Waffenlieferung an die Ukraine
Alice Schwarzer und andere wurden für ihren Brief an Olaf Scholz heftig kritisiert. Mehrere Prominente schreiben dem Kanzler nun ebenfalls – mit einem ganz anderen Appell. Intellektuelle um den Publizisten Ralf Fücks plädieren für die kontinuierliche Lieferung von Waffen an die Ukraine – nachdem eine Gruppe um Alice Schwarzer davor gewarnt hatte.
Anm. der. Administratorin: Wie gut es einem tut, dass es nicht nur Alice Schwarzer und Julie Zeh gibt, sondern auch Herta Müller und Maxim Biller, Olga und Vladimir Kaminer oder Daniel Kehlmann.

Dieser Artikel stammt aus der ZEIT Nr. 19/2022. Hier können Sie die gesamte Ausgabe lesen.

© Hannes Jung für ZEIT ONLINE; Sean Gallup/Getty Images; IPON/imago images
Sehr geehrter Herr Bundeskanzler,
auf der Maikundgebung in Düsseldorf haben Sie gegen Pfiffe und Protestrufe Ihren Willen bekräftigt, die Ukraine auch mit Waffenlieferungen zu unterstützen, damit sie sich erfolgreich verteidigen kann. Wir möchten Ihnen auf diesem Weg Beifall für diese klaren Worte zollen und Sie ermutigen, die Entschließung des Bundestags für Waffenlieferungen an die Ukraine rasch in die Tat umzusetzen.
Angesichts der Konzentration russischer Truppen im Osten und Süden der Ukraine, der fortgesetzten Bombardierung der Zivilbevölkerung, der systematischen Zerstörung der Infrastruktur, der humanitären Notlage mit mehr als zehn Millionen Flüchtlingen und der wirtschaftlichen Zerrüttung der Ukraine infolge des Krieges zählt jeder Tag. Es bedarf keiner besonderen Militärexpertise, um zu erkennen, dass der Unterschied zwischen “defensiven” und “offensiven” Rüstungsgütern keine Frage des Materials ist: In den Händen der Angegriffenen sind auch Panzer und Haubitzen Defensivwaffen, weil sie der Selbstverteidigung dienen.
Wer einen Verhandlungsfrieden will, der nicht auf die Unterwerfung der Ukraine unter die russischen Forderungen hinausläuft, muss ihre Verteidigungsfähigkeit stärken und die Kriegsfähigkeit Russlands maximal schwächen. Das erfordert die kontinuierliche Lieferung von Waffen und Munition, um die militärischen Kräfteverhältnisse zugunsten der Ukraine zu wenden. Und es erfordert die Ausweitung ökonomischer Sanktionen auf den russischen Energiesektor als finanzielle Lebensader des Putin-Regimes.
Es liegt im Interesse Deutschlands, einen Erfolg des russischen Angriffskriegs zu verhindern. Wer die europäische Friedensordnung angreift, das Völkerrecht mit Füßen tritt und massive Kriegsverbrechen begeht, darf nicht als Sieger vom Feld gehen. Putins erklärtes Ziel war und ist die Vernichtung der nationalen Eigenständigkeit der Ukraine. Im ersten Anlauf ist dieser Versuch aufgrund des entschlossenen Widerstands und der Opferbereitschaft der ukrainischen Gesellschaft gescheitert. Auch das jetzt ausgerufene Ziel eines erweiterten russischen Machtbereichs von Charkiw bis Odessa kann nicht hingenommen werden.
Die gewaltsame Verschiebung von Grenzen legt die Axt an die europäische Friedensordnung, an deren Grundlegung Ihre Partei großen Anteil hatte. Sie beruht auf Gewaltverzicht, der gleichen Souveränität aller Staaten und der Anerkennung der Menschenrechte als Grundlage für friedliche Koexistenz und Zusammenarbeit in Europa. Es widerspricht deshalb nicht der Ostpolitik Willy Brandts, die Ukraine heute auch mit Waffen zu unterstützen, um diese Prinzipien zu verteidigen.
Russlands Angriff auf die Ukraine ist zugleich ein Angriff auf die europäische Sicherheit. Die Forderungen des Kremls für eine Neuordnung Europas, die im Vorfeld der Invasion formuliert wurden, sprechen eine klare Sprache. Wenn Putins bewaffneter Revisionismus in der Ukraine Erfolg hat, wächst die Gefahr, dass der nächste Krieg auf dem Territorium der Nato stattfindet. Und wenn eine Atommacht damit durchkommt, ein Land anzugreifen, das seine Atomwaffen gegen internationale Sicherheitsgarantien abgegeben hat, ist das ein schwerer Schlag gegen die Nichtweiterverbreitung von Atomwaffen.
Was die russische Führung fürchtet, ist nicht die fiktive Bedrohung durch die Nato. Vielmehr fürchtet sie den demokratischen Aufbruch in ihrer Nachbarschaft. Deshalb der Schulterschluss mit Lukaschenko, deshalb der wütende Versuch, den Weg der Ukraine Richtung Demokratie und Europa mit aller Gewalt zu unterbinden. Kein anderes Land musste einen höheren Preis bezahlen, um Teil des demokratischen Europas werden zu können. Die Ukraine verdient deshalb eine verbindliche Beitrittsperspektive zur Europäischen Union.
Die Drohung mit dem Atomkrieg ist Teil der psychologischen Kriegführung Russlands. Dennoch nehmen wir sie nicht auf die leichte Schulter. Jeder Krieg birgt das Risiko einer Eskalation zum Äußersten. Die Gefahr eines Nuklearkrieges ist aber nicht durch Konzessionen an den Kreml zu bannen, die ihn zu weiteren militärischen Abenteuern ermutigen. Würde der Westen von der Lieferung konventioneller Waffen an die Ukraine zurückscheuen und sich damit den russischen Drohungen beugen, würde das den Kreml zu weiteren Aggressionen ermutigen. Der Gefahr einer atomaren Eskalation muss durch glaubwürdige Abschreckung begegnet werden. Das erfordert Entschlossenheit und Geschlossenheit Europas und des Westens statt deutscher Sonderwege.

Es gibt gute Gründe, eine direkte militärische Konfrontation mit Russland zu vermeiden. Das kann und darf aber nicht bedeuten, dass die Verteidigung der Unabhängigkeit und Freiheit der Ukraine nicht unsere Sache sei. Sie ist auch ein Prüfstein, wie ernst es uns mit dem deutschen “Nie wieder” ist. Die deutsche Geschichte gebietet alle Anstrengungen, erneute Vertreibungs- und Vernichtungskriege zu verhindern. Das gilt erst recht gegenüber einem Land, in dem Wehrmacht und SS mit aller Brutalität gewütet haben.
Heute kämpft die Ukraine auch für unsere Sicherheit und die Grundwerte des freien Europas. Deshalb dürfen wir, darf Europa die Ukraine nicht fallen lassen.
Wer diesen offenen Brief unterzeichnen möchte, kann das via change.org tun: http://www.change.org/KanzlerfuerUkraine
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Erste Unterzeichner unten – als ich es gestern um 15 Uhr unterzeichnet habe, war ich circa 6000. Bei dem Unterzeichnen sieht man die ganze Liste und auch die Zahl der schon geleisteten Unterschrifte.
Stephan Anpalagan
Gerhart Baum
Marieluise Beck
Maxim Biller
Marianne Birthler
Wigald Boning
Prof. Tanja Börzel
Hans Christoph Buch
Mathias Döpfner
Prof. Sabine Döring
Thomas Enders
Fritz Felgentreu
Michel Friedman
Ralf Fücks
Marjana Gaponenko
Eren Güvercin
Rebecca Harms
Wolfgang Ischinger
Olga Kaminer
Wladimir Kaminer
Dmitrij Kapitelman
Daniel Kehlmann
Thomas Kleine-Brockhoff
Gerald Knaus
Gerd Koenen
Ilko-Sascha Kowalczuk
Remko Leemhuis
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
Igor Levit
Sascha Lobo
Wolf Lotter
Ahmad Mansour
Marko Martin
Jagoda Marinić
Prof. Carlo Masala
Markus Meckel
Eva Menasse
Herta Müller
Prof. Armin Nassehi
Ronya Othmann
Ruprecht Polenz
Gerd Poppe
Antje Rávik Strubel
Prof. Hedwig Richter
Prof. Thomas Risse
Prof. Gwendolyn Sasse
Prof. Karl Schlögel
Peter Schneider
Linn Selle
Constanze Stelzenmüller
Funda Tekin
Sebastian Turner
Helene von Bismarck
Marie von den Benken
Marina Weisband
Deniz Yücel
Prof. Michael Zürn
ViSdP: Ralf Fücks, Zentrum Liberale Moderne, Reinhardtstr. 15, 10117 Berlin
5.05.2022 um 22:30 Uhr – 45.000 Unterzeichner