Russlands Krieg gegen die Ukraine

und Deutschlands „Lehren aus der Geschichte“

Michael G. Müller (Historiker)

Es liegt nahe, dass die Deutschen, wenn es um ihre Einstellung zum Krieg in der Ukraine geht, darüber nachdenken, was ihre historischen Erfahrungen bzw. die der Ukrainer und der Russen ihnen an Orientierung geben sollten. Eher überraschend ist dagegen, dass sich eher nicht die Befürworter einer entschlossenen Unterstützung der Ukraine in diesem Krieg auf die „Lehren aus der Geschichte“ berufen, sondern – lautstark – die Skeptiker gegenüber dem Engagement der Bundesrepublik und der NATO, die unbeirrbar Friedensbewegten, die sofortige Friedensverhandlungen verlangen, sei es mit, sei es gegen den Willen der Ukrainer.

Aber welche Lehren wollen sie aus welchen historischen Erfahrungen ziehen? Geht es ihnen darum, im Sinn der deutschen Verantwortung dafür zu handeln, dass in dem deutschen Eroberungs- und Vernichtungskrieg in Osteuropa zwischen 1941 und 1944 etwa 5 Millionen Ukrainer, Soldaten und Zivilisten, ums Leben kamen, dass mehr als 2 Millionen Ukrainer als Zwangsarbeiter verschleppt und vielfach dem Tod überantwortet wurden? Eher nicht, denn von dieser historischen Verantwortung spricht in Deutschland heute erstaunlicher Weise so gut wie niemand. Was sind also die „historischen“ Argumente der Friedensbewegten? Hier einige Beispiele.

Die vermeintliche Analogie zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Schon in ihrem offenen Brief vom April 2022, und danach immer wieder, beschworen sie die Gefahr, dass Europa und die NATO-Staaten ähnlich wie 1914, nach den „Schüssen von Sarajevo“, in einen neuen Weltkrieg hineinstolpern könnten – ganz ungewollt und durchaus unbedacht, aber mit katastrophalen Folgen. Das ist aber der falsche Vergleich. Im Sommer 1914 waren alle beteiligten Mächte bereit zum großen Krieg, sogar begierig darauf. Man erwartete, ja erhoffte, den endgültigen Show-down in der Großmächtekonkurrenz um die „Weltmacht“. Russlands aktueller Angriffs- und Vernichtungskrieg gegen die Ukraine hat eine andere historische Parallele, nämlich den Beginn des Zweiten Weltkriegs. Nur Hitler und vielleicht auch Stalin wollten 1939 den Krieg, die anderen europäischen Staaten definitiv nicht. Deshalb reagierten sie auf Hitlers Aggressionspolitik mit dem Streben nach Appeasement – um den Aggressor nicht zu provozieren wurden ihm Kompromisse angeboten, auch über die Köpfe der unmittelbar Betroffenen hinweg (siehe das Münchner Abkommen von 1938). Seit 1939 sollte ganz Europa dafür blutig büßen.

Die Macht der Diplomatie und die Ohnmacht der Waffen. Niemals, so hören wir von Kritikern der NATO-Ukrainepolitik, seien Kriege auf dem Schlachtfeld beendet worden. Das klingt, besonders, wenn Deutsche heute so etwas sagen, ebenso zynisch wie geschichtsvergessen. Wann und auf welche Weise wohl wurde wohl Hitlers Eroberungs- und Vernichtungskrieg beendet? Er endete erst, als die Soldaten der Roten Armee vor Hitlers „Führerbunker“ in Berlin standen und als Admiral Dönitz im Namen der völlig geschlagenen Wehrmacht sowie der Reichsregierung am 7. Mai 1945 die bedingungslose Kapitulation unterzeichnete. Dieser Ausgang zeichnete sich schon seit Ende 1943 ab, alternativlos. Für die Alliierten, deren Staatschefs im Dezember 1943 in Teheran tagten, gab es auf deutscher Seite schlicht niemanden, mit dem sie über einen Frieden hätten verhandeln können – nicht anders als in all den Jahren seit 1939. Der Preis war, dass 1944 und im Frühjahr 1945 mehr Soldaten an den Kriegsfronten sterben mussten als in jedem Kriegsjahr zuvor.
Bedenken wir die Analogie zwischen der Lage Polens im September 1939 und der der Ukraine seit dem Februar 2022. Wer „sofortige Verhandlungen“ über einen Waffenstillstand fordert – wie gerade erst wieder Alice Schwarzer uns Sahra Wagenknecht – müsste auch sagen können, mit wem und worüber verhandelt werden könnte. Hätten die Westalliierten Hitler im September/Oktober 1939 anbieten sollen, dass Polen seine Westgebiete an Deutschland abtreten und vielleicht auch alle polnischen Juden an das NS-Regime ausliefern würde? Was könnte man Russland heute als „Kompromiss“ anbieten, wenn Putin (bis heute!) die „Entnazifierung“ der gesamten Ukraine sowie die völkerrechtlich bindende Abtretung der einseitig annektierten (wenn auch gar nicht vollständig besetzten Gebiete) verlangt und das staatliche Existenzrecht der Ukraine grundsätzlich bestreitet? Auf die Appeasement-Politik von 1938 als historische Analogie kann sich jedenfalls niemand mit Recht berufen.

Nie wieder deutscher Panzer auf europäischen Schlachtfeldern. Die deutsche Sensibilität in Sachen Krieg und das deutsche Schuldbewusstsein in Bezug auf die eigenen Kriegsverbrechen im Zweiten Weltkrieg sind nachvollziehbar und, bis zu einem gewissen Grad, legitim. Zugleich sind sie in der heutigen Situation scheinheilig. Überzeugungskraft hätte der Appell dann, wenn sich die beiden deutschen Staaten seit ihrer Gründung auf jegliche Produktion und jeglichen Export von Kriegswaffen verzichtet hätten. Das war aber, wie wir wissen, keineswegs so. Die hoch geschätzten deutschen Waffen sind heute überall in der Welt verbreitet und das weiterhin geltende Verbot des Waffenexports in Kriegsgebiete stellt nur ein Feigenblatt dar – da auch in der Vergangenheit niemand wirklich danach gefragt hat, ob und wann welche Regionen irgendwann doch zu Kriegsgebieten werden (da sie ja sonst keine Waffen bräuchten).
Das Unbehagen daran, dass deutsche Panzer in der Ukraine zum Einsatz kommen werden, hat denn auch wenig mit politischen oder moralischen Prinzipien zu tun, umso mehr aber damit, dass sich viele Deutsche nicht in ihrem Gefühl der moralischen Überlegenheit in Bezug auf ihre „Leistungen“ bei der Vergangenheitsbewältigung“ erschüttern lassen wollen. Ob die Ukraine die Panzer dringend braucht und dringend fordert, bewegt uns dabei eigentlich wenig. Aber seien wir ehrlich: Wie wir uns angesichts der Lieferung von deutschen Waffen in Kriegsgebiete „fühlen“, ist allein unser eigenes Luxusproblem. Eher sollten wir uns den Kopf darüber zerbrechen, was es bedeutet hat, dass die Ukrainer zwischen 1941 und 1944 der deutschen Kriegsmaschine nichts entgegensetzen konnten.

Historikerinnen und Historiker sind in der Regel die letzten, die von den „Lehren der Geschichte“ reden und sie emphatisch zu zitieren. Umso mehr haben sie aber die Aufgabe, sich der Mythenbildung in Bezug auf solche vermeintlichen historischen Lehren zu widersetzen.

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