Am 3. September in unserer Reihe Autor(in)en aus dem Blog lasen in der Regenbogenfabrik Agnieszka Dębska und Karolina Kuszyk. Während der Lesung versprachen wir, dass man den ersten Text, den Agnieszka vorgelesen hat, in zwei Sonntagen auf meinem Blog lesen kann.
So ist es!
Agnieszka Dębska
Exil
Ich versinke in den Büchern, die ich lese, wie in einem Meer, und lasse mich von den Wellen der Worte umspülen, schmecke ihren Salz auf meinen Lippen. Die Geschichten hinterlassen mich in einer Art Trance, in der sich die Realität des Buches mit der mich umgebenden vermischt.
Lese ich von Katzenladies, rieche ich fast den säuerlichen Atem ihrer pelzigen Kinder und den modrigen Geruch ihrer zwiebelartig angelegten Kleider. Im Supermarkt halte ich vor den Regalen mit Tierfutter und wundere mich später Zuhause über die kleinen Aluminiumschalen mit Leber und Thunfisch, deren Inhalt ich schließlich der rot-weißhaarigen Katze vorsetze, die seit einigen Wochen vor unserer Haustür miaut. Als ich von einem Städtchen las, in dem Kinder verschwanden und später missbraucht und tot aufgefunden wurden, weinte ich bei jedem Wort und drehte beim Anblick der Nachbarskinder meinen Kopf weg, der ihre kleinen Körper in dunklen Verließen zu sehen glaubte. Abends verriegelte ich meine Wohnungstür, rollte mich im Bett zusammen und ließ das Licht die ganze Nacht lang brennen.
Ich lese Geschichten, in denen sich die Fäden menschlichen Lebens über Generationen hindurch und Ländergrenzen hinweg zu einem Tuch zusammen weben, das die Gerüche der Kindheit und den Schweiß des Alters aufnimmt und sich schließlich über den Körper legt zum letzten Schlaf. Von Kriegswirren lese ich und Vertreibung, während ich alten Menschen in der Bahn Platz mache. Ich versuche mich an die Düfte zu erinnern, die zu meiner Kindheit gehörten. An den Geruch, der die Küche meiner Großmutter erfüllte als sie eine Ente mit durchgeschnittener Kehle kopfüber hängte, um aus dem aufgefangenen Blut eine Suppe zu kochen. “Probiere doch wenigstens mal”, sagte sie später und hielt mir einen Löffel schwarzen Inhalts hin und ich liebte sie zu sehr, um mich zu weigern. Ich denke an die Hände meiner Großmutter, die eckig waren und groß, an ihre starken Schultern in dem blumigen, ärmellosen Hauskittel, hinter dem ich mich verstecken konnte, wann immer ich Schutz brauchte. Selbst damals, als ich mit meiner Freundin Anna Himbeeren aus dem Garten von Frau Kozlowski gepflückt und dabei ihre Blumen zertrampelt habe, und meine Mutter ihrer Scham mit einem Klaps auf meinen Hintern Ausdruck verleihen wollte, hatte sich meine Großmutter vor mich gestellt. „Lass doch das Kind in Ruhe“, hatte sie gesagt und mit ihrer großen, nach Arbeit riechenden Hand nach hinten gegriffen, um meinen kleinen Körper noch dichter an den ihren zu drücken. Wie seltsam, dachte ich, dass die rissigen Hände, die mit schneller Bewegung Federn rupften, mit dünner Nadel Socken stopften und Kartoffeln stampften, sich so gut dazu eigneten, über meinen Kopf zu streichen und sich um meine Schulter zu legen.
Ich lese von Bauern, die Soldaten wurden, von Soldaten, die Maurer wurden, Bergmänner, Ladenbesitzer, Säufer. Von Menschen, die ihre Heimat verließen mit dem Geschmack der einfachen Gerichte ihrer Mütter auf der Zunge, der sich von keinen Delikatessen wegspülen läßt und den sie nie wieder aufnehmen können.
Ich denke an die Fässer mit Sauerkraut im Dorfladen von Frau Pisak und an Frau Pisaks Tochter Kalina, die erwischt worden war beim Klauen eines Kohlkopfs vom Feld des Bauern Nowak. Alle Kinder klauten von seinem Feld, mit roten Wangen der Aufregung und der Angst, denn es wurde bewacht von einem Hund, der sich manchmal heranzuschleichen pflegte, bevor er sich mit lautem Gebell auf Diebe stürzte. Kalina, ein Jahr älter als wir, hatte ihn damals nicht kommen gehört. Zusätzlich zu dem Schmerz und dem Verband um ihren rechten Knöchel gab es als Strafe Hausarrest, dem sie nur entkommen konnte, wenn sie im Laden aushalf. Mit einer Holzzange griff sie in eins der Fässer und füllte für Anna und mich eine Tüte mit den tropfenden Fäden. Wir aßen das Kraut mit den Händen, kaum dass wir den Laden verlassen hatten, auf dem Weg zu den Obstgärten, um dort Äpfel zu klauen.
Ich lese von der Missgunst dauergewellter Frauen in Wohnungen, die nach Kohl riechen und nach dem Schweiß ihrer Männer, die nach Schweiß riechen mussten, weil es sich für Männer so gehörte. So wie es sich gehörte, eine Plastikschutzdecke über den Küchentisch zu spannen, ein Kreuz über die Tür zu hängen und sich seufzend seinem Schicksal zu ergeben. Ich las von Nasen, die gerümpft wurden über jeden, der anders sein wollte und den Versuch wagte, diesem Willen zu folgen.
Ich denke an Ewa, unsere Nachbarin an der Mickiewicz-Straße, die mit ihrer Mutter und einem sanft blickendem Schäferhund namens Charlie zusammen wohnte, und mich mit ihren dunklen Locken und runden Wangenknochen an die Jazzsängerin Hanna Banaszak erinnerte, die ich so mochte. „Alte Jungfer“, flüsterten die anderen Frauen im Haus einander zu, wenn Ewa mit Charlie an ihnen vorbei ging, ohne sich in ihre Gespräche über andere Nachbarinnen, die Preise im Laden oder die neuste Folge der wöchentlichen Telenovela hineinziehen zu lassen. „Guten Tag“, sagten die Frauen mit den Plastiküberzügen auf den Küchentischen, und tuschelten, kaum dass Ewa das Haus verlassen hatte, über ihren Lebensstil. „Und sie war nie verheiratet?“, fragte Frau Radomska aus dem zweiten Stock. „Wieso denn nicht? So hässlich ist sie ja nicht, da muss doch was nicht stimmen, wie kann denn das sein, in ihrem Alter, und kein Mann.“ Nur dieser Hund die ganze Zeit, das Monster, überall nur der Hund, wo sie den denn sonst mit hinein nehmen würde, haha, lachte Frau Mieczyk aus dem ersten Stock. Eigentlich sei das ja traurig, entgegnete Frau Radomska, die früher oder später alles traurig fand. „Ach was, ekelhaft ist das“, spuckte Frau Mieczyk. „Und ihre arme Mutter, die hat ja auch nicht mehr lange, wie sie das aushält, so eine Tochter, und in der Kirche sieht man die ja auch nicht, aber die Wohnung soll ja groß sein, die größte im Haus.“ Ungerecht sei das doch, seufzte Frau Wilga, die neben Frau Mieczyk wohnte, wo sie sich mit ihren drei Kindern und dem Nichtsnutz von Mann die zwei kleinen Zimmer teilen muss, aber was solle man machen, die Welt sei ungerecht, und den Armen wehe der Wind immer in die Augen.
Die Wohnung, die Ewa mit ihrer Mutter und Charlie bewohnte, hatte drei Zimmer und war mit ihren Flügeltüren zwischen den zwei großen Räumen, den hohen Fenstern und alten Holzmöbeln die schönste Wohnung, die ich als Neunjährige je gesehen hatte. Ich wurde von Ewa zum Tee eingeladen, und saß etwas schüchtern im Wohnzimmer, den ich in Gedanken ehrfürchtig als Salon bezeichnete. Ich bewunderte das Kristallgeschirr hinter der Glasvitrine und den seiden schimmernden Bezug der Stühle mit elegant geschwungenen Lehnen, es roch ein wenig nach Staub, nach Alter und nach Hundefell. Ewa lud mich noch zwei, drei Mal zu sich ein, wir tranken Tee und aßen Kuchen, den ihre Mutter buk, und hörten Schallplatten mit Liedern aus der Vorkriegszeit, deren Traurigkeit ich damals zwar fassen, aber noch nicht begreifen konnte. „Miłość ci wszystko wybaczy“ – „Die Liebe verzeiht dir alles, denn die Liebe, mein Lieber, bin ich“. Ich fühlte mich auserwählt, aber ich erzählte niemandem von meinen Besuchen in der Wohnung, die zurecht Gegenstand des nachbarlichen Neids war. Nicht lange nach meinem letzten Besuch erkrankte Charlie an Epilepsie. Ich hörte ihn nachts immer wieder heulen und Ewa entschuldigte sich jedes Mal mit geröteten, müden Augen, wenn ich ihr zufällig im Flur begegnete. Sie lud mich nicht mehr ein und tat es auch nicht, nachdem aus ihrer schönen Wohnung kein Murks mehr zu hören war.
Ich lese auf dem Weg zur Arbeit, wo sich in die Geschichte von Deportation das gleichmäßige Rattern meiner Bahn auf den Schienen hinein stiehlt, während ich an Häusern vorbei fahre, deren Fassaden vom Kriegsende zeugen, das für die einen Erlösung war, für andere Katastrophe. Ich forme mit den Lippen das eine oder andere Wort nach und wiederhole es flüsternd, wie einen Zauberspruch, von dem ich nicht sicher bin, ob er nicht Fluch ist. Die Worte lösen sich in mir auf wie Seife in Wasser und steigen in Blasen auf, in denen sich schimmernd das Gelesene und das Erlebte im Kreis drehen, treffen, auseinander driften.
Die Geschichte von Hans, der zu Heniek und dann wieder zu Hans und schließlich namenlos wurde, weil es niemanden mehr gab, der seine Identität und seine Herkunft bestätigen oder widerlegen könnte, läßt mich an den Mann denken, den ich jeden Abend in meiner Straße sehe. Seine dünne Gestalt verbirgt sich unter einem ausgebeulten Wintermantel, das Gesicht ist schmal und schlecht rasiert und seine Augen, die immer wässrig zu sein scheinen, blicken kaum jemanden direkt an. Er führt einen kleinen Terrier an der Leine. Tinchen, sagt er liebevoll, nun komm doch, Tinchen, was suchst du denn da, was willst du denn da, da ist nichts, was ist denn da, Tinchen, da ist doch nichts. Komm, Tinchen, komm, sagt er und meistens hört der Hund auf ihn und lässt von den Büschen ab, die ihn anziehen aus Gründen, die nur ein Hund kennt. Wenn Tinchen nicht hört, zieht der Mann nicht an der Leine sondern geht in seinem langsamen, gebeugten Gang zu dem Tier, hebt es hoch – Was machst du für Sachen, Tinchen – und drückt es sanft an seine Brust, läuft mit dem Hund auf dem Arm weiter, Du weißt doch, Tinchen, dass das nicht geht, weißt du denn nicht, was passiert ist bei der Rosi, das weißt du doch, das weißt du doch, dass das gefährlich ist, wie das enden kann, aber ich kann ja reden, wie ich will, was bist du neugierig, Tinchen, wir gehen jetzt nachhause und machen es uns gemütlich, machen uns was Feines. Tinchen wird unruhig und er lässt sie wieder zu Boden, ich sehe, wie er sich mit der Hand über die Augen fährt, bevor zuerst Tinchen und dann er um die Ecke verschwinden und mich stehen lassen vor dem Supermarkt, dessen Gänge ich kurz darauf durchquere wie in Trance, langsam und gebeugt, und appetitlos.
Ich lese von Sehnsüchten einer Generation, die die sichere Enge der Heimat eintauschen will gegen eine unbestimmte Freiheit mit exotischen Namen und Düften, die sie nur aus Geschichten ihrer Großeltern kennt, für die früher mal ein Leben unter Menschen anderen Glaubens und anderer Herkunft nichts Ungewöhnliches war, solange es genug Ähnlichkeiten gab, solange kein Unglück passierte, für das man die anderen verantwortlich machen konnte. Ich denke an die ersten deutschen Worte, die ich hörte, an Halt und Achtung und Schneller, schneller, Worte, die jedes Kind auf dem Hof kannte und die mit strenger Stimme gebrüllt wurden bei Spielen, bei denen keiner der Deutsche sein wollte, der Szkop, der Schwab, obwohl alle nach den Süssigkeiten gierten, die Monika von ihrem Vater aus Deutschland bekam. Das Silberpapier, in das sie gewickelt waren, die Bonbons und Kaugummis, wurde mit dem Handrücken glatt gebügelt und gesammelt wie Schätze, denn von klein auf lernte man nichts wegzuwerfen: wer weiß wozu es noch gut sein kann, zur Not kann man es eintauschen gegen etwas Brauchbares, Not macht erfinderisch. Die deutsche Schokolade verschwand in polnischen Mündern, den gleichen, die am nächsten Tag hinter Monikas Rücken “Verräterin” zischten, keiner sollte denken, dass sie käuflich waren, dass die süsse, klebrige Masse sie vergessen ließ, was ihre Eltern und Großeltern erlebt hatten, auch wenn sie selbst selten davon erzählten. Bis sich später in das Grau des Alltags das Rot, Blau und Grün der Hochglanzbilder mischte aus westlichen Katalogen für Autos, Reisen und Möbel, und das Reich immer weniger mit Entbehrung verbunden wurde und immer mehr mit Reichtum. Und als diejenigen, die die Heimat verlassen haben, ins Reich, ins Reich, immer seltener von sich hören ließen, nahm man es als Zeichen eines besseren Lebens, das zu teilen die Fortgänger nicht bereit waren. “Gierig war sie ja schon immer”, hieß es dann, und dass die Auszügler vergessen hätten, woher sie kamen, in ihren Palästen, die doch aussehen mussten wie die aus den Katalogen. Nur selten kam ans Licht, dass das Leben im Reich gezeichnet war von schlecht bezahlter Arbeit und bösen Blicken, von Polaken-Witzen und Scham und großer Sehnsucht nach der Heimat, nachts, wenn man zu müde war um zu schlafen in Palästen aus Hoffnung und Silberpapier.
Ich lese von Geburten und suche nach passenden Namen, erhebe mein Glas auf Brautpaare, die sich Seiten später angiften, ergreife Partei und fluche mit den Pechvögeln, denen ich Besseres wünsche als das papierene Schicksal. Auf der Suche nach eigener Leidenschaft probiere ich aus, was die Protagonisten antreibt, fotografiere, esse vegan, ziehe Hüte an, die der Hauptfigur gut stehen. Mit jedem Blatt, das die Erzählungen ihrem Ende näher bringt, fühle ich wie die Zeit vergeht. Ich bade in jeder Seite wie im Meer, das mich fort treibt von mir selbst, um mich mit der nächsten Welle meiner eigenen Geschichte näher zu bringen, in der Hoffnung auf ein Ufer, das ich Heimat nennen kann.