarrest, zu denen er verurteilt wurde, sondern die ständige Gegenwart dieser Bilder in seinem Bewusstsein.

Niemand hatte ihn vor Gericht nach seinem Motiv gefragt, denn das lag augenscheinlich offen zutage: Mordlust und Rache. Seine Vergangenheit hatte niemanden in Köln interessiert.

Kai setzt sich aufrecht auf seine Pritsche, um die Reste des Albtraumes aus sich herauszuschütteln. Er fragt sich zum wiederholten Male, warum er hier ist. Warum haben sie ihn nach Berlin gebracht?

Er wartet auf Jahnke.

Fortsetzung in einer Woche

Blutbrüder (7)

Anne Schmidt

11. Der Psychologe

Jahnke nimmt am nächsten Tag den 2. Aktenordner zur Hand. Der Psychologe, Herr Tuncay, hat einen langen Bericht geschrieben. Er hatte verschiedene Tests mit Arne gemacht, denn sagen wollte der Junge nichts. Erst als Tuncay ihm die Analyse  der Tests mitteilte, hatte Arne sich ihm unter Tränen offenbart. Tuncay veranlasste, dass Arne nicht vor Gericht aussagen musste, sondern sein Bericht in der Verhandlung als Ersatz anerkannt wurde.

Felix und Kai verweigerten die Aussage. Aufgrund des Berichtes wurde Krause zur verpflichtenden Teilnahme an einer Therapie und zu einem Wechsel der Schule verurteilt. Ein Berufsverbot konnte, nach Meinung der Richter, nicht ausgesprochen werden, da kein angebliches Opfer vor Gericht aussagen wollte.

Als Kai aus dem kühlen Gerichtsgebäude in die knallige Sonne draussen trat, wartete Tuncay schon auf ihn. “Schade, dass Du nicht ausgesagt hast. Ich bin sicher, Dein Lehrer hat Dich ausgenutzt. Arne hat mir genug erzählt, um zu wissen, dass Du sein Hauptopfer warst. Ich habe ein Zimmer für Dich in einer betreuten Wohngemeinschaft. Wenn Du willst, kannst Du sofort mit mir hingehen.”

Kai sah Krause aus dem Gerichtsgebäude kommen und ihm heimlich einen Wink geben. Er drehte sich abrupt zu Tuncay und folgte ihm nach Neukölln. Kai bekam das Zimmer eines Jungen, der mit Crack erwischt worden war. Weil er als Wiederholungstäter galt, wurde er zum Entzug in eine Klinik eingewiesen. Kai betrat das Zimmer mit Widerwillen: Alles war ungepflegt und schmutzig. Er musste stundenlang lüften, um den abgestandenen Geruch zu verdrängen. Die drei anderen Jungs in der WG liefen nur mit Basecaps auf ihren kurz geschorenen Schädeln herum, ließen ihre Jeans bis auf die Po-Ritze hängen und begrüßten sich gegenseitig im “Gangsta-Slang”. Sie sprachen nur in Halbsätzen, nie über Probleme oder Gefühle, sondern versuchten in Sprache, Mimik und Gestik ihre Coolness zum Ausdruck zu bringen.

Einmal in der Woche gab es ein Kreisgespräch mit Herrn Tuncay oder einem anderen Psychologen. Dann saßen die Jungs ernst und auffällig harmlos blickend auf ihren Stühlen und erzählten – mal leise und stockend, mal laut und aufbegehrend von kleinen Scharmützeln in der Schule.

Von ihren nächtlichen Ausflügen erzählten sie natürlich nie. Kai passte sich bald seiner unmittelbaren  Umgebung an, in Aussehen, Sprache und Verhalten. 

12. Abwärts

Er hatte sich seiner Umgebung so gut angepasst, dass auch er nachts auf den Straßen von Neukölln herumlungerte. Gegen die Angst, die ihn manchmal überfiel, und gegen die würgenden Erinnerungen brauchte er ein bisschen Kokain; von Koks war er bei Krause schon fast abhängig geworden, aber er konnte es sich nicht leisten, wenn er nicht auf den Strich ging. Am einfachsten und billigsten war Crack zu besorgen. Seine WG-Kumpel kannten zwei Tschechen, die das Zeug in ihrer Küche mixten. Es war so billig, dass er es von seinem Taschengeld kaufen konnte, wenn er sich sonst nichts Aussergewöhnliches leistete.

Inzwischen hatte er die 10. Klassenstufe der Gesamtschule abgeschlossen, aber ohne “Mittleren Schulabschluss”. Sein sehr bemühter Arbeitslehre-Lehrer hatte ihn überredet, sich an einem OSZ anzumelden, um die “Mittlere Reife” nachzuholen.

Da Kai keinen Plan für sein weiteres Leben hatte, und das Sozialamt die Kosten für seinen Lebensunterhalt übernahm, solange er sich in einer schulischen Ausbildung befand, willigte er ein. Er ließ sich eine Lebensbahn hinuntertreiben, von der er nicht wusste, wo wie sie enden würde.

Er döste in den Tag hinein und aus dem Tag wieder hinaus in eine von Monstern bedrohte Nacht.

Fortsetzung in einer Woche

Blutbrüder (6)

Anne Schmidt

9. Jahnke

Jahnke schiebt Kai die Banane zu. Er malt Spiralen in sein Heft und ist so vertieft in seine inneren Bilder von Drogenmissbrauch und dessen Wirkung auf Willenskraft und Skrupelabbau, dass Kai schon die halbe Banane gegessen hat, als Jahnke endlich fragt: “Hast Du Dich von Deinen Freunden verraten gefühlt?” Kais Kopf sinkt auf die Tischplatte und er beginnt mit einem dumpfen Laut, der aus seinem tiefsten Innern zu kommen scheint, zu weinen.

Jahnke schreckt zurück. Er hat noch nie einen Delinquenten zusammenbrechen sehen, auch nicht bei einer niederschmetternden Urteilsverkündung.

Hilflos streckt er eine Hand aus, um Kais freie Hand zu ergreifen, besinnt sich aber darauf, dass er ein Mann ist und jede Berührung von ihm unabsehbare Folgen haben könnte. Er beschränkt sich darauf, ein Taschentuch zu Kai hinüber zu schieben. Er versucht, sich vorzustellen, wie enttäuscht ein Mensch sein muss, wenn er sich mit seinem tiefsten Kummer an niemanden wenden kann, wenn er erkennen muss, dass auch seine angeblichen Freunde nichts von seinen Problemen wissen wollen. Vielleicht hat ihm sogar jemand zu verstehen gegeben, dass er selber an seinem Zustand schuld sei, dass er nur nach Hause zu gehen brauche, um seine Abhängigkeit zu beenden. Aber hätte Kai in seine unwohnliche Laube zurückkehren können, ohne die Erlaubnis des Jugendamtes?

Jahnke steht auf und klopft an die Tür. Kai schneuzt sich und wischt sich die Tränen ab. Er würdigt das letzte Stück Banane keines Blickes, sondern lässt sich willenlos von Rothers, der nach dem Klopfen eingetreten ist, die Hände ebenso willenlos auf dem Rücken fesseln.

Jahnke kramt in seiner Tasche und fördert ein Taschenbuch zutage; es ist ein Gedichtband mit tragisch-komischen Gedichten von Ringelnatz; Jahnke hatte lange überlegt, wieviel Intellekt oder Tragik er dem Jungen zutrauen könne, war von Hesse zu Trakl geschwankt, hatte “Der junge Törless” in die Hand genommen und die Erinnerungen eines Schülers aus der Odenwaldschule. Aber der Zweifel, dass ein Roman über Missbrauch seinen jungen Mandanten erleichtern könne, hatte ihn zu den Gedichten aus Ringelnatz’ Berliner Zeit greifen lassen.

Als Jahnke draussen in seinem Wagen sitzt, nimmt er sich vor, Kais frühere Freunde zu besuchen. Einer von ihnen hatte damals seiner Mutter von den Annäherungsversuchen seines Lehrers erzählt. Er war zum Prozess gekommen und Krause war zu einem Jahr auf Bewährung und zu einer Therapie verurteilt worden. Ausserdem wurde er an eine Schule in einem anderen Bezirk versetzt.

In Jahnkes Büro wartet nur seine Sekretärin auf ihn, sodass ihn nichts daran hindert, gleich die nötigen Anrufe zu tätigen, um  Akteneinsicht zu erhalten.

Im Archiv des Gerichtes sind schon die angeforderten Akten bereitgelegt, als Jahnke nach einem  frugalen Mittagessen dort ankommt. Er darf sie nicht mitnehmen, aber inzwischen gibt es eine lichtdurchflutete Leseecke mit bequemen Sesseln im Archiv. Er dankt kurz der freundlichen Archivarin und lässt sich gedankenverloren in einen der Sessel fallen. Die 1. Akte enthält hauptsächlich sachdienliche Hinweise zur Klägerin, ihrem minderjährigen Sohn Arne, dem Angeklagten und den zwei Freunden von Arne, Felix und Kai. Die Anklage, die auf sexuellen Missbrauch lautete, wurde vom Angeklagten vehement zurückgewiesen. Im Gegenteil: Der Anwalt des Angeklagten beschuldigte die Mutter von Arne, sich an Krause rächen zu wollen, da er ihrem Sohn nicht die gewünschte Zeugniszensur in Mathematik gegeben habe. Da Arne selbst nicht sehr gesprächig war, sich sogar in Widersprüche verstrickte, entschied der Richter, den Prozess zu unterbrechen und Arne von einem Psychologen befragen zu lassen. Bevor der Psychologe einen Bericht erstattet habe, wollte der Richter auch die zwei Zeugen nicht vernehmen. Herr Krause wurde, da keine Fluchtgefahr bestand, bis zur Fortsrtzung des Prozesses nach Hause entlassen.

Das Jugendamt wurde von dem Prozess unterrichtet und gebeten, Kai einen Platz in einer betreuten Wohngemeinschaft zu besorgen.

Da im Moment alle betreuten WGs voll waren, musste Kai zurück in Krauses Wohnung gehen, denn noch war Krauses Schuld nicht bewiesen.

10. Krauses Frau

Krauses Frau, die esoterische Kurse gab, sollte sich um Kai kümmern. Kai hätte beinahe laut gelacht, als er von dieser Scheinlösung hörte, denn bisher hatte diese Frau sich nie für das Treiben ihres Mannes in der gemeinsamen Wohnung interessiert. Kai roch immer die Haschischwolken, die aus ihrem Zimmer kamen und sah sie manchmal mit glasigem Blick in der Küche hantieren. Diese Frau als Schutzpatronin für ihn auszusuchen, dünkte ihn mehr als ein Treppenwitz. Als Krause mit Kai die Wohnung betrat, war sie gerade in der Küche. “Wie war`s?”, fragte sie mit unstetem Blick.

Krause erklärte ihr mit süffisantem Grinsen, welche Verantwortung nun auf ihr laste und fügte hinzu: “Keine Angst, ich mach das schon. Gib uns etwas von Deinem Haschisch ab, dann wird Kai ein bisschen entspannter.” Da Kai nicht rauchte, fing er nach dem ersten Zug heftig an zu husten. Krause amüsierte sich, klopfte ihm auf den Rücken und meinte: “Koks zu sniffen ist einfacher, aber im Moment habe ich keines da.”

Kai wollte heimlich in Carlas Zimmer schleichen, aber Krause hielt ihn schmerzhaft am Arm fest. “Wir zwei machen jetzt eine kurze Strategiebesprechung. Du willst doch sicher nicht, dass ich in den Knast komme, oder?” Kai schüttelte den Kopf. Er wollte auf keinen Fall vor Gericht aussagen und seine Willfährigkeit zugeben müssen. Er würde kein Sterbenswörtchen über den sexuellen Missbrauch sagen, aber die Aussage von Felix musste er beeinflussen.

Felix hatte die Annäherungen von Krause immer geduldet und Kai vermutete, dass er schwul war. Aber Felix durfte nichts von den Umarmungen und Küssen verraten, weil dann seine eigene Aussage unglaubwürdig sein würde. Mit der Ausrede, Felix instruieren zu müssen, verschwand Kai mit leichtem Gepäck aus der Wohnung.

Fortsetzung in einer Woche

Blutbrüder (5)

Anne Schmidt

8. Der Anwalt   

Kai lässt sich auf den Boden sinken, als sich ein Schlüssel im Türschloss dreht. Dabei verliert er einen Turnschuh, weil die Schnürsenkel fehlen; er musste sie abgeben wegen Suizidgefahr. Er kann sich zwar nicht vorstellen, wie man sich mit Schürsenkeln erhängen kann, aber in total depressivem Zustand sollen es sogar achtzig Kilo schwere Männer geschafft haben.

Rothers, der Wärter, den Kai am sympathischsten findet, kommt herein, grüßt kurz und fesselt Kais Hände auf dem Rücken. “Jahnke wartet,” sagt er, nimmt Kais Arm und schließt die Zellentür ab. Jetzt beginnt das Spießrutenlaufen, vorbei an den geifernden, schreienden und gestikulierenden Männern, die Kais Geschichte vom Personal oder von Besuchern erfahren und weiter verbreitet haben.

Der Schlächter mit dem Engelsgesicht oder das Mörderbübchen nennen sie ihn, wenn er an ihren Türen vorbeischleicht. Sie machen obszöne Bemerkungen, stecken ihre Zungen aus den Gitterfenstern oder sabbern ihre Finger ab. Kai versucht, nicht hinzuschauen, setzt einen Fuß vorsichtig vor den anderen, wenn er die Trppe hinuntergeht und zählt die Stufen.

Im Vernehmungsraum sitzt Jahnke. An seiner Kleidung erkennt Kai, dass der Frühling draussen Einzug gehalten haben muss: Jahnke trägt eine fliederfarbene Krawatte zum gelben Sakko. Er schaut geflissen freundlich von seinem Laptop auf, als Kai und Rothers eintreten.

Kai lässt sich ohne Aufforderung auf den Stuhl jenseits des Tisches fallen und stößt mit seinen Händen an die Rückenlehne. Jahnke nimmt aus seiner Aktentasche ein eingepacktes Käsebrötchen und eine Banane. “Für dich,” sagt er jovial und schiebt die Schrippe zu Kai hinüber. “Wahrscheinlich hast Du wieder nicht gefrühstückt, oder?” Kai nickt, obwohl ihm diese Empathie unangenehm ist. “Keine Angst,” sagt der Anwalt”, ich will nichts von Dir ausser ehrliche Antworten. Am besten ist es vielleicht, wenn ich Fragen stelle, während Du die Schrippe isst. Du beantwortest meine Fragen mit Kopfnicken oder Kopfschütteln”. Kai nickt, merkt, dass er das Brötchen nicht greifen kann und wirft einen hilflosen Blick auf den Wärter.

“Nehmen Sie ihm bitte die Handschellen ab und warten Sie draussen, bis wir hier fertig sind.”   Rothers schließt grummelnd die Handschellen auf und geht geräuschvoll hinaus.

Der Anwalt wartet, bis Kai den ersten Bissen geschluckt hat. Er zieht ein Heft aus der Tasche und beginnt seine Fragen und Kais gestische Antworten in einer Art Kurzschrift zu notieren.

“Deine Mutter hatte nicht viel Zeit für Dich und Deinen Bruder?”  Kai nickt.

“Am Anfang bist Du gern zu Herrn Krause gegangen?” Kai nickt wieder.

“Zuerst fandest Du es angenehm, dass Herr Krause besonders nett zu Dir war?” Kai schüttelt entrüstet den Kopf.

“Du bist nur zu ihm gegangen, weil Du bei ihm den Computer benutzen konntest?” Kai bestätigt. “Du warst nach einigen Wochen spielsüchtig?”

Kai nickt zögernd. Er kaut ganz langsam und nimmt nur kleine Bissen, damit er möglichst lange schweigen kann. Die Frage, warum er – trotz der sexuellen Belästigungen durch Krause – immer wieder zu ihm gegangen und schließlich sogar zu ihm  gezogen ist, kann und will er nicht beantworten.

Jahnke fragt weiter. “Hast Du Drogen genommen?” Na klar, ohne Kokain hätte er die schleimigen Küsse und die schmerzhaften Penetrationen gar nicht ausgehalten. Das Koks hat Krause besorgt, als er die Leidensmiene seines “Schützlings” nicht mehr ertragen konnte und sich etwas mehr Leidenschaft wünschte.

“Sind auch andere Jungen zum Computerspielen gekommen?” Kai nickt. “Hat Krause die anderen auch unsittlich berührt?” Kai nickt wieder.

Jahnke ist irritiert. “Haben die anderen sich das gefallen lassen?” Kai nickt. Jahnke ist sprachlos. “Haben die anderen bemerkt, was Krause mit Dir machte?” Kai zuckt die Schultern. Er hat seinen letzten Bissen runterschlucken müssen; er greift zur rettenden Banane, aber Jahnke zieht sie zurück.

Kai sieht ihn traurig an. Dieses Spiel kennt er. Er senkt den Kopf und schließt Augen und Ohren. Er kann Jahnke nicht erklären, wie enttäuscht er war, als er merkte, dass Felix und Arne kein Zeichen der Erkenntnis von sich gaben, dass sie Andeutungen, die Kai machte, geflissentlich überhörten, dass sie nichts wahrzunehmen vorgaben, wenn sie vor ihren Spielen saßen und sich über jedes überwundene Hindernis ihres Prinzen oder jeden abgeschossenen Panzer lauthals freuten. Die Annäherungen von Krause duldeten sie oder schüttelten sie leichthin ab.

Kai beneidete sie, denn sie konnten nach zwei oder drei Stunden das Spielfeld verlassen und in ihre trauten elterlichen Wohnungen heimkehren.

Fortsetzung in einer Woche

Blutbrüder (4)

Anne Schmidt

6. Gefangen

Draussen, vor der Zellentür, rasselt ein Schlüsselbund und kurz darauf wird ein Tablett mit einem Pappebecher und einem Pappeteller mit zwei geschmierten Marmeladebroten hereingeschoben. “Moin”, schreit der Kalfaktor, der schnell seinen Kopf und seine Hand wieder zurückzieht.

Kai gilt als gefährlich und suizidgefährdet, weshalb ihm nur Geschirr aus Pappe und kein Besteck zusteht. Er hasst die durchgeweichten Weißbrotscheiben, die ihn an das labberige Toastbrot in der Laube erinnern. Nachdem der alte Toaster seine Funktion eingestellt hatte, war kein neuer gekauft worden. Für so eine überflüssige Kleinigkeit hatte seine Mutter kein Geld ausgeben wollen, denn ihrer Meinung nach war Olli schuld am Verglühen des alten Gerätes.

Sie frühstückte immer im Hotel, wo es natürlich die modernsten Küchengeräte gab. Olli und Kai mussten ihre Brote in der Pfanne rösten, wenn sie Toast haben wollten. Seitdem Kai nach der Schule häufig gar nicht nach Hause kam, ließ auch die Mutter sich selten in der Laube blicken. Olli ging inzwischen dreimal in der Woche zum Basketball-Training. Danach übernachtete er oft bei seinem besten Freund, dessen Eltern im Schichtdienst arbeiteten und froh waren, wenn ihr Sohn nachts nicht allein im Haus war.

Kai rollt sich von seiner Pritsche und zieht den Kaffee zu sich heran; er ist sogar aus echten Bohnen und nicht aus Getreide oder Zichorie. Der Kaffee ist sein einziges Elixier in dieser Zelle, die ihn langsam taub und blind macht.

7. Ausgeliefert

Wenn Kai von seinem Anwalt Besuch bekommt, muss er sich redlich mühen, dessen Fragen zu verstehen. Was will dieser Mann von ihm?

Er weiss, was er getan hat und er bereut es. Keiner kann seine Tat verstehen, die ihn und seinen Bruder zu den Mordbrüdern gestempelt hat.

Er will von niemandem Mitleid oder geheucheltes Verständnis. Er will seine Ruhe. Die Fragerei nach seinen Erlebnissen, nach seiner Abhängigkeit von einem gewissen Lehrer wühlen in ihm Schmerz, Ekel und Wut auf.  Er bezweifelt, dass dieser gegelte Anwalt, der ihm als Pflichtverteidiger für die Nebenklage zugeordnet wurde, jemals wird verstehen können, warum er immer wieder freiwillig zu seinem Peiniger zurückgekehrt und auch noch in seine Wohnung gezogen ist.

Seine Mutter hatte, nachdem er längere Zeit nicht nach Hause gekommen war, in Krauses Vorschlag eingewilligt, die Pflegschaft für Kai zu übernehmen.

Sie schien geradezu erleichtert zu sein, die Verantwortung für Kai abgeben zu können.

Als die Formalitäten für diesen Akt im Amt erledigt wurden, sah Kai seine Mutter nach längerer Zeit zum ersten Mal wieder. Sie wirkte jugendlich und fröhlich wie immer und schien seinen angespannten Gesichtsausdruck und seinen flehenden Blick nicht wahrzunehmen. Sie betonte, wie froh sie sei, dass Kai einen Ersatzvater gefunden habe und endlich die starke Hand spüren würde, die ihm immer gefehlt habe. Bei dieser Redewendung hätte Kai beinahe aufgelacht, verzog aber nur gequält das Gesicht. Auch die Beamtin des Jugendamtes schien dieses Mienenspiel nicht wahrzunehmen, denn sie schaute mit abwesendem Blick an Kai vorbei, unterschrieb und stempelte die notwendigen Papiere fast automatisch und wünschte dem aufopferungsvollen Pflegevater viel Erfolg bei seiner verantwortungsvollen Aufgabe.

Kai zieht sich am Zellengitter hoch, um sich abzulenken, die Erinnerungen, die ihn überfluten, zurückzudrängen. Er hört von der anderen Seite einen Mann, der seinen Kopf entdeckt hat, nach ihm rufen und mit der Zunge schnalzen. Kai weiss, dass er das gefundene Objekt für die sexbesessenen Triebtäter wäre.

Die lusthemmenden Pillen, die ihnen verordnet werden, landen meistens im Klo, sodass die Lust der Männer immer unerträglicher und der nächtliche Albdruck immer stärker wird. Kai ist froh, dass er immer allein zum Duschen geführt wird und keinen Sport mit den anderen treiben darf.

Sein Verbrechen war so abscheulich, dass sogar Schwerverbrecher, die doppelt so schwer und um Einiges größer sind als er, vor ihm geschützt werden müssen. Seine Vorzugsbehandlung besteht in Isolation.

Fortsetzung in einer Woche

Blutbrüder (3)

Anne Schmidt

4. Alpträume

Kai erwacht mit einem Schrei; er reisst sich die Decke vom Kopf und weiss nicht, wo er sich befindet.

Er richtet sich abrupt auf zu einem sit-up; sit-ups gehören zu seinem täglichen Fitness-Programm, seitdem er im Gefängnis ist, zuerst in Köln, jetzt in Berlin. Er erinnert sich, dass er selber die Strichliste an die Wand gemalt hat, um nicht, wie in Köln, die zeitliche Orientierung total zu verlieren.

Er lehnt sich erschöpft zurück und versucht, die Erinnerung an den Traum zu verscheuchen; es ist immer der selbe Traum mit geringfügigen Variationen: Ein Mann, der nach Alkohol und Zigarettenrauch stinkt, steckt ihm seine Zunge tief in den Hals. Kai versucht zu schreien, wedelt mit seinen Händen, versucht irgendetwas zu fassen, greift aber immer ins Leere. Um ihn herum sind Menschen, Teenager in seinem Alter. Sie tanzen zu überlauter Musik, niemand versteht den Anderen, aber das ist auch nicht der Sinn diser Party.  Sie feiern das Ende ihrer Klassenreise mit verzweifelter Fröhlichkeit, denn alle würden gern noch bleiben – bis auf ihn. Ihn hat Herr Krause, der einzige Mann auf dieser Party, zu seinem Sexsklaven erkoren, er hat zu parieren, stramm zu stehen, wenn Herr Krause ihm die Hose herunterzieht, sich in Bankstellung zu begeben, wenn Krause sich selber die Hose auszieht.

Kai fühlt im Traum noch den stechenden Schmerz, wenn der Mann in ihn eindringt.   Warum hat er sich nie gegen  Krauser Misshandlungen  zur Wehr gesetzt, ist immer wieder zu ihm hingefahren, hat sich Besserung geloben lassen, die nie eintrat?

Damals, als er das erste Mal in Krauses Wohnung war, hätte ihm dämmern müssen, dass dieser etwas von ihm wollte, was ausserhalb von Kais Vorstellellung von einer normalen Lehrer-Schüler-Beziehung lag. Die Art, wie Krause ihm in die Augen schaute, wie er harmlos seine  Hand auf Kais legte, seinen heissen Atem in Kais Nacken blies, war Kai zuwider, aber er versuchte es zu ignorieren. Alles wirkte wie zufällig, denn Kai saß auf einem Drehstuhl vor einem Computer und Krause stand hinter ihm, um ihm die Funktion der Tastatur zu erklären oder ihm auf dem Bildschirm etwas zu zeigen.

Kai war fasziniert von dem Spiel, das Krause auf den Screen gezaubert hatte, denn er hatte noch nie vor einem Computer gesessen, geschweige denn, an einem gespielt.

Nach diesem ersten Tag war Kai immer wieder zu ihm gefahren, obwohl Krause  zudringlicher wurde, aber Kai traute sich nicht sich zu wehren. Er fürchtete, Krause könne ihn aus der Wohnung werfen und nie wieder zum Spielen einladen. Inzwischen war er geradezu spielsüchtig geworden und wartete während des ganzen Schultages darauf, endlich sein Spiel vom Vortag fortsetzen zu können.  Die anderen Jungen aus seiner Klasse tuschelten über seine Hektik nach Schulschluss und versuchten, aus ihm das Geheimnis seiner Freizeitbeschäftigung herauszufragen.

Felix, sein bisher bester Freund, warf ihm Treuebruch vor und insistierte so lange, bis Kai etwas von Computerspielen murmelte. Damit war ein Damm gebrochen, denn nun wollten alle Mitschüler in der Klasse wissen, wo Kai einen Computer zur Verfügung hatte. Kein Klassenkamerad hatte bisher einen PC zu Hause, aber alle Jungs wünschten sich nichts sehnlicher als vor einem Bildschirm zu sitzen und digitale Menschen kämpfen zu lassen.

5. Hoffnung

Kai musste Felix versprechen, Krause zu fragen, ob er Felix mal mitbringen dürfe. Nach längerer Überlegung fand er die Idee nicht schlecht, denn die Gegenwart von Felix würde Krause vielleicht daran hindern, ihn immer wieder von hinten zu umarmen. ihn in den Nacken zu küssen und ihn zu streicheln.

Krause kannte Felix vom Unterricht und fand es nicht schlecht, dass Felix mitkommen würde; er hatte ihn schon immer sehr anziehend gefunden, wie er Kai mit einem maliziösen Grinsen mitteilte.  Felix erwies sich als gelehriger Schüler und schien die Annäherungen von Krause, die ihm zuteil wurden, nicht unangenehm zu finden. Kai überlegte, ob es an seiner Erziehung lag, dass er Krauses Verhalten nicht normal fand. Hatten die Frauen, die seine Kindheit geprägt hatten, Mutter, Großmutter und Erzieherinnen, ihn vielleicht zu einem Macho gemacht, der männliche Berührungen unangenehm fand?

Wenn Mitschülerinnen ihn knutschten, fand er es zwar albern, weil sie es mit viel Gekicher in der Gruppe taten, aber eklig fand er es nicht.

Felix schien Krauses Annäherungen nicht unangenehm zu finden, wand sich lachend aus dessen Umarmungen und kümmerte sich nicht um Kais gequältes Aufstöhnen, wenn Krause, den sie inzwischen Hotte nennen durften, wieder so zudringlich wurde, dass Kai seine Finger von der  Tastatur nehmen musste.

Fortsetzung in einer Woche