Frauenblick auf Putinland

Monika Wrzosek-Müller

Putinland“ von Leonid Wolkow

Seit dem Krieg in der Ukraine versuche ich diese Aggression zu verstehen und nachzuvollziehen, wie es in Russland dazu kommen konnte, dass ein Mann, den man allgemein für eher vernünftig und eher westlich orientiert hielt, uns allen und vor allem den Ukrainern das antun konnte. Ich weiß, dass meine Mutter immer sagte (sie hat im Zweiten Weltkrieg 8 Jahre unfreiwillig in der Sowjetunion, im heutigen Kasachstan verbracht), die Russen seien eine sehr nette, für Musik und Mathematik begabte Nation, aber ungeheuerliche Chauvinisten. Das kann man schlecht als Erklärung für diese Tat stehen lassen und so lese ich rundherum, was in den Jahren in Russland passiert ist, in denen wir uns eher für alles andere interessiert haben. So kam ich auch zu diesem Buch.

Der Untertitel enthält schon eine Information über den Inhalt: Der imperiale Wahn, die russische Opposition und die Verblendung des Westens.

Die einzelnen Kapitelüberschriften geben weiteren Aufschluss:

  • Russlands „wilde Neunziger“
  • Die Errichtung der Machtvertikale
  • Widerstandsgeist und Protestbewegung
  • Bürgermeisterwahl in Moskau
  • Nach der Annexion der Krim
  • Nawalnys Präsidentschaftswahlkampf
  • Die Schlagkraft vernetzter Opposition
  • Der Giftanschlag
  • Russland überfällt die Ukraine
  • Medienmacht und Meinungsbildung
  • Angriffsziel Internet
  • Andersdenken verboten
  • Putins Oligarchen
  • Wir gehören zu Europa
  • Nach Putin: Szenarien und Hoffnungen

Der Autor Leonid Michailowitsch Wolkow, geb. 1980, war und ist ein Freund von Alexei Nawalny, für den er als IT- Experte den Wahlkampf und die Antikorruptionsstiftung organisiert hatte. Also repräsentiert er eine Stimme von innen, aus dem Bauch Russlands (er stammt aus Jekaterinburg), auch wenn er seit 2019 im Exil, in Wilna/Litauen, lebt und von dort aus die Entwicklung in Russland weiter begleitet. Das Buch wurde aus seinen Vorträgen innerhalb von drei Monaten zusammengeschrieben, das merkt man dem Text auch an, doch der Leser erfährt viel über die Entwicklung Russlands zu einer Diktatur. Nebenbei lesen wir über die oppositionelle Szene, wie sie sich entwickelte, wie sie funktionierte, was sie erreicht hat. Den Optimismus des Autors teile ich nicht, aber es ist für uns alle gut zu wissen, dass es organisierte oppositionelle Szene in Russland gibt. Wir, dabei denke ich an die Polen, wissen gut, wie lange und wie gut die Opposition damals vor der Solidarnosc-Zeit organisiert sein musste, wie viel Organisationstalent und Wissen über die Möglichkeiten des Kampfes, wieviel Ausdauer und Durchhaltevermögen es brauchte, um das Regime zu stürzen. Natürlich gab es damals kein Internet und keine entsprechenden Möglichkeiten der Vernetzung, das erleichtert jetzt vieles, vor allem die Kommunikation, ist aber nicht immer verlässlich. Der mögliche Follower brennt nicht immer wirklich und unbedingt für die Sache; ein Klick im Handy oder am Laptop bedeutet nicht, dass derjenige auch einen Beitrag leisten und entsprechend wählen geht, ganz zu schweigen von der Teilnahme an Demonstrationen und anderen Aktionen der Opposition.

Russland hat in den letzten Jahren einen massiven Ruck Richtung Mafiastaat vollzogen; Putin gleicht einem Mafiaboss und obwohl er am Anfang des Buchs als „kleine Leuchte“ beschrieben wird, konnte er dieses riesige Land total nach seiner Vorstellung umgestalten. Dasselbe erzählt in einem Interview Boris Bondarjew, ein russischer Diplomat, der sein Amt nach 20 Jahren niedergelegt hat, in der FAZ am Sonntag: „Er hat dieses Regime errichtet. Es fußt auf Korruption, und zwar auf allen Ebenen des Staates und der Gesellschaft. Alles ist auf ihn ausgerichtet. Er ist die Säule, die alles stützt. Keiner aus seinem Zirkel kann die gleiche Autorität ausüben. Ich bin mit Alexej Nawalny einer Meinung, dass man Russland als Mafiastaat beschreiben kann. Alles beruht auf informellen Beziehungen und Vereinbarungen. Ganze Ministerien oder föderale Behörden werden für Person geschaffen. Wenn Putin in den Ruhestand träte, wäre er seinem Nachfolger ausgeliefert. Er hätte keine Garantien für seine Sicherheit.“ Die Geschichte dazu erzählt das Buch; es geschah schrittweise, immer deutlicher wurden die Anzeichen, doch wir schauten nicht hin, wollten es nicht sehen. Noch klangen in unseren Ohren die verführerischen Worte wie Perestroika, Glasnost etc…, dass in Russland Gorbatschow ganz unbeliebt war, haben wir gar nicht bemerkt. Dann, als allmählich die Protestaktionen verboten wurden, später die Gouverneure nicht mehr gewählt, sondern von oben eingesetzt wurden, hat sich auch niemand besonders aufgeregt. Dann kamen die Morde an Journalisten, Politikern; die Giftanschläge und sogar die Besetzung der Krim verliefen für Putin glimpflich, das alles finden wir in dem Buch wieder. „Im Eiltempo verwandelte sich Russland von einem hybriden autoritären Regime in ein totalitäres Regime, von einer Pseudo-Demokratie in ein vollendetes faschistisches System.“ Der Schritt zum Krieg war dann ganz nah.

Der Autor liefert aber auch die Idee und den Aufbau der Organisation, die sich gegen Putin gestellt hatte; die Bildung der „Stäbe“ Nawalnys als Einheiten des Widerstands in ganz Russland und die Antikorruptionsstiftung: „Stellen wir uns die Pyramide als einen Eisberg vor, der im Meer schwimmt: die Spitze des Eisbergs ragt heraus, aber der allergrößte Teil der Eismasse befindet sich unter Wasser. Dem Kreml ist es in den vergangenen elf Jahren nicht gelungen die Protestbewegung in Russland zu vernichten.“ Aber auch horizontale Strukturen und Kommunikationsnetze wurden geschaffen, die viele Millionen Menschen verbinden.

Schön sind die Passagen über die Allmacht der Propaganda: „Der russische Fernsehzuschauer ist kein Idiot, er ist nur daran gewöhnt, in einem toxischen Informationsmilieu zu existieren. […] In der Sowjetunion gab es ein geflügeltes Wort: In der „Iswestija“ gibt es keine Wahrheit, in der „Prawda“ keine Nachrichten („Iswestija“ bedeutet Nachrichten, „Prawda“ Wahrheit- beides die wichtigsten Zeitungen Russlands). […] Und dass die neue Propaganda keinen Deut besser ist als die alte sowjetische, wissen sie auch. Das Problem ist, dass die Skrupellosigkeit und Maßlosigkeit der neuen russischen Propaganda ihr Vorstellungsvermögen schlicht übersteigt. Jeder Mensch kann nur so weit blicken, wie sein eigener Horizont reicht… Wenn heute dem russischen Fernsehzuschauer rund um die Uhr Horrorgeschichten von den blutrünstigen Nazis in der Ukraine erzählt werden, die Kinder bei lebendigem Leib auffressen, dann findet in seinem Kopf genau dieser Denkmechanismus statt. Natürlich glaubt er nicht wörtlich, was man ihm da erzählt, er weiß ja, dass er belogen wird, ein bisschen vielleicht, oder ein bisschen mehr, egal, aber doch nicht ganz und gar. Soviel er auch abzieht und herunterrechnet, am Ende bleibt ein kleiner Rest, den er glaubt. Er denkt, na gut, das mit dem Kinderfressen muss wohl stimmen, aber bestimmt nicht roh, wahrscheinlich werden sie sie vorher kochen oder wenigstens anbraten.“

Dem Ausblick in die Zukunft, die nach Putin kommen wird, widmet der Autor ein Kapitel: Szenarien und Hoffnungen. Die wichtigste Erkenntnis für mich war, dass der Putinismus Putin nicht überleben wird. „Das System, das Putin errichtet hat, kann er niemandem vererben, es ist absolut personalisiert.“ Also ist die erste Möglichkeit einer Veränderung der Tod des Diktators; es wird Kämpfe um seine Nachfolge geben, ein mögliches Interregnum auch. Ein anderes Szenario wäre ein Aufstand der Eliten, seiner Oligarchen, die nicht mehr genug verdienen, also eine Palastrevolution. Die dritte Möglichkeit ist der Massenprotest, wenn der Leidensdruck zu groß wird, zu viele Soldaten sterben, ihre Mütter es nicht mehr ertragen können. Das könnte in einen Bürgerkrieg ausufern, nur, was erlaubt uns bei all den schrecklichen Szenarien optimistisch zu bleiben? Um mit Nawalny zu sprechen, „to see the bigger picture“. Für den Autor bleibt der Ukrainekrieg nicht nur ein Horror, er hat neue und einzigartige Wege eröffnet zur Lösung von alten Problemen. Der Wandel Russlands zu einer Demokratie ist durch den Krieg viel realistischer geworden. Denn es muss eine Reinigung und Neuausrichtung des Landes geben, die Aufarbeitung und Aufklärung aller Verbrechen. Russland muss seine Lektion lernen, es gibt keine andere Option und das berechtigt uns zum Optimismus. Wichtig erscheint auch dem Autor, wie die Ära Putin endet; am besten wäre, wenn er vor den Internationalen Strafgerichtshof in Den Hag gestellt werden könnte, dann kämen alle seine Verbrechen und Taten ans Licht, es könnte sich kein Mythos des großen russischen Helden bilden.

Leider befinden wir uns heutzutage immer noch nicht an diesem Punkt der Geschichte und viele Menschen in der Ukraine sterben, die Städte werden bombardiert und irgendwie weiß niemand, wo, wann und wie diese Geschichte enden wird.

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