Anne Schmidt
6. Gefangen
Draussen, vor der Zellentür, rasselt ein Schlüsselbund und kurz darauf wird ein Tablett mit einem Pappebecher und einem Pappeteller mit zwei geschmierten Marmeladebroten hereingeschoben. “Moin”, schreit der Kalfaktor, der schnell seinen Kopf und seine Hand wieder zurückzieht.
Kai gilt als gefährlich und suizidgefährdet, weshalb ihm nur Geschirr aus Pappe und kein Besteck zusteht. Er hasst die durchgeweichten Weißbrotscheiben, die ihn an das labberige Toastbrot in der Laube erinnern. Nachdem der alte Toaster seine Funktion eingestellt hatte, war kein neuer gekauft worden. Für so eine überflüssige Kleinigkeit hatte seine Mutter kein Geld ausgeben wollen, denn ihrer Meinung nach war Olli schuld am Verglühen des alten Gerätes.
Sie frühstückte immer im Hotel, wo es natürlich die modernsten Küchengeräte gab. Olli und Kai mussten ihre Brote in der Pfanne rösten, wenn sie Toast haben wollten. Seitdem Kai nach der Schule häufig gar nicht nach Hause kam, ließ auch die Mutter sich selten in der Laube blicken. Olli ging inzwischen dreimal in der Woche zum Basketball-Training. Danach übernachtete er oft bei seinem besten Freund, dessen Eltern im Schichtdienst arbeiteten und froh waren, wenn ihr Sohn nachts nicht allein im Haus war.
Kai rollt sich von seiner Pritsche und zieht den Kaffee zu sich heran; er ist sogar aus echten Bohnen und nicht aus Getreide oder Zichorie. Der Kaffee ist sein einziges Elixier in dieser Zelle, die ihn langsam taub und blind macht.
7. Ausgeliefert
Wenn Kai von seinem Anwalt Besuch bekommt, muss er sich redlich mühen, dessen Fragen zu verstehen. Was will dieser Mann von ihm?
Er weiss, was er getan hat und er bereut es. Keiner kann seine Tat verstehen, die ihn und seinen Bruder zu den Mordbrüdern gestempelt hat.
Er will von niemandem Mitleid oder geheucheltes Verständnis. Er will seine Ruhe. Die Fragerei nach seinen Erlebnissen, nach seiner Abhängigkeit von einem gewissen Lehrer wühlen in ihm Schmerz, Ekel und Wut auf. Er bezweifelt, dass dieser gegelte Anwalt, der ihm als Pflichtverteidiger für die Nebenklage zugeordnet wurde, jemals wird verstehen können, warum er immer wieder freiwillig zu seinem Peiniger zurückgekehrt und auch noch in seine Wohnung gezogen ist.
Seine Mutter hatte, nachdem er längere Zeit nicht nach Hause gekommen war, in Krauses Vorschlag eingewilligt, die Pflegschaft für Kai zu übernehmen.
Sie schien geradezu erleichtert zu sein, die Verantwortung für Kai abgeben zu können.
Als die Formalitäten für diesen Akt im Amt erledigt wurden, sah Kai seine Mutter nach längerer Zeit zum ersten Mal wieder. Sie wirkte jugendlich und fröhlich wie immer und schien seinen angespannten Gesichtsausdruck und seinen flehenden Blick nicht wahrzunehmen. Sie betonte, wie froh sie sei, dass Kai einen Ersatzvater gefunden habe und endlich die starke Hand spüren würde, die ihm immer gefehlt habe. Bei dieser Redewendung hätte Kai beinahe aufgelacht, verzog aber nur gequält das Gesicht. Auch die Beamtin des Jugendamtes schien dieses Mienenspiel nicht wahrzunehmen, denn sie schaute mit abwesendem Blick an Kai vorbei, unterschrieb und stempelte die notwendigen Papiere fast automatisch und wünschte dem aufopferungsvollen Pflegevater viel Erfolg bei seiner verantwortungsvollen Aufgabe.
Kai zieht sich am Zellengitter hoch, um sich abzulenken, die Erinnerungen, die ihn überfluten, zurückzudrängen. Er hört von der anderen Seite einen Mann, der seinen Kopf entdeckt hat, nach ihm rufen und mit der Zunge schnalzen. Kai weiss, dass er das gefundene Objekt für die sexbesessenen Triebtäter wäre.
Die lusthemmenden Pillen, die ihnen verordnet werden, landen meistens im Klo, sodass die Lust der Männer immer unerträglicher und der nächtliche Albdruck immer stärker wird. Kai ist froh, dass er immer allein zum Duschen geführt wird und keinen Sport mit den anderen treiben darf.
Sein Verbrechen war so abscheulich, dass sogar Schwerverbrecher, die doppelt so schwer und um Einiges größer sind als er, vor ihm geschützt werden müssen. Seine Vorzugsbehandlung besteht in Isolation.
Fortsetzung in einer Woche