Monika Wrzosek-Müller
Es hat sich so ergeben, dass ich über die Jahre viele Bücher von Schriftstellern aus dem ehemaligen Osten (DDR) gelesen habe. Schon vor längerer Zeit lasen wir alle den Roman Turm von Uwe Tellkamp und dann sahen wir uns den Film und verschiedene Versionen und Bearbeitungen für die Bühne in Theatern an (ich: im Hans Otto Theater Potsdam und im Staatsschauspiel Dresden). Das waren die Jahre um 2010; die Stücke und der Film haben dem Text, streckenweise lang und sehr gestreckt, gut getan und ihn im wortwörtlichen Sinne anschaulich gemacht. Trotzdem ist es ein großer Bildungsroman mit vielen Vorbildern, ein Schlüsselroman weit und breit angelegt, so dass, die Wende, die Umstande der friedlichen Revolution für viele nachvollziehbar und klarer wurden.
Dann kam für mich der Roman Kruso von Lutz Seiler, so um 2014, der den Bogen der Geschichte weiter spannte. Doch immer drehte sich die Handlung um die Wende und die Wiedervereinigung, den Sinn und den Preis, die die Gesellschaft der DDR dafür zahlen musste. Schon in diesem Roman (es folgt nämlich das nächste Werk: Stern 111) habe ich mit Begeisterung Seilers Beschreibungen der Zustände kurz vor der Wende gelesen, die in der sprachlichen Korrektheit mit leicht surrealen Zügen dargeboten wurden. Der Schriftsteller schaffte einen Mikrokosmos auf der Insel Hiddensee, in dem er seine Helden agieren ließ. Mir fielen besonders die geografische Genauigkeit der Beschreibungen auf, so dass der Leser die Topografie der Insel Hiddensee vor Augen hatte, die Entfernungen einschätzen, das Gelände, die Natur fast sehen konnte. Hier kamen ebenfalls viele Inszenierungen sowohl in Hans Otto Theater, in Leipzig etc…hinzu, als auch der von derselben Produktionsfirma wie bei Turm gedrehte Film, für den derselbe Autor Thomas Kirchner das Drehbuch geschrieben hat. Mich haben Seilers poetische, eigenwillige Sprache und der Zugang zur Realität sehr fasziniert; seine Welt ist magisch, existiert und spielt nach eigenen Gesetzen.
Erst vor kurzem las ich Romane von Ingo Schulze; ich kämpfte mich durch den von Literaturkritikern als „ultimativen Wenderoman“ verschrienen Werk: Neue Leben. Die Jugend Enrico Türmers in Briefen und Prosa. Herausgegeben und kommentiert und mit einem Vorwort versehen von Ingo Schulze (2005). Chronologisch gesehen war er vor dem Turm erschienen, hat aber damals nicht so viel Aufsehen erregt, auf jeden Fall wurde er nicht verfilmt. Ingo Schulze verarbeitet literarisch seine eigene Biografie, so kommen in dem Werk hauptsächlich die Helden aus dem Milieu der Intellektuellen, Schreibenden, Zeitungsmacher, Kritiker vor. Der Held Enrico Türmer des fast 800 Seiten dicken Romans schreibt Briefe an seine Schwester, Verotschka, einen Jugendfreund, Jo, und seine Geliebte, die bundesdeutsche Fotografin Nicoletta; Ingo Schultze (bemerken wir hier die Anspielung auf Ingo Schulze) gibt sie mit entsprechend übertriebenen und eitlen Anmerkungen heraus und das alles in dem berüchtigten Jahr 1989. Dabei macht sich der Autor über das ganze Milieu der Schreiberlinge, Literaturkritiker, Intellektuellen etwas lustig und verspottet sie. Mir persönlich wäre der Roman um einige Briefe weniger, sprich kürzer, lieber, doch die Fragen: „Auf welche Art und Weise kam der Westen in meinen Kopf? Und was hat er darin angerichtet?“, die sich der Held stellt, bleiben nicht nur auf die Ostdeutschen begrenzt, sondern sie betreffen viele, die nicht hier (im Westen) aufgewachsen sind. Und so, trotz der sanften Langeweile, die sich beim Lesen einstellt, ist es ein wichtiger Roman, der die Wiedervereinigung in Licht und Schatten zeigt, denn am Ende sind die Helden nicht zum Aufbruch bereit, eher stehen sie vor Trümmerhaufen, auch wenn sie dies sich selbst zu verdanken haben. Es gibt wunderbare Sätze über das Verhältnis Ost-West, die ich hier zitieren will: „Die Westsachen waren wie Mondgestein, entweder wurden sie einem geschenkt, oder sie blieben unerreichbar. Mit den Verwandten im Westen war es genauso wie mit dem lieben Gott und dem Herrn Jesus, die hatten einen auch lieb, obwohl man sie gar nicht kannte und nie zu Gesicht bekam.“ Und eine längere Passage, anlässlich der Weihnachtsbesuche der Eltern des Helden: „Im Westen wurden die Straßen unterirdisch beheizt, die Tankstellen schlossen nie, und weil die Leute im Westen gar nicht mehr wußten, was sie noch schöner machen sollten, hackten sie aus lauter Spaß die Straßen wieder auf, die sie gerade erst mit Asphalt überzogen hatten. Über jedem Geschäft, über jeder Tür blinkte Reklame, weshalb die Nächte taghell blieben und von einem Verkehr durchflutet waren wie bei uns nicht einmal nach der Maidemonstration. Trotzdem bekam man im Westen in der Straßenbahn, im Bus oder im Zug immer einen Sitzplatz. Im Westen duftete das Benzin wie Parfüm, und die Bahnhöfe glichen tropischen Gärten, in denen man den reisenden wundervolle Früchte darbot. Im Westen trug man in der Schule lange Haare und Jeans und kaute Kaugummis, mit denen sich kopfgroße Blasen machen ließen. Außerdem lag der Weltmarkt im Westen. Ich wußte nicht, wo genau, auf jeden Fall aber im Westen. Öffnete man denn nicht bei dem O von Ost den Mund wie ein Tölpel? […] Osten klang nach bewölktem Himmel und Omnibus und Baugrube. Westen nach Asphaltstraßen mit gläsernen Tankstellen, nach Terrassen mit Strohhalmgetränken und Musik über einem blauen See. Städte mit Namen wie Cottbus, Leipzig oder Eisenhüttenstadt konnten einfach nicht im Westen liegen. Wie anders klang dagegen Lahr, Karlsruhe, Freiburg oder Garching….“ Ich könnte weiter zitieren, weil diese Spitzfindigkeit und Ironie wunderbar die Lage und Vorstellungen der zwei Welten, die aufeinander prallten, beschreibt.
Von denselben Autor las ich gerade den neuen Roman Die rechtschaffenen Mörder von 2020. Zwar schreibt der Autor im Klappentext der Fischerausgabe, dass es eine Erzählung „über das Lesen und die Leser“ und „eine Liebeserklärung an das Papierbuch“ werden sollte, doch es ist wieder ein Roman über den Übergang, die Wende und das sich Zurechtfinden in der neuen Wirklichkeit. Aber handelt das Buch wirklich davon, ist es nicht eine Entfremdung der Entfremdung, Zweifel über Zweifeln das Thema? Denn der Roman ist in drei Teile geteilt und in jedem dieser Kapitel wird die Geschichte aus einem anderen Blickwinkel erzählt. Es beginnt wie ein Märchen: „Im Dresdner Stadtteil Blasewitz lebte einst ein Antiquar, der wegen seiner Bücher, seiner Kenntnisse […] einen unvergleichlichen Ruf genoss. Nicht nur Einheimische suchten ihn auf…“. Der Roman handelt von einem Antiquar und einem Antiquariat. Der Sohn einer Antiquarin, Norbert Paulini alias „Prinz Vogelfrei“, eröffnet 1977 einen Laden und führt ihn zum Erfolg; mit einem Lesesalon, einem Treffpunkt für alle an Literatur und dergleichen Interessierten, darunter für die vielen Dissidenten, mit Beschaffung von Literatur, die eigentlich in der DDR nicht zu haben war. So wird er zum bekannten, geschätzten Bürger. Dann heiratet er eine eher einfache, doch sehr resolute und gut organisierte Frau, eine Friseurin Namens Viola, mit der er einen Sohn hat. Da kommt schon die Wende und sein Antiquariat geht den Bach runter; die Bücher werden nicht gelesen, man kann alle Werke überall kaufen, auch die schöneren Ausgaben. Die Villa, in der er seinen Laden hat, wird den ehemaligen Eigentümern aus dem Westen zurückgegeben. Es stellt sich heraus, dass seine Frau als IM Berichte über die Treffen im Antiquariat verfasst hat. Er lässt sich scheiden und lebt alleine. Die Jahrhundertflut überschwemmt seinen neuen Laden mit den Büchern, er kann kaum etwas retten und begeht höchstwahrscheinlich Selbstmord, zusammen mit seiner Geliebten. Es gibt auch eine Episode, in der Paulini seinen, in die rechte Szene abgerutschten, Sohn deckt und sich über die Migranten so äußert, dass man ihn selbst in die rechte Szene (Pegida) einordnen könnte. Im dritten Teil des Buches schreibt die Lektorin des Schriftstellers mit Namen Schultze, der die Geschichte erzählen und aufschreiben soll. Sie will die Sache des Selbstmordes aufdecken und es kommt zu besagten Zweifeln und Vermutungen, Verdächtigungen, nichts steht mehr fest, alles unterliegt Veränderungen; je nachdem welche Perspektive eingenommen wird.
In den letzten Tagen las ich auch noch den Roman von Lutz Seiler Der Stern 111. Es ist ein sehr poetischer Roman, man bekommt richtig Lust auf diese vergangene Zeit des Anfangs, nach dem Mauerfall, in der noch alles möglich war. Lutz Seiler verführt mit der Geschichte und mit der Sprache, wir gehen den Weg nach Berlin mit ihm und schauen auf seine Eltern, die sich völlig hilflos und unbedarft auf den Weg in den Westen aufmachen. Die Passagen über das Leben von Carl, dem Hauptheld in Berlin mit seinem Shiguli, im Prenzlauer Berg, in der Rykestraße, in der Assel, der Oranienburgerstraße und am Kollwitzplatz gehören zu den intensivsten, eindrücklichsten und spannendsten für uns Berliner überhaupt. Es gibt angeblich Führungen zu den im Buch genannten Plätzen, es gab sie tatsächlich; so wie in Kruso, ist auch hier die Authentizität der Orte, die genaue Beschreibung der Entfernungen, der Topografie des Stadtteils, der paar Straßen unheimlich. Man kann mit dem Buch, wie mit einem Kompass und Reiseführer um die Ecken gehen und jetzt, leider nicht mehr, die Kneipen, die Cafés, die besetzten Häuser sehen. Die neue Wirklichkeit ist schnell eingerückt und hat diese magischen Orte in touristische Orte verwandelt. Manchmal, ganz selten weht ein Hauch der Melancholie, der Vergangenheit durch die Straßen. Die Sprache des Romans zwingt uns innezuhalten und nachzudenken, wie war das damals für mich, wie habe ich die Zeit erlebt. Sie beschwört auch die Magie dieser Orte; durch das geheimnisvolle und ständige Kommen und Gehen, Verharren, still bleiben, bewegen sich die Personen zwar im Roman, aber nur so als ob sie künstlich verschoben wären, als ob das mit ihnen passieren würde, in der scheinbaren Ruhelosigkeit herrscht eine ausgesprochene Bewegungslosigkeit. Die fotografischen Beschreibungen, fast wie Nahaufnahmen der wenigen Gegenstände und detaillierte Beschreibung jeder einzelnen Sache verleihen diesen Gegenständen etwas Unmittelbares aber zugleich nehmen sie ihnen alle Eindeutigkeit, alles ist irgendwie verschwommen und doch real, das Banale, Gewöhnliche bekommt den Geschmack von etwas Besonderem.
Die Geschichte der Eltern bildet ein Pendant dazu, wir lesen mit Erstaunen über den Mut und die Ausdauer, über die Beharrlichkeit von zwei fünfzigjährigen, absolut sesshaften Thüringern mit zwei Wanderrucksäcken und einem Akkordeon, wie sie sich auf den Weg in den Westen aufmachen und ihre Odyssee erleben. „Sie sind doppelt so alt wie ich, dachte Carl, und haben doppelt so viel Kraft.“ Es ist eine Gegengeschichte zu den Jammerossis, auch wenn auf sie, alles andere als ein Paradies im Westen wartet. Sie landen in den Notaufnahmelagern Gießen, Diez und Gelnhausen, schließlich und letztendlich in den USA, von denen sie schon früher geträumt hatten. Von der Geschichte mit der Faszination für den Rock`n`Roll und für den Sänger Bill Haley scheint Carl nichts zu wissen. Vielleicht ist das auch ein Roman über das Verhältnis zwischen den Eltern und dem Sohn, wie sie zueinander finden, jeder auf sich selbst gestellt und jeder auf eigene spezifische Weise. Sowohl Carl als seine Eltern brauchen offenbar so viel Klärung und Abstand, um sich auf einer anderen Ebene wieder treffen können.
Es ist ein Roman über die Ausnahme- und Zwischenzeit, Grenzöffnung und Wiedervereinigung, eine kurze Zeitspanne und der Hauptheld erkennt, dass sie zu Ende geht: „Schon auf dem Heimweg wusste ich, dass meine Zeit in der Assel abgelaufen war. Plötzlich war diese Einsicht da.“ Auch seine Eltern überlegen, ob sie nicht zurück nach Thüringen gehen sollen. Der Reifungsprozess ist abgeschlossen. Ein sehr schöner Roman.
Was mir bei all diesen Texten auffällt, ist, dass die Wende nur von den Autoren aus der ehemaligen DDR beschrieben wird. Sie erleben sie, kämpfen sich durch, verändern oder kapitulieren, passen sich an oder gehen unter. Von der anderen Seite habe ich keine Stimme gehört, vernommen. So würde ich auch, jetzt den Bogen sehr breit spannend, die Romane von so vielen Schriftstellern mit Migrationshintergrund in Amerika oder Großbritannien platzieren. Sie alle kämpfen um A place for us von Fatima Farheen Mizra, wie der Titel des neuen New York Times Bestsellers heißt. Und so verwundert mich gar nicht, dass ein neuer Roman diesmal von Alexander Osang (in Ostberlin geboren) Fast hell auf mich wartet, denn gesagt ist noch lange nicht alles.