Vor 250 Jahren: die erste Teilung Polens 1772

Michael G. Müller

Drei Fragen zu dem Ereignis von 1772 sollen hier gestellt und diskutiert werden. Die erste ist die, ob – und, wenn ja, warum – die erste Teilung Polens eine Zäsur in der europäischen Geschichte markiert. Sehr klar hat Edmund Burke schon 1773 diese Frage beantwortet. Die „gewaltsame Zerstückelung“ Polens, „ohne den Vorwand eines Kriegs oder auch nur den Anschein von Recht“, schrieb er im Annual Register für das Jahr 1772, sei „der erste wirklich große Bruch in der modernen Ordnung Europas“, ein Akt, mit dem „die Axt an die Wurzeln unserer großen westlichen Republik gelegt worden ist“.

So dramatisch das klingen mag – auch Historikerinnen und Historiker müssen Burke heute bei nüchterner Analyse im Kern Recht geben. Zunächst einmal: Es gab tatsächlich keinerlei plausiblen Grund und keinerlei nachvollziehbare Rechtfertigung dafür, dass die drei Nachbarmächte der polnischen Republik 1772 große Teile von deren Territorium willkürlich annektierten. Kein heißer Krieg zwischen Polen und den Teilungsmächten war vorausgegangen. Keine internationale Krise, die nur auf diese Weise hätte entschärft werden können. Die Nachbarn wollten es einfach. Um genau zu sein: Russland, das de facto weitgehend alleine in den polnischen Angelegenheiten entschied, entschloss sich dazu und gab 1771 grünes Licht für das Teilungsgeschäft. Preußen und, etwas verzögert, Österreich ließen sich mehr als willig darauf ein. Alle drei gewannen dabei.

Weiterhin: Ein Bruch in der „modernen Ordnung Europas“ im Sinne Burke’s war das in der Tat. Was Burke mit „unserer großen westlichen Republik“ meinte, war im Wesentlichen die Gemeinschaft der europäischen Signatarmächte des Westfälischen Friedens von 1648 und der Friedensverträge am Ende des Spanischen Erbfolgekriegs (1713-1715). Die Friedenschlüsse hatten die großen Hegemonial- und Religionskriege beendet und sie sollten eine Art neuartigen europäischen Konsensus etablieren: einen Konsensus über die gemeinsame Erhaltung des europäischen Gleichgewichts und über die strikte Achtung der Souveränität und Integrität der Staaten. Beide Prinzipien wurden mit den Teilungsverträgen ausgehebelt.

Interessant dabei nicht zuletzt, wie die Teilungsmächte die Nicht-Achtung des Verbots der Intervention gegen souveräne Staaten gerechtfertigt haben: Sie erfanden eine neue Formel, wonach ein Zustand von „Anarchie“ (so wie er in Polen seit 1768 angeblich geherrscht habe) die Nachbarn zur Intervention zwinge – auch um der Sicherheit ganz Europas willen. Das war nach zeitgenössischen Standards ungefähr ähnlich plausibel wie heute Putins Rede von der Verantwortung Russlands für die Entnazifizierung der Ukraine.

Aber sehen wir einmal von dem völkerrechtlichen Aspekt ab. Auch ganz praktisch wurde der Zäsurcharakter der Entscheidung von 1772 sofort sichtbar. Von außen gesehen war die neue Liga der Teilungsmächte derart dominant, dass sie nicht nur willkürlich über Polen verfügen konnte, sondern auch über die Verhältnisse in Deutschland. Die panikartigen und zugleich hilflosen Reaktionen der deutschen Reichsstände auf die Teilungsnachricht (z.B. Sachsens, Bayerns, der Pfalz) zeugten davon. Im Innenverhältnis aber funktionierte die Teilungsliga als eine Art kompetitive Zwangsgemeinschaft. So alternativlos das weitere Zusammenwirken in Bezug auf Polen war, so deutlich konkurrierten hier einzelstaatliche Ziele und Interessen; dass es früher oder später zur weiteren Aufteilung Polens kommen würde, lag angesichts dieser Spannungen auf der Hand. Herr Krzeminski hat also absolut recht: 1772 war der Anfang vom Ende des alten Polen, aber ebenso des alten Reichs.

Den Langzeitfolgen der Teilungen gilt meine zweite Frage. Wie, und wie lange eigentlich, haben die Teilungen nachgewirkt? Fasst man die Frage eng, und bezieht man sie allein auf Polen, dann scheint die Antwort auf der Hand zu liegen. Die polnische Gesellschaft blieb auf ihrem Weg in die Moderne solange fremdbestimmt, beeinträchtigt, in ihrer Entwicklung gehemmt, wie die Teilungslage selbst andauerte, also bis zum Ende des Ersten Weltkriegs. Der Verlust der Souveränität bedeutete für alle drei Teilungsgebiete eine nachhaltige Marginalisierung im Rahmen des jeweiligen Teilungsstaats – nicht nur politisch, sondern auch wirtschaftlich, struktur- und bildungspolitisch, elitensoziologisch, in unterschiedlichem Maße auch kulturell. Man könnte, in Abwandlung von Milan Kunderas Diktum vom „gekidnappten Westen“, von einer „gekidnappten Nation“ sprechen. Die Traumata dieses Kidnapping haben natürlich lange über 1918 hinaus nachgewirkt. Bis heute sind die Trennungslinien zwischen den Teilungsgebieten als Phantomgrenzen erkennbar.

Fasst man die Frage nach den Folgen der Teilungen weiter, bezieht man sie auf Ostmitteleuropa insgesamt, dann wird es komplizierter. Ganz sicher waren die Teilungen jedenfalls ein zentraler Faktor bei Preußens weiterer Entwicklung. Der territoriale Zuwachs hat Preußens wirtschaftlich-fiskalische Ressourcen beträchtlich vermehrt, sein militärisches Potential gestärkt, zugleich neue außenpolitische Optionen geschaffen. Die napoleonischen Kriege blieben in dieser Hinsicht Episode; Preußen blieb auch nach 1815, wie Klaus Zernack gesagt hat, eine „halbdeutsche Großmacht“ mit einer Machtbasis außerhalb des alten Reichs. Die Entwicklung des österreichisch-preußischen Dualismus im Deutschland des 19. Jahrhunderts und der Weg zur Reichsgründung von 1871 waren davon deutlich geprägt.

Die Kehrseite aber – und zwar nicht nur für Preußen, sondern für alle Teilungsmächte: die dauernde Herausforderung durch die polnische nationale Bewegung. Sie entwickelte trotz, oder eher wegen, aller Versuche, sie zu unterdrücken, eine über die Generationen wachsende gesellschaftliche Mobilisierungskraft gegen die Staatsmacht. Wie Hans-Ulrich Wehler gezeigt hat, entwickelte sich die sogenannte Polen-Frage, sogar zu einem der großen „Krisenherde des Kaiserreichs“. Zugrunde gegangen ist das Kaiserreich daran natürlich nicht. Aber der sich ständig radikalisierende, um 1900 omnipräsente Nationalitätenkonflikt in den sogenannten Ostmarken hat das Verhältnis zwischen Deutschen und Polen irreparabel beschädigt.

Zum ideologischen Erbe des Kaiserreichs sollte denn auch eine tief verwurzelte deutsche Polenfeindlichkeit gehören. Nach 1918 hielt die Mehrheit der Deutschen die bloße Existenz des wiedererstandenen Polen, dieses „Saisonstaats“, für unerträglich; die nach dem Ersten Weltkrieg gezogene deutsch-polnische Grenze (auf die sich übrigens nach 1945 die Bundesrepublik stets berufen hat) galt damals als „blutende Grenze“ und deshalb als inakzeptabel; der Anweisung des deutschen Oberkommandos im Jahr 1939, dass der Krieg gegen Polen mit (Zitat) „größter Härte“ geführt werden müsse, folgte die Wehrmacht im September `39 willig. Wann endete auf dieser Ebene die Wirkungsgeschichte der Teilungen? Auf deutscher Seite: vielleicht 1980, als uns die Solidarnosc-Bewegung neuen Respekt für Polen gelehrt hat? Vielleicht aber auch erst später?

Meine dritte und letzte Frage ist die nach der kollektiven Erinnerung an die Teilungen Polens und deren Wirkungsgeschichte. Sind die Teilungen Polens ein lieu de mémoire im Sinn von Pierre Norat? In Deutschland ganz sicher nicht. Das in Deutschland durchaus vorhandene Bewusstsein von einer deutsch-polnischen Konfliktgeschichte reicht in der Regel kaum hinter den Zweiten Weltkrieg zurück. Man mag gehört haben von den Grenzkonflikten nach dem Versailler Frieden oder auch von den „Nationalitätenkämpfen“ im Osten des Kaiserreichs. Welche Vorgeschichte diese hatten, erfuhr man im Geschichtsunterricht aber nicht. Das Schulbuch zur europäischen Geschichte, das wir – die Deutsch-Polnischen Schulbuchkommission – jetzt gemeinsam erarbeitet haben, ist meines Wissens das erste Geschichtsbuch in Deutschland, in dem die Teilungen Polens überhaupt als eigenes Thema vorkommen.

Ganz anders natürlich in Polen. Vielleicht nicht die Verlaufsgeschichte der Teilungen selbst, umso mehr aber deren Wirkungsgeschichte bildet die Hauptachse der Erinnerung an Polens Geschichte im 19. und 20. Jahrhundert – der Verlust der Souveränität, der Freiheit, die Anstrengungen für die nationale Selbstbehauptung (Aufstände und organisierte Nationalbewegung), die Kämpfe um die Wiederherstellung des unabhängigen Staats. Mit diesen kollektiven Erfahrungen verbunden war aber wohl auch die Ausprägung bestimmter kollektiver Haltungen und Wertordnungen – z.B. eine tiefe Aversion gegen Fremdbestimmung, ein Sinn für Widerständigkeit als gesellschaftliche Tugend, der größte Respekt für das Prinzip staatlicher Souveränität und territorialer Integrität.

Nur vor diesem Hintergrund kann ich mir die Haltung der polnischen Gesellschaft gegenüber dem Krieg gegen die Ukraine erklären. Noch 2019 tobte zwischen Polen und der Ukraine ein von der PiS-Regierung befeuerter geschichtspolitischer Krieg (um die ukrainischen Massaker an Polen in Wolhynien 1943/44, um den berühmt-berüchtigten Stepan Bandera). Nach dem 24. Februar 2022 aber spielte das keine Rolle mehr. Die Empathie für, und Solidarität mit, der um ihre Souveränität kämpfenden Ukraine war und ist in Polen so nachhaltig und so ungeteilt wie wohl kaum irgendwo sonst in Europa.

Aber zurück zur Erinnerung an die Teilungen Polens im 18. Jahrhundert. Als deutscher Historiker fände ich es gut, wenn wir in Deutschland etwas klarer und bewusster mit dem historischen Erbe der Teilungen umgehen würden. Dabei geht es nicht darum, im Seitenblick auf unsere Nachbarn die Bilanz unserer „Vergangenheitsbewältigung“ noch einmal zu verbessern. Es geht vielmehr um Selbstverständigung über unsere eigene Geschichte – darum, zu verstehen, was Preußen und Österreich mit der Teilung Polens für sich selbst angerichtet haben.

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