Monika Wrzosek-Müller
Apeirogon von Colum McCann
Vor ungefähr dreißig Jahren waren wir in Israel, eine längere Reise, zu Gast bei Freunden in Jerusalem und mit dem Bus unterwegs, kreuz und quer durch das kleine, sehr interessante Land. Es war die Zeit der ersten Intifada, wir durften hier und da nicht hinfahren, nicht hingehen. Schon damals fiel uns auf, wie stark Israel militarisiert war; auf den Busbahnhöfen standen immer junge Soldaten mit Maschinenpistolen herum, auch in den Bussen wurden wir von ihnen begleitet, sogar am Strand von Eilat lagen neben uns junge Soldatinnen, neben ihnen ihre Gewehre, die länger und größer schienen als sie selbst. Zu der Reisegeschichte gehört auch unser Missgeschick; wir waren in Be´er Scheva in den Bus gestiegen, um nach Jerusalem zu kommen – leider in den falschen Bus. Der fuhr durch Hebron, wo Autoreifen brannten; alle mussten aussteigen dort und das war gar nicht lustig, eher fühlte sich alles sehr gefährlich und bedrohlich an. Ein paar Tage danach wurden wir auf dem Platz vor der al agsa Moschee mit Steinen beworfen (aber sanft, die Steine waren klein), weil wir uns an den Händen hielten. Unvergessen sind uns auch die Verhöre am Flughafen geblieben, als ob wir, die wir unvernünftigerweise mit der TAROM, einer rumänischen Fluglinie (wegen des billigen Preises), von Berlin nach Tel Aviv geflogen waren, irgendwelche Agenten böser Mächte seien. Ja, das Land schien mir schon damals etwas übermilitarisiert aber doch unheimlich anziehend und spannend. In Jerusalem hatte man den Eindruck, dass auf jedem Quadratmeter alle möglichen Kulturen, Religionen, Hautfarben, sprich Menschen lebten. Auf Polnisch konnte man sich fast überall verständigen, auch haben einige alte Damen mit uns Deutsch gesprochen, Englisch war Standard bei den Jüngeren.
Dann las ich 2008 das Buch Das Recht auf Rückkehr von Leon de Winter; es war ein schüchterner Blick in die Zukunft von Israel. Es fielen Sätze wie „Das kleine jüdische Land war zu einem Stadtstaat von der Fläche von Groß-Tel-Aviv plus einem Sandkasten zusammengeschrumpft“ und „Die palästinensischen Araber hatten die Juden mit ihren Gebärmüttern besiegt“; es wurden einfach viel mehr Palästinenser als Juden geboren. Die Aussichten für Israel aber auch für die ganze westliche Welt waren hier eher düster, in Europa, laut de Winter, würde Polen die führende Nation werden, das habe ich mir gemerkt und, dass Israel mit neuen Technologien und technologischen Entwicklungen die arabische Invasion zu stoppen versuchte. Irgendwelche DNA-Analysen erlaubten, jeden sofort zu identifizieren und zu orten, auch wurden die Bürger des kleinen Staates durch Nachverfolgen ihrer Bewegungen (über ihre Smartphones und durch Drohnen) ständig beobachtet und doch ereigneten sich Fälle wie der in dem Roman beschriebene: ein Attentat auf einen jüdischen Checkpoint, begangen von einem Attentäter, der weil er jüdischer Abstammung war, trotz der DNA-Kontrollen, trotz der ganzen Maschinerie der Rüstung und militärischen Kontrolle nicht rechtzeitig identifiziert worden war.
Vor kurzem las ich dann das Buch Apeirogon von Colum McCann (2020 auf Deutsch erschienen), das mich betroffen und nachdenklich machte. Es ist ein sehr artifiziell konzipiertes und kompliziertes Buch; der Schriftsteller schreibt: „Apeirogon ist ein Hybrid-Roman, in dem das meiste erfunden ist, eine Erzählung, die wie jede Erzählung Spekulation, Erinnertes, Tatsachen und Phantasie verwebt“. Die Hauptgeschichte ist eigentlich eher schlicht und beruht auf wahren Begebenheiten; der Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern wird anhand der Lebensgeschichten zweier Väter dargestellt, die durch widrige Umstände mit dem Tod ihrer Töchter leben mussten. Der Israeli Rami Elhanan verlor seine Tochter Smadar, 13 Jahre alt, durch ein Selbstmordattentat eines Palästinensers, im Jahr 1997. Der Palästinenser Bassam Aramin verlor seine Tochter Abir, gerade 10 Jahre alt, zehn Jahre später durch den Schuss eines israelischen Grenzsoldaten mit einem Gummigeschoß in den Hinterkopf des Mädchens. Die beiden Väter trauerten und trauern, waren voll Hass für die jeweils andere Seite und doch gelang es ihnen ihren Hass und ihre Verzweiflung zu überwinden; sie traten dem parent circle und den combatants for peace, gehen in die Schulen, in verschiedene Organisationen an wirklich unterschiedlichsten Orte, auch in der ganzen Welt, und erzählen ihre Geschichte. Dieses Erzählen wirkt für sie, wie eine Art Therapie, sie werden Freunde und glauben wirklich daran, dass der unmögliche Zustand der Besatzung überwunden werden kann und sie wieder in normalen Verhältnissen leben können. Es ist auch die Geschichte von der Fähigkeit der Menschen zu verzeihen, sich dem anderen zuzuwenden, ihn als Persönlichkeit wahrzunehmen, ihm auch bei schwierigen Situationen beizustehen. Wir erfahren, dass Bassam irgendwann einen Zivilprozess gewinnt, auch dank der ständigen Hilfe von vielen Israelis, nachdem das Militär zuvor versucht hatte, alles zu vertuschen, und er vom israelischen Staat ein hohes Schmerzensgeld bekommt.
Das ist in Kürze die Handlung des Romans; doch er umfasst 1001 kleine oder wirklich kleinste Kapitel, die zunächst von Kapitel 1. bis 500. gehen und dann ab der Mitte des Buches wieder zurück laufen. Die Kapitel betreffen nicht alle, sogar viele gar nicht, die Haupthandlung direkt, sie entstehen, wie mir scheint, durch freie Assoziation; wie Mosaiksteinchen fügen sie sich zusammen, manchmal durch sehr entfernte Beobachtungen, Informationen, Zitate, Beschreibungen.
Warum der Titel Apeirogon? Der Autor schreibt in Kapitel 95: „Apeirogon: eine Figur mit einer zählbar unendlichen Menge von Seiten“. Kap. 94.: „Von griechisch apeiron: das Unbegrenzte, das Unbestimmte“. Weiter in Kap. 93.: „Als Ganzes nähert sich ein Apeirogon der Form eines Kreises an, ein kleines Stück erscheint hingegen, in vergrößerter Ansicht als grade Linie. Man kann innerhalb des ganzen überall hingelangen. Jeder Punkt ist erreichbar. Alles ist möglich, sogar das scheinbar Unmögliche. Gleichwohl ist auf jedem Weg zu einem beliebigen Punkt immer die Form in ihrer Gesamtheit beteiligt, auch die Bereiche, von denen wir noch keine Vorstellung haben“.
So entstehen die Kapitel des Buches, sie wachsen immer weiter. Sie betreffen alle Bereiche des Lebens: Vogelbeobachtungen, Bemerkungen über Peter Brook und seine Theatertruppe, die das Stück Die Konferenz der Vögel aufführte, in dem alle Vögel dieser Welt zusammenkommen, um darüber zu entscheiden, wer ihr König sein soll; über die Vögel als Symbole des Friedens, ihr Tod an der von Israelis errichteten Mauer, die Bemühungen, eben die Vögel zu retten. In Kapitel 16 heißt es im zweiten Teil: „Vögel kommunizieren vor allem akustisch, denn ihre Laute – singen, rufen, pfeifen, piepen, zwitschern, krächzen, klappern, trällern – werden an Orte getragen, die weit außerhalb der Sichtweite liegen.“ Es gibt längere Geschichten über Musik, auch über moderne Musik, über andere Kulturen, über Sprachen und Aussprache, die Geschichte des Hebräischen, über Bibelauslegung (dass Jesus das Kreuz nicht hätte durch die Jerusalemer Altstadt tragen können), über Einstein und Freud und deren Briefwechsel, Beschreibungen der Reisen der Helden, ihrer Familien (z.B. darüber dass Ramis Frau Nurit Peled-Elhanan, eine Friedensaktivistin und Universitätsprofessorin, 2001 den Sacharow-Preis bekommt, gemeinsam mit dem palästinensischen Hochschuldozenten und Schriftsteller Izzat Ghazzawi, der zwei Jahre nach dieser Auszeichnung, „innerlich gebrochen“ stirbt), über Demonstrationen der Friedensaktivisten, die Jerusalemer Stadtgeschichte, Entstehung von Groß-Jerusalem mit den kleinen palästinensischen Dörfern, den Waffenhandel und die Entwicklung von immer intelligenteren und zielgenaueren Waffen, auch eine Geschichte über Michail Timofjewitsch Kalaschnikow, der kurz vor seinem Tod in einem Brief an der Patriarchen der russisch-orthodoxen Kirche schrieb, er wolle wissen, ob er für den Tod so vieler Menschen verantwortlich sei, über die Errichtung der Check-points und deren Ausbau. Über den Mauerbau gibt es interessante Kapitel: Die Mauerarbeiter waren überwiegend Palästinenser. In Kapitel 407 heißt es: “Fünf Jahre lang war auf keiner anderen Baustelle in der Gegend so viel Geld zu verdienen: die Arbeiter nannten sie die Schekelmauer“, über Wasserknappheit usw., usw…
Manchmal gingen mir die freien Assoziationen fast zu weit, z.B. wenn der Autor über die Vorliebe des ehemaligen französischen Staatspräsidenten François Mitterand für Ortolane, kleine Singvögel, die als Delikatesse gelten, schreibt und darüber, dass er sich noch acht Tage vor seinem Tod solche hatte servieren lassen, über die ganze Prozedur wie man die Vögel mästet, vorbereitet und zubereitet. Ein Satz, den der kranke Mitterand gesagt haben soll, macht aber dann doch den Zusammenhang sichtbar: „Das einzig Interessante ist, zu leben“.
Dennoch erlaubt diese Art, über den Konflikt zu schreiben, der so tief verwurzelt scheint, dass man den Knoten gar nicht, nie und nimmer, lösen kann, ein kleines Fenster zu öffnen, einen fernen Ausblick auf eine hoffnungsvolle Zukunft zu geben, auf ein friedliches Zusammenleben, das für beide Seiten als einziger Ausweg bleibt. In der Mitte des Buches, in Kapitel 1001 erzählt der Autor ein Märchen aus einem anderen Leben: „Vor nicht allzu langer Zeit, in einem nicht allzu fernen Land fuhr Rami Elhanan, Israeli, Jude, Graphikdesigner, verheiratet mit Nurit, […] Vater […] und der verstorbenen Smadar […] zum Kloster Cremisan in der mehrheitlich von Christen bewohnten Stadt Bait Dschala, […] um sich dort mit Bassam Aramin zu treffen, Palästinenser, Muslim, Ex-Häftling, Aktivist, geboren in der Nähe von Hebron […] und Vater der verstorbenen Abir, die als zehnjährige von einem namenlosen israelischen Grenzpolizisten in Ostjerusalem erschossen wurde, knapp zehn Jahre nachdem Ramis Tochter Smadar, zwei Wochen vor ihrem vierzehnten Geburtstag, im Westen der Stadt drei Selbstmordattentätern zum Opfer fiel […], die an einem ganz normalen, nebligen, recht kühlen Tag Ende Oktober von weit her, aus Belfast und Kyushu, Paris und North Carolina, Santiago und Brooklyn, Kopenhagen und Terezin, in das rote Backsteinkloster […] gekommen sind, um Bassams und Ramis Geschichten zu lauschen und darin eine andere Geschichte, ein Lied der Lieder zu finden, in dem sie sich selbst entdecken – du und ich, in der steingefliesten Kapelle, in der wir stundenlang gespannt, hoffnungslos, zuversichtlich, verstört, zynisch, betroffen, schweigend zuhören, während die Erinnerungen über uns hereinstürzen, unsere Synapsen tanzen und wir uns in der vordringenden Dunkelheit all die Geschichten ins Gedächtnis rufen, die noch erzählt werden müssen.“ Dieses Märchen aus 1001 Nacht passiert doch in der Wirklichkeit und das ist die doch sehr hoffnungsvolle Botschaft dieses Buches. Kapitel 25: „Tausendundeine Nacht: eine List, um im Angesichts des Todes zu überleben“.
Damit ist ein Skelett für den Roman beschrieben aber nicht das Buch als solches, denn man findet in den unzähligen Kapiteln viele sehr interessante Informationen. Ein volles, gigantisches Buch, das ich wärmstens empfehle.