Frauenblick: Annette

Monika Wrzosek-Müller

Meine Lektüre: Annette, ein Heldinnenepos.

Unsere Administratorin hat diesen Monat den Frauen gewidmet; ich würde sagen, auch ein Jahr würde nicht reichen, doch begnügen wir uns mit diesem einen Monat.

Ich hätte hier jetzt gerne von weiten, ausgedehnten Reisen geschrieben; von Landschaften, die vom Boden zum Himmel reichen und noch weiter, von Städten voller Wunderwerke, von Ausstellungen, die einen zum Grübeln, Staunen und Begeistern zwingen. Von Menschen, die man dabei trifft und mit denen man sich unterhält; doch stattdessen sitzen wir/ich/sie im lock-down, der jetzt gefühlt Jahre dauert und doch wirklich vieles verhindert. Der einzige Fluchtweg öffnet sich in die Lektüre, ja in die Filme, auch mehr oder weniger erlaubte Treffen mit Freundinnen und Freunden bieten gute Ablenkungsmöglichkeiten.

Und siehe da, ein Buch mit markantem Titel, der überaus gut zu dem März-Vorhaben passt: „Annette, ein Heldinennenepos“ von Anne Weber, ist mir aus dem Bücherturm neben dem Bett aufgefallen, rausgefallen und oder hat auf mich gewartet. Ein kleines rotes Buch, 207 Seiten, hebt es sich von den dicken, opulenten Romanen mit 600 bis 800 Seiten ab; auch der schöne Umschlag sieht einladend aus. Der Titel Epos hat mich ehrlich gesagt am Anfang abgeschreckt; ich dachte schon, wieder irgendwas sehr Intellektuelles und Ausgedachtes, nicht zum Lesen, nicht zum Schmökern, denn Epos erinnert mich/uns an die großen Epen mit Göttern und Helden, mit Pathos und Höherem, Mythos bildend, was wir/ich/sie als Pflichtlektüre in der Schule einmal durchgenommen hat/haben, in Versform, manchmal gar mit Reim, sehr lebensfremd, oder doch -nah, aber irgendwie uralt und angestaubt, eher wie ein hohes Lied, mündlich vorgetragen oder erzählt. Die ersten Seiten gingen auch langsam und schwierig; das Werk erzählt in einem Troubadour-Stil, in Versform vom Leben einer Freiheitskämpferin, einer Oppositionellen, die ihr ganzes Leben dem Dienst an den Menschen, der Gerechtigkeit gewidmet hat, einer, die tatsächlich gelebt hat, von Anne Beaumanoir aus der Bretagne. Meine liebste Bretagne, ausgerechnet stammt die Heldin aus einem Örtchen, dem Fischerdorf Saint-Cast-le-Guildo, in dem wir/ich/sie vor Jahren einen Urlaub machten.

Das junge Mädchen hilft schon mit 16 Jahren, während des Krieges jüdischen Familien einen Unterschlupf zu finden; dafür bekommt sie später in Yad Vashem den Titel einer Gerechten unter den Völkern. Dann kämpft sie in der Résistance, wird zur militanten Kommunistin, will für ihre Ideen auch sterben, macht aber immer weiter, als Kurier, als Kämpferin, wechselt zur gaullistischen Résistance, arbeitet wiederum hart und hilft, wo sie nur kann. Dazwischen beginnt sie ihr Studium der Medizin, das sie nach dem Krieg zu Ende bringt; ein sehr ausgefülltes Leben, ohne Pause, ohne Ruhe, ohne an sich selbst zu denken. Im Krieg stirbt auch ihr erster Mann, auf brutalste Weise ermordet von französischen Bauern, die sich für alles, was ihnen widerfahren ist, an den Partisanen rächen. Sie rennt weiter, so als ob sie nicht anhalten könnte, auch nicht wollte; nach dem Krieg dann in den Süden des Landes, nach Marseille; bald heiratet sie noch einmal, wird Ärztin, Neurologin, Mutter von zwei Söhnen, doch das alles reicht ihr nicht, sie will sich für die Gerechtigkeit weiterhin einsetzten und hilft der Algerischen Befreiungsfront, wird zur sog. Kofferträgerin mit Geld für ihren Kampf, auch zum Kurier, dann wird sie verraten und zu zehn Jahren Haft in Frankreich verurteilt. Dazwischen bekommt sie noch ihr drittes Kind, ein Mädchen. Sie flieht verkleidet über Italien nach Nordafrika, landet in Tunis, wird zur Helferin beim Aufbau des unabhängigen Algerien (arbeitet im Resort Gesundheit) während der Präsidentschaft von Ben Bella. Inzwischen ist sie zum dritten Mal mit einem 12 Jahre jüngeren Algerier verheiratet, sieht auch einmal ihre Kinder auf einer Yacht in Mittelmeer, macht sogar einen Urlaub mit ihnen in Positano.

Bei einem Putschversuch entkommt sie knapp der Verfolgung und landet erst einmal in Rom und dann in Genf, wo sie einige Jahre in einer Klink arbeiten wird, bis das Gerichtsurteil in Frankreich aufgehoben wird. Daraufhin kehrt sie nach Frankreich zurück, um ihr Leben in einem Ort mit dem Namen Dieulefit fortzusetzten; sie besucht auch die Bretagne, wo sie ein kleines Ferienhaus hat. Inzwischen ist sie 96 Jahre alt; ihr Leben hat sie in zwei Bänden Erinnerungen festgehalten.

Die Fotos, die ich von den beiden Frauen (der Autorin und der Heldin) im Internet gesehen habe, zeigen Annette als sehr lebendige, wache Person, fast würde ich sagen, dass die Autorin, obwohl wesentlich jünger, ernsthafter aussieht. Die beiden führen lange Gespräche, mögen sich auch offensichtlich sehr. Die Wahl der literarischen Gattung, des Epos, hat, denke ich, mehrere Gründe und tut der Geschichte sehr gut. Die Autorin distanziert sich von der Heldin und ihrer Heldenhaftigkeit, schafft Raum zum Durchatmen und Innehalten, diesem Zweck dienen auch Ironie und Witz: „Pause…, Pause, Pause“, während die Heldin schon wieder weiter läuft und neue Erlebnisse anhäuft. Das Buch versinkt nicht in der mythologisierten Schwere der Beschreibung der Heldentaten, sondern schwingt mit Leichtigkeit über die Entfernungen und Probleme, die ein solches Leben mit sich bringt, hinweg; es stellt uns aber auch vor die wichtigen Fragen der Zeit: was zählt ein Menschenleben? Was bedeutet in diesem Zusammenhang Menschlichkeit? Was heißt verurteilen, entscheiden und dann mit diesen Entscheidungen leben? Was heißt letztlich ein erfülltes Leben, was gehört dazu?

Auf manche dieser Fragen gibt die Geschichte überaus interessante Antworten.

Ein sehr empfehlenswertes Buch, nicht umsonst wurde es mit dem Deutschen Buchpreis als bester deutschsprachiger Roman des Jahres 2020 ausgezeichnet.

2 thoughts on “Frauenblick: Annette

  1. Liebe Frauen!
    Es ist in schöner Satz:
    “Solange uns die Menschlichkeit miteinander 
    verbindet, ist egal, was uns trennt” (Ernst Ferstl)

  2. Es sollte : “ein schöner Satz” stehen, das Handy hat “e” geschluckt, aber, es war…
    gut gemeint!
    Sorry!😅

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