


Von der Administratorin: Am Ostersamstag machte ich in einer kleinen englischen Stadt (Garden City) einen Spaziergang. Das Wetter war schön und die Straßen waren voller Menschen. Ich ging in die St.-Franziskus-Kirche, wo mehrere Frauen Blumen banden und pflanzten. Wir sind hier nicht in Polen. Am Karsamstag wird in einer anglikanischen Kirche noch nichts gefeiert. Auf der anderen Straßenseite stand ein riesiger Müll-Container, der bis zum Rand mit Kirchenmusik-CDs gefüllt war. Hunderte, vielleicht Tausende von CDs. Zwei dunkelhäutige Personen mit dem Aussehen von Musiklehrern standen in der Nähe des Containers.
– Das ist eine Schande, sagten sie.
Sie nahmen sich eine CD nach dem Zufallsprinzip. Das tat ich auch. Ich zog Te Deum (Got sei gelobt) von Hector Berlioz.
Es ist ein Kirchenlied aus dem 4. Jahrhundert n. Chr., das immer wieder von Grund auf neu komponiert und anlässlich großer kirchlicher Feste aufgeführt wurde, ursprünglich vermutlich am Vorabend von Ostern. Das ist genau der Tag, an dem ich es aus dem Müll gezogen habe. Musik für das große, traurige Osterfest 2022, wenn ein großer, schrecklicher Krieg in der Welt herrscht.
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Ela Kargol
Welttag des Buches

Das Buch habe ich auf meinem Hof im Müllcontainer gefunden. Zwischen Kaffeesatz und Eierschalen lagen noch andere Bücher. Die sauberen habe ich herausgeholt und daneben auf eine kleine Mauer hingelegt. Wenn es nicht regnet, vielleicht überleben sie, bis jemand wie ich ihnen ein neues Leben im neuen Zuhause schenkt.
Mir läuft es jedes mal den Rücken kalt runter, wenn ich Bücher in Abfallkörben, Mülltonnen oder auf Müllhalden sehe. Dasselbe fühle ich bei weggeschmissenem Brot.
Es gibt doch genug Möglichkeiten die Bücher wegzugeben. Es gibt genug Lebensfenster („Babyklappen“) so wie für ungewollte Kinder, es gibt Büchertelefonzellen, Bibliotheken, Bücherbasare und schließlich Menschen, die sich über weitere Bücher freuen, bei denen es noch Platz in den Regalen gibt.
Was für ein Unterschied besteht zwischen Bücherverbrennung und Bücher-Wegschmeißen?
Fast keinen, die Ideologie ist nur anders. Damals Nationalismus und jetzt Wegwerfgesellschaft und Überfluss.



Für mein Zuhause habe ich ein rotes Buch gerettet, noch paar Jahre Leben geschenkt. Jahrgang 1927, drei Jahre älter als meine Mutter.
Ganzleineneinband mit goldfarbenen geprägten Lettern, sowie Prägungen in Form von einem gebundenem Rosenstrauß, „Jungmädchenwelt, ein Jahrbuch“, herausgegeben in Stuttgart bei der Union Deutsche Verlagsgesellschaft. Es gibt auch ein entsprechendes Buch für die Jungen: „Junge Welt, ein Jahrbuch für unsere Jungen“. Gott sei dank nicht im Müll gefunden, sondern bei Ebay-Kleinanzeigen. Ich denke ernsthaft daran, es zu bestellen.


In dem Mädchenbuch findet man außer einem Rosenstrauß, alles was das Herz einer jungen Frau begehrt: „…Erzählungen ernsten und heiteren Inhalts, Plaudereien über Kunst und Wissenschaft, Länder und Völker, Beruf, Sport, Haus Hof und Garten…“
Es gibt heitere Texte und traurige, Kunstabbildungen solcher Künstler, deren Kunst später entartet wurde oder derer die der NSDAP treu bis zum Ende geblieben sind. Es gibt Rätsel, Märchen und Reiseberichte, Zeichnungen, Bilder und viel mehr.
Auf einer der Seiten wurde ich auf ein Foto von vier Mädchen aufmerksam, die mit erhobenen Händen im Kreis tanzen. Den Namen des Fotografen Paul W. John, geboren im heutigen Łebcz bei Puck, habe ich in Wikipedia gefunden: Paul W. John
Das Foto ist betitelt: Frühlingsreigen. Ich musste nach der Bedeutung des Wortes Reigen suchen.
Ich hatte schon meine Vermutungen über alte germanische Bräuche, die vom Bund Deutscher Mädel übernommen wurden, aber nein, diese Tänze gehen auf die Antike zurück, auf Homer, die Ilias, und haben viel gemeinsam mit Hochzeitsumzügen. Ich musste sofort an einen berühmten Film mit Jerzy Stuhr denken, den Wodzirej in dem Stuhr einen Vortänzer spielt.

Was kann man von einer angehenden Hausfrau erwarten? In 30 Merksätzen steht es im Buch geschrieben. Von einer jungen Frau vor fast 100 Jahren hat man was ganz anderes erwartet, was man heute erwarten würde. Würde man heute überhaupt etwas erwarten? Das Wort Erwartung ist schon falsch, es klingt ähnlich wie Manipulation, Suggestion, Lenkung.
Meine Mutter hat mir immer verbale Ratschläge, Suggestionen, Wegweisungen gegeben. Ich habe sie dafür gehasst, obwohl ich sie sehr liebe, die Mutter.
Wenn ich den letzten Punkt der Merksätze für angehende Hausfrauen lese, muss ich lachen. „Kostbare Edelsteine in der Krone der Hausfrau sind: Ordnung, Reinlichkeit, Pünktlichkeit und Sparsamkeit.“
Bei mir fehlt alles. Die anderen Merksätze, wie das ganze Buch in Frakturschrift geschrieben, sind leider auch nichts für mich. Ein Paar würde ich vielleicht akzeptieren: Lasse nichts umkommen, sondern verwende alle Speisen rechtzeitig. Manche sind veraltet, manche unverständlich oder lächerlich: Lasse dich von deiner Nachbarin nicht aufhalten, wenn du kochende Speisen auf dem Herd hast, ebenso lasse das Romanelesen während dieser Zeit. Oftmals ist das unangenehme Anbrennen oder das Überkochen die unvermeidliche Folge davon.


Ich habe als junges Mädchen Anne auf Green Gables gelesen und ihre Ideen und ihr buntes Leben in Kanada wirkten auf mich viel überzeugender als die 30 Merksätze für angehende Hausfrauen in Deutschland.
Man kann über die Merksätze lachen, sie ernst nehmen, als nützlich oder interessant empfinden, man kann sie überspringen und Rätsel lösen, alles für junge Mädchen.


Soviel Wissenswertes auf der Müllkippe gefunden, Texte über Künstler, Literatur, Reisen, Gedichte, Fotos, Bilder, goldene Buchstaben auf roten Leinen…
Manch einer mag sagen, das sei unnützes Wissen, unnützes Buch, alt, gehört in den Müll. Wer liest so was? Wer las so was? Unsere Großmütter, Großväter vielleicht auch. Und die Nachbarin, die vor paar Monaten gestorben ist und deren Wohnung von einer Auflösungsfirma aufgeräumt wurde, samt Büchern.
Allen Büchern auf der Welt wünsche ich schöne Regale, eifrige Leser und Leserinnen und eine gute Behandlung, ein langes Leben in Gesundheit und Achtung.
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Der Welttag des Buches. Charkiv. Bibliothek.

23 kwietnia
ŚWIATOWY DZIEŃ KSIĄŻKI I PRAW AUTORSKICH.
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W tym dniu w roku 1616 zmarli Miguel de Cervantes, William Szekspir i historyk peruwiański Inca Garcilaso de la Vega.
https://www.deutschlandfunkkultur.de/bibliotheken-ukraine-krieg-100.html?fbclid=IwAR3gB3osguBgXHQ-EwzXUJjknjELqJaAau_xyXpnXOonvkYDvUDQPJB7Ptk