Monika Wrzosek-Müller
Wenn ich mir vorstelle, Polen würde von Russland überfallen, kriege ich richtig Gänsehaut. Die Vorstellung ist aber nicht so absurd, abstrakt und von der Hand zu weisen. Wäre nicht Ukraine ein unabhängiger Staat, der dazwischen, wirklich geografisch existiert, wer weiß, wen es mit Putins imperialen Wahnvorstellungen getroffen hätte. Außerdem, damals als wir die Solidarność gründeten und demonstrierten, wussten wir auch nicht, was als nächstes passieren würde.
Desto mehr macht mich das Schicksal Tausender, nein inzwischen Millionen ukrainischen Flüchtlinge, hauptsächlich Frauen mit Kindern, betroffen. Sie sind in ihrer Wahrnehmung der Situation für kurze Zeit geflohen, langsam aber nach ca. 180 Tagen, also 6 Monaten des Krieges, wird ihnen allmählich klar, dass der Krieg vielleicht noch Jahre dauern könnte. Desto mehr höre ich denen, die ich kenne immer wieder zu, versuche mich mit ihnen zu treffen, beobachte die jungen Frauen mit ihren Kindern im Park, in der U- und S-Bahn, halte den Kontakt zu den Frauen in Warschau aufrecht.
Die jungen Frauen auf dem Foto sehen ganz unterschiedlich aus: die eine mit langen dunklen Haaren umarmt ein ca. 2-jähriges hellblondes Kind, dazwischen zwängt sich ein älterer Junge mit dunklen Haaren und dunklen Augen, sie schauen direkt in die Kamera, dann hinter ihnen zwängt sich noch ein Gesicht einer jungen Frau mit langen dunklen Haaren, von ihr sieht man eigentlich kaum was, sie schaut auch irgendwie in die Ferne. Seitlich, am Bildrand steht eine junge Frau mit helleren Haaren und einem schönen Gesicht mit markanten Backenknochen, sie ist grazil, um nicht zu sagen dünn, sie schaut nach oben, würde ich sagen Richtung Lampe, Decke. Neben ihr sitzt ein Junge mit strohblondem, vollem Haar, der schaut Richtung Boden, so dass das Haar ihm das Gesicht verdeckt. Hinten stehen noch zwei Frauen, eine hält ein Baby im Arm, hat ein grades Pony und langes mittelblondes Haar auch eher helle Augen, die andere ist auffällig schöne, reife Frau mit dunklem schulterlangem Haar und ovalem, offenem Gesicht. Alle tragen lange Hosen, man kann schwer erkennen, sind das Jeans oder eher Stoffhosen und Pullover, manch eine hat auch eine Bluse drunter, das sieht man am herausragenden Kragen, der eher heller als der Pullover ist. Hinter ihnen ragt ein altes Regal, vollgestopft mit Büchern, sie sitzen auf einem ausgezogenen, großen Sofa; eine Momentaufnahme, Warschau, dem 28. 02. 22.
Von diesen vier Frauen in einer Dreizimmerwohnung von ca. 60 m² in Warschau sind nur die eine Frau mit schönem ovalem Gesicht, nennen wir sie Natascha, in der Wohnung mit ihren zwei kleinen Söhnen geblieben; die Jungs gehen in meine alte Schule, sprechen inzwischen sehr gut polnisch und lernen fleißig. Ihre Zeugnisse waren voll von Einsern und der ältere bekam sogar ein Buch für seine besondere Leistungen. Beide Kindern nahmen im Sommer an einem fünf Woche langem Sommerlager teil, der in Warschau stattfand und sie gingen und machten jeden Tag verschiedene Aktivitäten. Es waren 30 Kinder angemeldet, 24-26 kamen regelmäßig, sie sprachen alle polnisch untereinander. Die Mutter besucht einen Polnisch-Kurs und als ausgebildete Krankenschwester wird sie bestimmt eine Stelle bekommen können. Die Familie kann sich glücklich schätzen, denn ihr Mann und Vater war bei der Invasion auf die Ukraine nicht im Land, er arbeitet als Fernfahrer für ein deutsches Unternehmen, also er ist weiterhin beschäftigt, bekommt Geld und muss nicht kämpfen. Die Frau hatte Gewissensbisse, dass sie so privilegiert wären. Die Familie lebte, also meistens die Frau mit den Kindern, in der Nähe von Saporischschja, in einem großen Haus mit Garten. Sie kann sich gut vorstellen, in Polen zu bleiben, in Warschau auch nach der Beendigung des Krieges zu leben.
Eine junge Frau mit dunklen Haaren und schönem ebenmäßigen Gesicht, nennen wir sie Daria, war nach einiger Zeit in Warschau zurück in die Ukraine gegangen; sie wollte ein Visum für Kanada besorgen und zu ihrem Freund aufbrechen. Sie war angeblich englisch Lehrerin, doch mir ist nie gelungen mit ihr nur einen Satz, ein Wort in irgendwelcher Sprache zu wechseln. Sie war sehr scheu und stand immer hinter jemanden. Doch ich weiß, dass sie das Visum bekommen hat und nach Kanada gegangen ist.
Eine Besondere Geschichte gilt der Frau mit dem Pony, die mit dem Baby und dem Jungen mit dem Gesicht nach unten; sie wurden von den anderen auf dem Bahnhof in Lemberg gefunden. Sie logierten dort schon drei Tage und wussten nicht weiter. Am Anfang wurde sie mir vorgestellt als Freundin der Freundin des Bruders der Mutter, doch es stellte sich nach einigen Tagen heraus, dass sie sie gar nicht kannten. Von ihr habe ich nicht einmal den Namen behalten, ich glaube, sie hat sich schon vorgestellt, aber in allgemeiner Aufregung und so vielen neuen Menschen, ist er mir entfallen. Nach einigen Wochen fanden die anderen eine andere Bleibe für sie.
Dann ist da noch diese schöne grazile, junge Frau, nennen wir sie Natalia, die dann letztendlich von Warschau nach Posen umgezogen ist. Sie hat eine neue Arbeitsstelle dort gefunden, wollte der Familie mit den zwei Jungen nicht im Wege stehen. Doch zusammen auf so einem kleinen Raum konnten sie längere Zeit auch nicht aushalten. Sie berichtet mir, dass sie sich in Posen eingelebt hat und ihr die Stadt sogar besser gefällt und sie mehr verdient. Sie kann inzwischen sehr gut Polnisch sprechen und schreiben. Sie wirkt aber trotzdem sehr verloren und einsam. Ihr Vater ist in Kiew als emeritierter Polizist für die Stadtverteidigung der Bodenkräfte zugeteilt, auch ihr Bruder ist in der Ukraine, doch wegen seiner Krankheit nicht einsatzfähig. Ihre ältere Schwester lebt schon länger mit ihrem Mann und zwei Kindern in Slowenien, wo auch ihre Mutter Unterschlupf gefunden hat und sie ständig anruft und androht, nach Hause fahren zu wollen. Sie lebten früher alle zusammen in Krywyj Rih, das sagt sie auch mit Stolz, denn das ist die Stadt aus der ihr Präsident Selenskyj stammt. Er besuchte angeblich auch dieselbe Oberschule, wie sie. Sie hat auch Probleme damit, dass es ihr verhältnismäßig gut geht und telefoniert ständig mit ihren Verwandten.
Letztendlich gibt es eine junge Mutter, nennen wir sie Sonja, auch hier in Berlin, die ich kennengelernt habe. Sie ist aus Butscha geflüchtet, noch vor den grausamen Zuständen, die dort von den Russen verübt worden sind. Doch ihr Mann ist dahin zurückgekehrt und schickt ihr Videos von der Stadt mit allen Zerstörungen und Gräuel, die dort passiert sind. Sie hat bei einer Bewohnerin in meiner Wohnanlage Bleibe gefunden, ist bei uns dann aufgetaucht mit ihrer kleinen Tochter und ihrem sechs Monate alten Baby, um erst einmal eine Zwiebel zu leihen, dann um zu erfahren, wo die Bushaltestelle wäre usw. Dann kam das kleine Mädchen zu uns und ich versuchte mit ihr etwas Deutsch zu lernen. Auffällig für mich war, ihr ständiger Gebrauch von Handy und Übersetzerprogrammen, so dass sie eigentlich gar nichts lernten, sondern immer mich das Handy ansprach. Trotz wirklich fantastischer Hilfe und Zuwendung ihrer deutschen Freunde, fühlte sich diese junge Mutter mit ihren zwei Kindern völlig verloren und mutlos. Ich merkte, dass der Spagat von ihrem Leben in der Ukraine zum Leben hier für sie extrem schwierig war. Irgendwann war das auch für die deutschen Freunde zu viel. Sie fanden für die dreien eine kleine Wohnung, wo sie ihr Leben hier weiterführen können, sie helfen der jungen Mutter aber weiterhin mit Rat und Tat, begleiten sie zu den vielen Ämtern, übersetzen die komplizierten Formulare. Die Anmeldung in der Schule verlief alles andere als erfreulich, sodass sie immer wieder beteuert, sofort nach der Beendigung des Krieges zurück in ihre Heimat zurückgehen zu wollen. Sie ist eigentlich sehr willig sich anzupassen, will auch Deutsch lernen, aber die Betreuung der Kinder, die Besuche bei den Ämtern und auch das Einleben zehren so sehr an ihren Kräften, dass sie sich gar nicht vorstellen kann, noch Deutsch richtig bei einem Kurs zu lernen oder gar zu arbeiten.
Diese einfachen Darstellungen der Erlebnisse der fünf Frauen, deren Leben so brutal durch den Angriffskrieg unterbrochen und aus der gewohnten Bahn geworfen wurde, wollte ich hier skizzieren, damit wir bei der ganzen Diskussion über die Gasknappheit und möglichen Einschränkungen und Mehrausgaben, immer diese Lebensläufe vor den Augen haben. Ihr Leben hängt zwischen der alten Realität vor dem Krieg, nach der sie sich sehnen und einer neuen, fremden Welt, die vielleicht einen Ausweg und Sicherheit bietet, aber keineswegs Normalzustand für sie bedeutet. Die Weihnachtsbeleuchtung steht meistens doch für die Herzwärme; also dimmen wir sie etwas ein und sorgen für die wirklich Betroffenen, und helfen ihnen die schwere Zeit zu überstehen, solange sie das brauchen.