Wie ich Joachim Zinsky kennenlernte.

Michael Müller

Oder: Wem gehört der Kiez?

Auf dem Rückweg vom Schlosspark Charlottenburg nach Hause ist mein Dackel immer schnell. Er zieht mich zielstrebig die Sophie-Charlotten-Straße entlang, um, ohne weiteren Umweg zuzulassen, in unseren Torweg einzubiegen. Heute steht uns auf der Sophie-Charlotten-Straße aber ein Mann im Weg, der kopfschüttelnd das Werbeplakat eines Bauunternehmens betrachtet – Zinsky, wie ich später erfahre.

Fahrig gleitet sein Zeigefinger über eine Computersimulation des Gebäudekomplexes mit Luxus-Eigentumswohnungen, der hier gerade gebaut wird, und er fragt mich: „Wo ist denn da jetzt was?“ Als ich ihm zu erklären versuche, dass das nur eine Simulation ist und wie die inzwischen halbfertigen Rohbauten in das Bild passen werden, ist er empört. „Wie jetze“, sagt er, „die jibt et noch jar nich? So ne Schweinerei!“

Dabei ist er eigentlich kein Miesmacher. Er will nur verstehen, wer da was in seinem Kiez macht und was das für ihn bedeutet. Er wohnt in der Pulsstraße, in einem Hochhaus aus den 70ern, im 6. Stock, Blick auf den Schlosspark – schön, obwohl es angeblich unerträgliche Nachbarn gibt. Aber der Parkblick interessiert ihn eigentlich weniger als das Gelände auf der anderen Seite, das jetzt bebaut wird. Bis 2014 waren da die alten Gebäude der „Puls-Klinik“ und es gab Bäume. Jetzt ist das alles weg und stattdessen dröhnen die Baumaschinen. Seine Sorge: Da kann man jetzt nicht mehr wie früher die Autos parken – obwohl er selbst kein Auto hat.

Was ihn wirklich beunruhigt, sind die vielen gleichzeitigen Veränderungen. Die unerträglichen Nachbarn in seinem Wohnblock sind ehemalige Patienten der Psychiatrie aus der Schlossparkklinik. „Und jetzt bauen sie da einen neuen Psychiatrietrakt, bald fertig…“ Was entsteht da vor seinen Augen? Die fehlenden Parkplätze werden das geringste Problem sein. Aber was wird mit seiner vertrauten Nachbarschaft?

Er beginnt, mir zu erklären (ohne Anlass), dass er eine Tagespflege hat – einmal in der Woche, „nein, oder zweimal. Sie war gestern, am Montag, da, als ich gerade…“ Dann fällt ihm wieder mein Dackel ein. Ja, er hat auch mal einen Hund gehabt – einen Schäferhund, der besonders wachsam war und einmal ein Kind im Kinderwagen gerettet hat, oder umgekehrt. Irgendwie scheint der Schäferhund auf tragische Weise ums Leben gekommen zu sein, schon in Zinskys Kindheit oder später.

Wir verabschieden uns irgendwann. Ich erkläre ihm, dass ich auch gleich um die Ecke wohne, also auch Nachbar bin. Meine Adresse, Mollwitzstraße, sagt ihm aber offenbar gar nichts. Er winkt mir nur im Weggehen zu – „Joachim Zinsky, nich verjessen!“

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