Ein Loblied auf die Mittelmäßigkeit und den gesunden Menschenverstand


Monika Wrzosek-Müller

Seit Jahren, eher seit Jahrzehnten leben wir in immer spezialisierteren, effizienteren und exzellenteren Umständen. Immer schneller wechseln die Moden, die Ansichten, die Diäten; ja, der Fortschritt oder das Neue ist der Motor der kapitalistischen Welt, damit wird schnelles Geld verdient oder auch verloren. Wir sind von Professionalisten und Experten aller Couleur umgeben, die diesen Wechsel ermöglichen, erklären und vorantreiben. Sie sind so etwas wie früher die Pfarrer auf der Kanzel, deren Stimmen wir gelauscht haben. Dabei verlieren wir selbst immer mehr die Verbindung zu unserem gesunden Menschenverstand oder, noch tiefer und genauer, zu unserem instinktiven Bauchgefühl, dass uns in existentiellen Notlagen früherer Zeiten oft auch gerettet haben.

Die Pandemie hat gezeigt, wie wenig wir inzwischen bereit oder auch in der Lage sind, den eigenen Verstand einzusetzen, die Lage ernst zu nehmen und danach zu handeln. Es bedurfte einer Reihe von Maßnahmen, die von oben verordnet werden mussten, damit sich viele selbstverständliche Corona-Maßnahmen doch durchsetzen und etablieren konnten. Um zu verstehen, dass Masken bei einer über die Atemwege übertragenen Krankheit hilfreich sind, musste man nicht Epidemiologe und Chefarzt einer Klinik für Infektionskrankheiten sein. Warum musste das erst ganz ernst verkündet und dann doch manchmal wieder verwerfen werden; dass Abstand und Isolation helfen würden gegen die Ausbreitung der Krankheit, müssten eigentlich sogar Kinder schon wissen. Trotzdem erinnere ich mich genau, dass ungefähr halbes Jahr nach dem Pandemieausbruch ein holländischer Freund uns mit großem Ernst erklärte, dass Masken nicht helfen würden und dass es aus wissenschaftlicher Sicht völlig unnütz wäre, sie zu tragen; also trage er sie auch nicht. Auch aus Schweden hörte ich ähnliche Stimmen, die mit sehr ausgefeilten und zugespitzten wissenschaftlichen Expertisen und Zahlen gegen die Schutzmaßnahmen argumentierten, bis dann irgendwann klar war, dass eben nur Masken, Abstand und Lüften, dann die Impfung und das Testen etwas helfen.

Warum sind wir eher geneigt, komplizierten wissenschaftlichen Ausführungen Glauben zu schenken als der eigenen Intuition und Überzeugung? Warum beugen wir uns so schnell dem Diktat des Expertenwissens, anstatt den eigenen gesunden Menschenverstand einzuschalten? Geht es um Verantwortung, um Bequemlichkeit, um das oberflächliche Abhaken der Wirklichkeit, wenn man sich eben einfach schnell auf die Expertise verlässt? Wir, die Mittelmäßigen, können doch nicht gegen die Hochgebildeten, Aufgeklärten aufbegehren. Die Mittelmäßigkeit wurde derart gründlich schlecht geredet, dass die Menschen alles versuchen, um eben nicht dem Mittelmaß zu entsprechen; und das sind wir, in der überwiegenden Mehrzahl, eben doch, auch wenn viele Eltern meinen, ihre Kinder zu Genies erziehen und ihre besonderen Talente fördern zu müssen.

Jetzt, bei dem Krieg in der Ukraine, fällt mir wieder auf, wie schnell Experten, Militärs, Philosophen, Politiker, Journalisten, ganze Armeen von Professionalisten bemüht werden, um die richtige Strategie zu entwerfen, während die Zeit, die dort Menschenleben kostet, verrinnt. Eigentlich wissen wir doch alle, dass in einem solchen Krieg nur Waffen und schnelle Hilfe angesagt sind; alles andere sind Ausreden und Hirngespinste, doch es wird kräftig diskutiert und verschiedenen Optionen werden erörtert, offene Briefe hin und her geschrieben. Bis sich irgendwann die Einsicht auch bei den Politikern durchsetzt, dass es nur hilft, die Ukraine militärisch zu unterstützen und damit wird auch uns selbst schützen; wir verteidigen doch damit auch unsere Sichtweise, unsere Werte – von dem Leben unserer Mitmenschen gar nicht zu reden. Doch viele sind wie befangen in schon überholten Vorstellungen von Pazifismus, von historischen Konstruktionen, von Verpflichtungen gegenüber der Gesellschaft, der Sicherheit, dem Wohlstand, befangen letztendlich in veralteten Denkstrukturen, die jetzt herausgefordert werden.
Ist dieses Augenverschließen eigentlich nur durch politische und wirtschaftliche Faktoren bedingt, oder haben wir inzwischen selbst wirklich verlernt, intuitiv und aus dem Herzen zu entscheiden? Und ja, das Herz ist dabei eine wichtige Komponente; mit dem Herzen sehen, bedeutet etwas ganz Anderes als rational etwas zu konzipieren, zu erfinden und durchzuführen.

Was hat aber Mittelmäßigkeit damit zu tun? Nun, ich glaube, dass eben das Streben nach Individualität und Einmaligkeit zu sehr extremen und oft unlogischen Gedankengängen und Verhaltensweisen verführt und dass es dabei auch um die Qualität „Herzensgüte“ geht.

Vor Jahren beklagte Milan Kundera „die unerträgliche Leichtigkeit des Seins“, die Künstlichkeit, die Technokratie und die Unmenschlichkeit unserer Zeiten; brauchte man den Blick von der anderen Seite des Eisernen Vorhangs, um zu bemerken, dass die Welt zu schnell, zu gierig in eine Katastrophe rast? Leider ist in Deutschland die Erfahrung der DDR mit der Vereinigung völlig weggewischt worden, man hat nichts mitnehmen wollen aus der früheren Zeit, obwohl einiges dem „goldenen Westen“ doch gutgetan hätte. Es gab in Polen so ein Sprichwort „Ob im Stehen oder Liegen, zwei Tausender wird man kriegen!“; das war natürlich ein Lobgesang auf die Mittelmäßigkeit und nicht gerade ein Ansporn zu großen Anstrengungen, bedeutete aber auch einen kleinen Schritt in Richtung Bescheidenheit, für die es in der heutigen Welt eigentlich kaum Platz gibt.

Zu der Mittelmäßigkeit habe ich ein Lied von Klaus Hoffmann gefunden, nicht gerade meine Musik, aber der Text vielleicht nicht schlecht; auch eine ganz verrückte Punkband: Acht Eimer Hühnerherzen
hat mit dem Lied über das Mittelmaß einen Beitrag geleistet.


„Es muß nicht immer Kaviar sein“, hat schon Johannes Mario Simmel geschrieben, und William
Somerset Maugham hat sogar behauptet: „Nur ein mittelmäßiger Mensch ist in Hochform“.

4 thoughts on “Ein Loblied auf die Mittelmäßigkeit und den gesunden Menschenverstand

  1. Mein Kommentar:
    Ist Ahimsa überholt? Kann man/frau/es streiten;
    “Sehr unterschiedlich sind die Ansichten darüber, wie konsequent Ahimsa im täglichen Umgang mit den verschiedenen Lebensformen umgesetzt werden kann und soll und inwieweit persönliche oder kollektive Selbstverteidigung zulässig ist. Darüber bestehen seit Jahrtausenden Meinungsverschiedenheiten zwischen den Religionen und innerhalb von ihnen zwischen verschiedenen Traditionen und Autoritäten, die sich auf uralte Überlieferung berufen. Daher ist Ahimsa nur vor dem Hintergrund der religionsgeschichtlichen Entwicklung in Indien zu verstehen. ”
    https://de.wikipedia.org/wiki/Ahimsa

  2. अहिंसा परमॊ धर्मः तथाहिंसा परॊ दमः।
    अहिंसा परमं दानम् अहिंसा परमस तपः।
    अहिंसा परमॊ यज्ञः तथाहिस्मा परं बलम्।
    अहिंसा परमं मित्रम् अहिंसा परमं सुखम्।
    अहिंसा परमं सत्यम् अहिंसा परमं श्रुतम्॥

    (Englische Übersetzung:
    Ahimsa is the highest Dharma, Ahimsa is the highest self-control,
    Ahimsa is the greatest gift, Ahimsa is the best practice,
    Ahimsa is the highest sacrifice, Ahimsa is the finest strength,
    Ahimsa is the greatest friend, Ahimsa is the greatest happiness,
    Ahimsa is the highest truth, and Ahimsa is the greatest teaching.)

  3. Gewaltlosigkeit (ahimsa), ein wichtiger Schritt auf dem Yogaweg; belassen wir aber den Indern auf dem Weg in die Unabhängigkeit. Jetzt in der Ukraine andere Zeiten andere Sitten, hilft meiner Meinung nach wenig!

  4. “Gewaltlosigkeit (ahimsa), ein wichtiger Schritt auf dem Yogaweg; ”
    Eher umgekhert – yoga ist eine Technik die auch die Gewaltlosen anwenden,
    auch Meditation und Gebet müssten nicht aus der Sicht gelassen werden.
    Aktionismus ist leider auch dabei, z.B. ankleben auf der Autobahn ist zur Modegeworden-das ich nicht lache!
    Wo liegen die Grenzen der Gewalt? Und ist nicht, die Hilfe, auch eine Form der Gewalt?

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