Anne Schmidt
8. Der Anwalt
Kai lässt sich auf den Boden sinken, als sich ein Schlüssel im Türschloss dreht. Dabei verliert er einen Turnschuh, weil die Schnürsenkel fehlen; er musste sie abgeben wegen Suizidgefahr. Er kann sich zwar nicht vorstellen, wie man sich mit Schürsenkeln erhängen kann, aber in total depressivem Zustand sollen es sogar achtzig Kilo schwere Männer geschafft haben.
Rothers, der Wärter, den Kai am sympathischsten findet, kommt herein, grüßt kurz und fesselt Kais Hände auf dem Rücken. “Jahnke wartet,” sagt er, nimmt Kais Arm und schließt die Zellentür ab. Jetzt beginnt das Spießrutenlaufen, vorbei an den geifernden, schreienden und gestikulierenden Männern, die Kais Geschichte vom Personal oder von Besuchern erfahren und weiter verbreitet haben.
Der Schlächter mit dem Engelsgesicht oder das Mörderbübchen nennen sie ihn, wenn er an ihren Türen vorbeischleicht. Sie machen obszöne Bemerkungen, stecken ihre Zungen aus den Gitterfenstern oder sabbern ihre Finger ab. Kai versucht, nicht hinzuschauen, setzt einen Fuß vorsichtig vor den anderen, wenn er die Trppe hinuntergeht und zählt die Stufen.
Im Vernehmungsraum sitzt Jahnke. An seiner Kleidung erkennt Kai, dass der Frühling draussen Einzug gehalten haben muss: Jahnke trägt eine fliederfarbene Krawatte zum gelben Sakko. Er schaut geflissen freundlich von seinem Laptop auf, als Kai und Rothers eintreten.
Kai lässt sich ohne Aufforderung auf den Stuhl jenseits des Tisches fallen und stößt mit seinen Händen an die Rückenlehne. Jahnke nimmt aus seiner Aktentasche ein eingepacktes Käsebrötchen und eine Banane. “Für dich,” sagt er jovial und schiebt die Schrippe zu Kai hinüber. “Wahrscheinlich hast Du wieder nicht gefrühstückt, oder?” Kai nickt, obwohl ihm diese Empathie unangenehm ist. “Keine Angst,” sagt der Anwalt”, ich will nichts von Dir ausser ehrliche Antworten. Am besten ist es vielleicht, wenn ich Fragen stelle, während Du die Schrippe isst. Du beantwortest meine Fragen mit Kopfnicken oder Kopfschütteln”. Kai nickt, merkt, dass er das Brötchen nicht greifen kann und wirft einen hilflosen Blick auf den Wärter.
“Nehmen Sie ihm bitte die Handschellen ab und warten Sie draussen, bis wir hier fertig sind.” Rothers schließt grummelnd die Handschellen auf und geht geräuschvoll hinaus.
Der Anwalt wartet, bis Kai den ersten Bissen geschluckt hat. Er zieht ein Heft aus der Tasche und beginnt seine Fragen und Kais gestische Antworten in einer Art Kurzschrift zu notieren.
“Deine Mutter hatte nicht viel Zeit für Dich und Deinen Bruder?” Kai nickt.
“Am Anfang bist Du gern zu Herrn Krause gegangen?” Kai nickt wieder.
“Zuerst fandest Du es angenehm, dass Herr Krause besonders nett zu Dir war?” Kai schüttelt entrüstet den Kopf.
“Du bist nur zu ihm gegangen, weil Du bei ihm den Computer benutzen konntest?” Kai bestätigt. “Du warst nach einigen Wochen spielsüchtig?”
Kai nickt zögernd. Er kaut ganz langsam und nimmt nur kleine Bissen, damit er möglichst lange schweigen kann. Die Frage, warum er – trotz der sexuellen Belästigungen durch Krause – immer wieder zu ihm gegangen und schließlich sogar zu ihm gezogen ist, kann und will er nicht beantworten.
Jahnke fragt weiter. “Hast Du Drogen genommen?” Na klar, ohne Kokain hätte er die schleimigen Küsse und die schmerzhaften Penetrationen gar nicht ausgehalten. Das Koks hat Krause besorgt, als er die Leidensmiene seines “Schützlings” nicht mehr ertragen konnte und sich etwas mehr Leidenschaft wünschte.
“Sind auch andere Jungen zum Computerspielen gekommen?” Kai nickt. “Hat Krause die anderen auch unsittlich berührt?” Kai nickt wieder.
Jahnke ist irritiert. “Haben die anderen sich das gefallen lassen?” Kai nickt. Jahnke ist sprachlos. “Haben die anderen bemerkt, was Krause mit Dir machte?” Kai zuckt die Schultern. Er hat seinen letzten Bissen runterschlucken müssen; er greift zur rettenden Banane, aber Jahnke zieht sie zurück.
Kai sieht ihn traurig an. Dieses Spiel kennt er. Er senkt den Kopf und schließt Augen und Ohren. Er kann Jahnke nicht erklären, wie enttäuscht er war, als er merkte, dass Felix und Arne kein Zeichen der Erkenntnis von sich gaben, dass sie Andeutungen, die Kai machte, geflissentlich überhörten, dass sie nichts wahrzunehmen vorgaben, wenn sie vor ihren Spielen saßen und sich über jedes überwundene Hindernis ihres Prinzen oder jeden abgeschossenen Panzer lauthals freuten. Die Annäherungen von Krause duldeten sie oder schüttelten sie leichthin ab.
Kai beneidete sie, denn sie konnten nach zwei oder drei Stunden das Spielfeld verlassen und in ihre trauten elterlichen Wohnungen heimkehren.
Fortsetzung in einer Woche