Briefe an meinem Vater

Diesen Text habe ich meinem altem Blog – QRA – entnommen. Wie der Text von Tobias Roth vorgestern, auch er war eigentlich in dem polnischsprachigen Blog “QRA” fehl am Platz.

Nicola Caroli

1

Lieber Vater,

erinnerst Du Dich an mich?

Ich erinnere mich vor allem an ein paar Fotos von Dir. Das, auf dem Du Klavier spielst und ein weißes Hemd trägst und den rotgoldenen Ring Deines Vaters am rechten kleinen Finger. Du lächelst. Dieses Foto ist länger auf der Welt als ich. Seit 56 Jahren spielst Du den gleichen Schlager, trägst das gleiche weiße Hemd, den gleichen Ring und lächelst das gleiche Lächeln.

Oder das andere Foto, auf dem Du Deiner Freundin Edith auf einer Aussichtsterrasse gegenübersitzt. Eure Unterarme sind auf den Tisch gelehnt und Eure Gesichter treffen sich fast in der Mitte. Du trägst eine dicke Jacke mit einem weißen Wollschal, Edith einen Pelzmantel. Seit Neujahr 1950 schaut Ihr Euch gerade in die Augen, und der Schnee auf den Hügeln im Hintergrund bleibt unberührt.

Du hast mir diese Fotos nie gezeigt. Es waren mehrere Wochen nach Deinem Tod vergangen, als meine Schwester und ich Deine Schubladen durchgingen und die weiße Papierschachtel mit Fotos fanden. Ab und zu schaue ich sie mir an und denke: ich habe Dich nicht gekannt.

An jenem Abend, als Du Klavier gespielt hast, saß Edith einen Meter rechts von Dir, mit einer Gitarre auf dem Schoß. Sie war bloß nicht im Bild. Ihr spieltet zusammen in einer Band, die Kapelle Schmidlin hieß. „Er war eigentlich kein fröhlicher Mensch … Er hat gern Klavier gespielt“, erzählte mir Edith, als ich sie vor ein paar Jahren besuchte. Das Foto von Euch auf der Aussichtsterrasse stammte übrigens aus ihrem Album von 1948-53, der Zeit, in der Ihr zusammen wart. Erinnerst Du Dich? In Deiner weißen Papierschachtel gab es nur das Foto von Dir am Klavier. Bis ich Edith traf, hatte ich geglaubt, Du spieltest allein.

Ungefähr 15 Jahre nach Deinem Tod habe ich verschiedene Menschen aufgesucht, die Dich gekannt hatten. Ich hatte das Gefühl, ich müsste das tun, bevor alle, die mir etwas über dich erzählen konnten, tot sein würden. Es war, als ob ich hoffte, bei Kaffee und Kuchen an Ihren Erinnerungen an Dich teilhaben zu können. Als ob ich Edith in die Augen schauen und mit Gewissheit sagen könnte: An einem Abend im Jahr 1949 spielte mein Vater in einer badischen Kleinstadt auf einem Sommerabschlussball Klavier. Er trug ein weißes Hemd, einen rotgoldenen Ring und eine Brille. Er war 23 Jahre alt. Zum ersten Mal seit Kriegsende gab es wieder Eiscreme.

2

Lieber Vater,

ich habe das Wort „Gewissheit“ im Wörterbuch nachgeschaut. Da steht, Gewissheit sei ein „sicheres Gefühl“ und ein „Wissen in Bezug auf etwas. In Bezug auf Deinen Tod kann ich mit Gewissheit sagen, dass ich Dich weder habe sterben sehen, noch dass ich Dich tot gesehen habe. Und ich habe das sichere Gefühl, dass man einen Menschen tot sehen muss, um mit Gewissheit sagen zu können, dass er tot ist. Es scheint, dass beide es gleichermaßen wissen müssen: der Lebende und der Tote. Beide empfinden auf ihre Art den Flug der Seele, die Verschiebung in der Atmosphäre, beobachten das illusionäre Heben und Senken der Brust. Beide bezeugen das Zusammenbinden des Kiefers, den Transport im schwarzen Plastiksack; später im Sarg die künstliche Kühle der Haut. Jetzt wäre es an der Zeit, den Rücken der Hände zu streicheln, die in den meisten Fällen gebrochen worden sind, um sie zu falten. Es wäre an der Zeit Abschied zu nehmen. Man kann einem Toten alles anvertrauen. Man kann ihn alles fragen. So einen Mann wie Dich wollten sie immer haben, hatten Deine Tanten über Dich gesagt: einen, den man alles fragen kann.

Als ich mit den anderen Familienangehörigen in der Kapelle auf Deine Beerdigung gewartet habe, sagte Deine Schwester, Du würdest es nicht wollen, dass man Dich so sähe. „Dass man Dich so sähe“. „So“. Dieses „so“ ruft Bilder hervor, die man oft in Filmen gesehen hat. In Deinem Fall sollte es vermutlich bedeuten „entstellt“. Warum solltest Du entstellt gewesen sein, wenn Du mit dem Hinterkopf auf den Boden aufgeschlagen warst? Haben Deine Angehörigen Dir nach dem Tod Deines Vaters auch gesagt, er sei entstellt gewesen? Und dass er es nicht gewollt hätte, dass man ihn so sähe? Oder haben sie nur erzählt, er sei auf dem Eis der Terrasse ausgerutscht und auf den Hinterkopf gefallen und sofort tot gewesen? Wenigstens konnten sie nicht sagen: „Er ist sanft eingeschlafen“.

Dein Tod ist für mich eine Geschichte. Am Anfang erklärt ein Arzt Dich für tot, während ein paar Leute, die Du gut kanntest, um Deinen toten Körper herumstehen. Dann ruft einer von ihnen meine Mutter an und erzählt ihr, dass Du gestorben seiest. Meine Mutter setzt sich in ein Flugzeug, um mir das zu erzählen. Ein paar Tage später sitze ich in einer Kirche, in der ich noch nie war. Jemand hält eine Gedenkrede. Weil ich in der ersten Reihe sitze, kann ich beobachten, wie eine Ameise über eine der weißen Kranzschleifen krabbelt. Sie sieht aus wie ein verkohltes Haar, das von einem Luftzug durch den Raum bewegt wird. Die Ameise scheint die einzig wahrhaftige Figur in der Geschichte Deines Todes zu sein.

Wie alle anderen hier glaube ich diese Geschichte. Jetzt erzähle ich sie Dir.

3

Lieber Vater,

ich schreibe. Wie eine Pferdemähne im Trab bewegt sich meine Hand über das Papier. Mit jedem Buchstaben setze ich ein Zeichen auf das Weiß der Seite. Am Ende der Zeile komme ich an den Rand, und falle nicht.

Ich bewege mich fort. Noch habe ich keine Angst davor, dass eine Wahrheit sich mir zeigen wird. Das kann sich jeden Moment ändern, wie wenn man im Wald spazieren geht und plötzlich bemerkt, dass die Bäume in der Überzahl sind. Ich bewege mich auf eine Wahrheit zu, die ich gleichzeitig umschreibe. „Tell all the truth but tell it slant“, riet Emily Dickinson. “Sag die ganze Wahrheit, aber nicht geraderaus.” Wem hat sie das erzählt?

Mit dem Schreiben ist es so, dass man jemanden haben muss, dem man etwas erzählt. Wem hättest Du vom Tod Deines Vaters erzählen sollen, als Du erfuhrst, dass er sich das Leben genommen hatte?

15 Jahre nach seinem Tod warst Du auf der Beerdigung von Frau Schneider gewesen. Frau Schneider war die Frau des Prokuristen in der Kartonagenfabrik, die Du mit Deinem Vetter leitetest. Sie hatte sich erhängt. Als Du Herrn Schneider Dein Beileid ausgesprochen hattest, sagte er: „Sie wissen ja, wie das ist.“ Du hattest nicht gewusst wie das ist, nun wusstest Du es. Der Unterschied von ein paar Worten. Wie standest Du in dem Moment da… Du hattest es wohl nicht glauben können, dass Deine Mutter Dich so belügen konnte und fragtest den Geschäftspartner Deines Vaters. Er bestätigte das Unfassbare. An einem Abend im Januar 1942 hatte sich Dein Vater aus einem Fenster der Kartonagenfabrik gestürzt.

Niemand wusste warum, so wie später niemand wusste, dass Du vom Selbstmord Deines Vaters wusstest. Deine Frau ließ sich nach 15 Jahren Ehe von Dir scheiden, Deine Mutter starb zwei Jahre nach meiner Geburt, Deine Schwester kochte Dir Spargel am letzten Sonntag vor Deinem Tod, ohne es zu wissen.

Als Du Dich aus einem Fenster der Kartonagenfabrik gestürzt hattest, wussten es alle, die um Deinen toten Körper herumstanden; doch was sie miteinander teilten, war nicht ihr Wissen, sondern ihr Schweigen. Heute schreibe ich dieses Schweigen auf. Die Wissenden und die Unwissenden stehen sich gegenüber auf dem Papier. Und Dein Vater stürzt sich gerade aus dem Fenster.

4

Lieber Vater,

letztes Jahr war ich am Frankfurter Flughafen. Mein Flug wurde wegen eines Triebwerkschadens gestrichen. Ein Vogel war in die Triebwerke geflogen. Die meisten Passagiere griffen zu ihren Handys und begannen die Geschichte mit dem Vogel zu erzählen. Es hörte sich so an, als ob der Vogel weder gelebt hätte, noch gestorben sei. Es schien, als habe er nur im Moment seines Sterbens existiert.

Ich erinnere mich gut an diesen Vorfall: Der Vogel hatte mich aufgehalten. Sein Flug war eine Station meiner Reise geworden. Ich denke, dass Du mir so fremd warst wie dieser Vogel, mit dem Unterschied, dass ich wusste, wie Du aussahst: die langen Beine im dunklen Anzug, der weiße Kragen um Deinen Hals, die braunen Augen hinter dem geschlossenen Fenster Deiner Brille.

Ich erinnere mich nicht an Deine Augen. Ich erkenne Dich nicht wieder in den Postkarten „Grüsse aus Portugal, Dein Papa“, den Röntgenbildern Deiner Hände, dem Polizeibericht Aktenzeichen 6UJs 159/84. Ich erkenne Dich nicht wieder auf dem Blatt Papier, wo Du tot auf dem Asphalt liegst und das Blut aus Deinem Hinterkopf die Neigung des Hofes zum Bach hinunterfließt, nachdem ich Dich mit meinem Stift aus dem Fenster gestoßen habe.

Wir hatten wenig Kontakt. Bei unserem letzten Telefongespräch sagtest Du, es ginge Dir nicht so gut. Kein Grund für Alarm – Du hattest immer irgendwas. Dennoch – Deine Stimme klang hilflos und gebrochen. Ich erinnere mich daran, dass ich sagte: „Warum gehst du nicht mit dem Hund spazieren … Die frische Luft wird Dir gut tun. Dann sieht die Welt gleich ganz anders aus.“ Du schwiegst. „Woher weißt Du denn das alles, Spätzchen?“

Wie kann ich mich an Dich erinnern? Ich erinnere mich nicht an mich selbst. An die Haut meines Rückens, die kleinen Knochen meiner Finger, meine Lungenflügel. Jeden Tag vergesse ich mein Gesicht. Abends, beim Zähneputzen, bemerke ich, dass die Zwischenräume meiner Zähne größer werden. Wie ist das geschehen?

Wer spricht Dich an mit „Vater“? Plötzlich zerstreuen sich alle Worte wie Pollen. Armeen von Antworten ziehen sich zurück. Das Blatt Papier zeigt sein Gesicht. Es erzählt seine eigene Geschichte, die ich nicht hören kann.

In einem Zwiegespräch zwischen meiner rechten und meiner linken Hand habe ich Dich einmal gefragt: „Wann wirst Du in Deiner Stimme mit mir sprechen?“ Du antwortetest: „Wenn Du keine Angst hast vor dem Schatten Deiner Hand auf dem Papier.“

Diese vier Briefe sind im Rahmen der Performance Ghost Letters IV – Eine Art Geduld (2004) entstanden. Mehr Info zur Performance und zum Ghost Letters Zyklus unter Nicola Caroli Performance
Tłumaczenie na polski: NicolaPL

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„Tell all the truth but tell it slant.“

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