Anne Schmidt
9. Jahnke
Jahnke schiebt Kai die Banane zu. Er malt Spiralen in sein Heft und ist so vertieft in seine inneren Bilder von Drogenmissbrauch und dessen Wirkung auf Willenskraft und Skrupelabbau, dass Kai schon die halbe Banane gegessen hat, als Jahnke endlich fragt: “Hast Du Dich von Deinen Freunden verraten gefühlt?” Kais Kopf sinkt auf die Tischplatte und er beginnt mit einem dumpfen Laut, der aus seinem tiefsten Innern zu kommen scheint, zu weinen.
Jahnke schreckt zurück. Er hat noch nie einen Delinquenten zusammenbrechen sehen, auch nicht bei einer niederschmetternden Urteilsverkündung.
Hilflos streckt er eine Hand aus, um Kais freie Hand zu ergreifen, besinnt sich aber darauf, dass er ein Mann ist und jede Berührung von ihm unabsehbare Folgen haben könnte. Er beschränkt sich darauf, ein Taschentuch zu Kai hinüber zu schieben. Er versucht, sich vorzustellen, wie enttäuscht ein Mensch sein muss, wenn er sich mit seinem tiefsten Kummer an niemanden wenden kann, wenn er erkennen muss, dass auch seine angeblichen Freunde nichts von seinen Problemen wissen wollen. Vielleicht hat ihm sogar jemand zu verstehen gegeben, dass er selber an seinem Zustand schuld sei, dass er nur nach Hause zu gehen brauche, um seine Abhängigkeit zu beenden. Aber hätte Kai in seine unwohnliche Laube zurückkehren können, ohne die Erlaubnis des Jugendamtes?
Jahnke steht auf und klopft an die Tür. Kai schneuzt sich und wischt sich die Tränen ab. Er würdigt das letzte Stück Banane keines Blickes, sondern lässt sich willenlos von Rothers, der nach dem Klopfen eingetreten ist, die Hände ebenso willenlos auf dem Rücken fesseln.
Jahnke kramt in seiner Tasche und fördert ein Taschenbuch zutage; es ist ein Gedichtband mit tragisch-komischen Gedichten von Ringelnatz; Jahnke hatte lange überlegt, wieviel Intellekt oder Tragik er dem Jungen zutrauen könne, war von Hesse zu Trakl geschwankt, hatte “Der junge Törless” in die Hand genommen und die Erinnerungen eines Schülers aus der Odenwaldschule. Aber der Zweifel, dass ein Roman über Missbrauch seinen jungen Mandanten erleichtern könne, hatte ihn zu den Gedichten aus Ringelnatz’ Berliner Zeit greifen lassen.
Als Jahnke draussen in seinem Wagen sitzt, nimmt er sich vor, Kais frühere Freunde zu besuchen. Einer von ihnen hatte damals seiner Mutter von den Annäherungsversuchen seines Lehrers erzählt. Er war zum Prozess gekommen und Krause war zu einem Jahr auf Bewährung und zu einer Therapie verurteilt worden. Ausserdem wurde er an eine Schule in einem anderen Bezirk versetzt.
In Jahnkes Büro wartet nur seine Sekretärin auf ihn, sodass ihn nichts daran hindert, gleich die nötigen Anrufe zu tätigen, um Akteneinsicht zu erhalten.
Im Archiv des Gerichtes sind schon die angeforderten Akten bereitgelegt, als Jahnke nach einem frugalen Mittagessen dort ankommt. Er darf sie nicht mitnehmen, aber inzwischen gibt es eine lichtdurchflutete Leseecke mit bequemen Sesseln im Archiv. Er dankt kurz der freundlichen Archivarin und lässt sich gedankenverloren in einen der Sessel fallen. Die 1. Akte enthält hauptsächlich sachdienliche Hinweise zur Klägerin, ihrem minderjährigen Sohn Arne, dem Angeklagten und den zwei Freunden von Arne, Felix und Kai. Die Anklage, die auf sexuellen Missbrauch lautete, wurde vom Angeklagten vehement zurückgewiesen. Im Gegenteil: Der Anwalt des Angeklagten beschuldigte die Mutter von Arne, sich an Krause rächen zu wollen, da er ihrem Sohn nicht die gewünschte Zeugniszensur in Mathematik gegeben habe. Da Arne selbst nicht sehr gesprächig war, sich sogar in Widersprüche verstrickte, entschied der Richter, den Prozess zu unterbrechen und Arne von einem Psychologen befragen zu lassen. Bevor der Psychologe einen Bericht erstattet habe, wollte der Richter auch die zwei Zeugen nicht vernehmen. Herr Krause wurde, da keine Fluchtgefahr bestand, bis zur Fortsrtzung des Prozesses nach Hause entlassen.
Das Jugendamt wurde von dem Prozess unterrichtet und gebeten, Kai einen Platz in einer betreuten Wohngemeinschaft zu besorgen.
Da im Moment alle betreuten WGs voll waren, musste Kai zurück in Krauses Wohnung gehen, denn noch war Krauses Schuld nicht bewiesen.
10. Krauses Frau
Krauses Frau, die esoterische Kurse gab, sollte sich um Kai kümmern. Kai hätte beinahe laut gelacht, als er von dieser Scheinlösung hörte, denn bisher hatte diese Frau sich nie für das Treiben ihres Mannes in der gemeinsamen Wohnung interessiert. Kai roch immer die Haschischwolken, die aus ihrem Zimmer kamen und sah sie manchmal mit glasigem Blick in der Küche hantieren. Diese Frau als Schutzpatronin für ihn auszusuchen, dünkte ihn mehr als ein Treppenwitz. Als Krause mit Kai die Wohnung betrat, war sie gerade in der Küche. “Wie war`s?”, fragte sie mit unstetem Blick.
Krause erklärte ihr mit süffisantem Grinsen, welche Verantwortung nun auf ihr laste und fügte hinzu: “Keine Angst, ich mach das schon. Gib uns etwas von Deinem Haschisch ab, dann wird Kai ein bisschen entspannter.” Da Kai nicht rauchte, fing er nach dem ersten Zug heftig an zu husten. Krause amüsierte sich, klopfte ihm auf den Rücken und meinte: “Koks zu sniffen ist einfacher, aber im Moment habe ich keines da.”
Kai wollte heimlich in Carlas Zimmer schleichen, aber Krause hielt ihn schmerzhaft am Arm fest. “Wir zwei machen jetzt eine kurze Strategiebesprechung. Du willst doch sicher nicht, dass ich in den Knast komme, oder?” Kai schüttelte den Kopf. Er wollte auf keinen Fall vor Gericht aussagen und seine Willfährigkeit zugeben müssen. Er würde kein Sterbenswörtchen über den sexuellen Missbrauch sagen, aber die Aussage von Felix musste er beeinflussen.
Felix hatte die Annäherungen von Krause immer geduldet und Kai vermutete, dass er schwul war. Aber Felix durfte nichts von den Umarmungen und Küssen verraten, weil dann seine eigene Aussage unglaubwürdig sein würde. Mit der Ausrede, Felix instruieren zu müssen, verschwand Kai mit leichtem Gepäck aus der Wohnung.
Fortsetzung in einer Woche