Monika Wrzosek-Müller
Tove Ditlevsen
Drei schmale Bändchen und so viel Erfahrung, so viel Wissen über das Leben von Menschen, über sich selbst, so viel Erlebtes darin, aber vor allem so viel Sensibilität und Gefühl für Worte, Sätze, Sprache. Und ein Leben voller Brüche, Wendungen, Leid und Hoffnung. Erstaunlich, erstaunlich, dass wir/ich sie nicht schon längst entdeckt haben. „Kindheit“, „Jugend“ und „Abhängigkeit“, so die Titel der drei Bände, erschienen zuerst 1967, dazu noch der Roman „Gesichter“, 1968 auch in Kopenhagen veröffentlicht.
Autofiktionales Schreiben, oder ist das eher biografisches Schreiben? Auf jeden Fall bringt Ditlevsen Erlebtes und Erfundenes zusammen, die Fakten, auch die sehr intimen, sind mit Fantasiesträngen durchflochten. War denn ihre Kindheit in wirklich sehr ärmlichen Verhältnissen daran schuld, dass sie psychisch labil geworden war und daran zerbrach, oder war ihr dritter Ehemann der eigentlich Schuldige? Schon als kleines Mädchen lebte sie immer in ihrer eigenen Welt, stellte sich ganz viel vor, schrieb auch ganz früh Gedichte. Sie las auch viel, doch ihren Wunsch, Schriftstellerin, Dichterin zu werden, musste sie geheim halten. Sie fragte ihren Vater: “´Was bedeutet Kummer, Vater´? Ich war bei Gorki auf dieses Wort gestoßen und liebte es. Er überlegte lange, während er über seine gezwirbelten Schnurrbartenden strich. ´Das ist ein russischer Ausdruck´, antwortete er dann. ´Es bedeutet Schmerz, Elend, Trauer. Gorki war ein großer Dichter`. Ich sagte fröhlich: ´Ich möchte auch Dichter werden`! Er runzelte die Stirn und erwiderte: ´Bild dir bloß nichts ein. Ein Mädchen kann nicht Dichter werden´. Ich zog mich gekränkt und betrübt wieder in mich selbst zurück, während meine Mutter und Edvin über meinen abstrusen Einfall lachten. Ich schwor mir, nie wieder jemand anderem meine Träume zu verraten und hielt mich meine ganze Kindheit daran.“ Doch sie kämpfte ihr Leben lang dafür und bekam auch ihren Platz in der dänischen Literaturgeschichte, im Kanon der Schullektüre.
Apropos Lesekanon: Nebenbei habe ich das gut recherchierte Buch von Nicole Seifert über den unpassenden Begriff Frauenliteratur gelesen. Erstaunlich für mich, was sie über Deutschland berichtet; nur Droste-Hülshoff hat es in den Kanon der Schullektüre geschafft, es gibt keine anderen „vorzeigbaren und würdigen“ Autorinnen. Da könnte Deutschland von seinem Nachbarland Polen viel lernen; ich bin mit so vielen Schriftstellerinnen aufgewachsen, dass ich sie gar nicht aufzählen kann. Hier nur die wichtigsten: Konopnicka, Orzeszkowa, Zapolska, Łuszczewska und natürlich die Königin der Trivialliteratur Rodziewiczówna, dann Pawlikowska-Jasnorzewska, Nałkowska. Folglich ist es wenig verwunderlich, dass gerade zwei Polinnen, Szymborska und Tokarczuk, in letzter Zeit den Nobelpreis bekommen haben.
„Schreiben heißt, sich selbst auszuliefern“, sagte Ditlevsen in einem Gespräch, “sonst ist es keine Kunst. Man kann das verschleiern, aber letzten Endes schreibt man doch immer über sich selbst.“ All die kleinen aber feinen Momente aus ihrer „Seelenbibliothek“ schrieb sie irgendwann auf, zuerst in ihr Poesiealbum, später in ihr Tagebuch; da standen alle ihre Gedichte, Gedanken und Reflexionen, die sie fleißig notierte. Sie durfte nicht aufs Gymnasium, musste eine Stelle annehmen, obwohl sie sehr gerne weiter gelernt hätte. Trotz der vielen Widerstände beharrte sie darauf, ihren Weg zu gehen, zu schreiben. Darum hat sie auch ihren ersten Mann geheiratet, der zwei Jahre älter als ihre Mutter und dreißig Jahre älter als sie selbst war – um überhaupt einmal veröffentlicht zu werden und um mehr Bildung und an etwas mehr Wohlstand zu kommen. Irgendwann wollte sie auch ein Zimmer für sich allein, zum Schreiben haben; es hätte auch eine Dachkammer ohne Heizung gewesen sein können. „´Denk immer daran, dass es Schoffeur heißt´, sagt er, ´nicht Schafför, Französisch, nicht Kopenhagenerisch´. Die Bemerkung verletzt mich, und ich gerate in Wut auf meine Herkunft, meine Unwissenheit, meine Sprache, meinen völligen Mangel an Bildung und Kultur, diese Wörter, die ich kaum kenne.“
Tove Ditlevsen wurde 1917 in Kopenhagen geboren, starb 1976, erlebte schlimme Phasen der Alkohol-, und Medikamentenabhängigkeit. Sie nahm Drogen, wozu ihr dritter Mann sie verführt hatte. Er war Arzt und gab ihr Spritzen mit Pethidin, um sie an sich zu binden. Dabei war sie zu dieser Zeit eigentlich schon eine gestandene Schriftstellerin, die viel veröffentlichte und gut davon alleine hätte leben können. Doch die Wirkung der Drogen, die sie bekam, war für sie so entlastend, sie verlor sich in Träumereien, musste an nichts mehr denken, nichts mehr machen. Die Zustände nach den Drogeninjektionen versetzten sie in ein anderes Leben, sie hatte keine Schmerzen, keine Verantwortung, keine Verpflichtungen, sie beschrieb es so: „Schlapp und fern und selig sah ich zu, wie er Kaffee trank und Helle ihren Haferbrei zubereitete. Dann verabschiedete ich ihn ebenso dösig und glücklich, doch tief in meinem vernebelten Gehirn nagte eine leise Angst“. Sie wurde vollständig drogenabhängig und landete irgendwann in der Psychiatrie, im Krankenhaus. Dort eine Entwöhnungskur, die sie sehr ehrlich beschreibt. Das Buch endet positiv, sie trennt sich von dem Mann, findet einen neuen: „Ich war von meiner jahrelangen Abhängigkeit geheilt, aber noch heute erwacht die alte Sehnsucht manchmal ganz leise in mir, wenn ich mir Blut abnehmen lasse oder an der Apotheke vorbeigehe. Sie stirbt nie ganz, solange ich lebe“.
Im wirklichen Leben verlief das etwas anders, bereits neun Jahre nach Erscheinen der autobiografischen Romane starb sie an einer Überdosis an Schlaftabletten, doch schon zwei Jahre vorher hat sie einen Suizidversuch gemacht. Die Beziehung zu ihrem letzten, ihrem vierten Mann Victor Andreasen scheint die beste und glücklichste gewesen zu sein. Trotzdem war der Mangel an Geborgenheit und Sicherheit, die unendliche Einsamkeit seit der Kindheit stärker als ihr Erfolg, der Mangel führte zu Depressionen, zur Schlaflosigkeit, sie versuchte damit zu kämpfen, indem sie immer mehr Tabletten konsumierte, immer mehr Alkohol trank und letztlich Drogen nahm; geholfen hat ihr das alles nicht. In ihren Aufzeichnungen finden wir aufschlussreiche Sätze: „Mit niemanden kann man seine heimlichsten Gedanken teilen. Mit dem Wichtigsten auf der Welt ist man allein. Es ist eine ewige Bürde und eine leise Freude, dass dich niemand dort erreicht und du niemanden hereinlässt.“
Sie fand in den Kanon der Schullektüre in Dänemark, wird auch gelesen und von jungen Leuten besprochen. Inzwischen gilt sie als Wegbereiterin für viele Autorinnen und Autoren, so für Anni Ernaux, für viele englische, aber auch deutsche Schriftstellerinnen und ihr autofiktionales Schreiben. Inwieweit das Schreiben sie befreit hat, denn sie schrieb offen und direkt über ihr Leben; was die Ursache für ihren frühzeitigen Tod war, werden wir nicht erfahren.