Blutbrüder (7)

Anne Schmidt

11. Der Psychologe

Jahnke nimmt am nächsten Tag den 2. Aktenordner zur Hand. Der Psychologe, Herr Tuncay, hat einen langen Bericht geschrieben. Er hatte verschiedene Tests mit Arne gemacht, denn sagen wollte der Junge nichts. Erst als Tuncay ihm die Analyse  der Tests mitteilte, hatte Arne sich ihm unter Tränen offenbart. Tuncay veranlasste, dass Arne nicht vor Gericht aussagen musste, sondern sein Bericht in der Verhandlung als Ersatz anerkannt wurde.

Felix und Kai verweigerten die Aussage. Aufgrund des Berichtes wurde Krause zur verpflichtenden Teilnahme an einer Therapie und zu einem Wechsel der Schule verurteilt. Ein Berufsverbot konnte, nach Meinung der Richter, nicht ausgesprochen werden, da kein angebliches Opfer vor Gericht aussagen wollte.

Als Kai aus dem kühlen Gerichtsgebäude in die knallige Sonne draussen trat, wartete Tuncay schon auf ihn. “Schade, dass Du nicht ausgesagt hast. Ich bin sicher, Dein Lehrer hat Dich ausgenutzt. Arne hat mir genug erzählt, um zu wissen, dass Du sein Hauptopfer warst. Ich habe ein Zimmer für Dich in einer betreuten Wohngemeinschaft. Wenn Du willst, kannst Du sofort mit mir hingehen.”

Kai sah Krause aus dem Gerichtsgebäude kommen und ihm heimlich einen Wink geben. Er drehte sich abrupt zu Tuncay und folgte ihm nach Neukölln. Kai bekam das Zimmer eines Jungen, der mit Crack erwischt worden war. Weil er als Wiederholungstäter galt, wurde er zum Entzug in eine Klinik eingewiesen. Kai betrat das Zimmer mit Widerwillen: Alles war ungepflegt und schmutzig. Er musste stundenlang lüften, um den abgestandenen Geruch zu verdrängen. Die drei anderen Jungs in der WG liefen nur mit Basecaps auf ihren kurz geschorenen Schädeln herum, ließen ihre Jeans bis auf die Po-Ritze hängen und begrüßten sich gegenseitig im “Gangsta-Slang”. Sie sprachen nur in Halbsätzen, nie über Probleme oder Gefühle, sondern versuchten in Sprache, Mimik und Gestik ihre Coolness zum Ausdruck zu bringen.

Einmal in der Woche gab es ein Kreisgespräch mit Herrn Tuncay oder einem anderen Psychologen. Dann saßen die Jungs ernst und auffällig harmlos blickend auf ihren Stühlen und erzählten – mal leise und stockend, mal laut und aufbegehrend von kleinen Scharmützeln in der Schule.

Von ihren nächtlichen Ausflügen erzählten sie natürlich nie. Kai passte sich bald seiner unmittelbaren  Umgebung an, in Aussehen, Sprache und Verhalten. 

12. Abwärts

Er hatte sich seiner Umgebung so gut angepasst, dass auch er nachts auf den Straßen von Neukölln herumlungerte. Gegen die Angst, die ihn manchmal überfiel, und gegen die würgenden Erinnerungen brauchte er ein bisschen Kokain; von Koks war er bei Krause schon fast abhängig geworden, aber er konnte es sich nicht leisten, wenn er nicht auf den Strich ging. Am einfachsten und billigsten war Crack zu besorgen. Seine WG-Kumpel kannten zwei Tschechen, die das Zeug in ihrer Küche mixten. Es war so billig, dass er es von seinem Taschengeld kaufen konnte, wenn er sich sonst nichts Aussergewöhnliches leistete.

Inzwischen hatte er die 10. Klassenstufe der Gesamtschule abgeschlossen, aber ohne “Mittleren Schulabschluss”. Sein sehr bemühter Arbeitslehre-Lehrer hatte ihn überredet, sich an einem OSZ anzumelden, um die “Mittlere Reife” nachzuholen.

Da Kai keinen Plan für sein weiteres Leben hatte, und das Sozialamt die Kosten für seinen Lebensunterhalt übernahm, solange er sich in einer schulischen Ausbildung befand, willigte er ein. Er ließ sich eine Lebensbahn hinuntertreiben, von der er nicht wusste, wo wie sie enden würde.

Er döste in den Tag hinein und aus dem Tag wieder hinaus in eine von Monstern bedrohte Nacht.

Fortsetzung in einer Woche

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