Monika Wrzosek-Müller
Emmanuel Carrère, Yoga
Mit dem Buch habe ich mich sehr lange herumgeschlagen, immer wieder darin gelesen, nachgedacht; war wütend und empört, manchmal habe ich gelacht. Also, es hat mich doch beschäftigt. Klar, Yoga ist auch mein Weg durchs Leben gewesen, oder ich gehe ihn immer noch, auf meine Art und Weise.
Damals vor Jahren, als ich aus Italien nach Deutschland zurückkehrte, hat mich Yoga gerettet. Es brauchte viel Zeit und etliche Anläufe, aber es hat mir geholfen, den Alltag und mein Leben zu bewältigen. Ich las alles, was mir über Yoga in die Hände fiel: Patanjali, Upanishaden, Veden (Ausschnitte) und dann die Sekundärliteratur, alle von Anna Trökes und von T.K.V. Desikachar, A.G. Mohan, David Frawley, E. Wolz-Gottwald, Mathias Tietke und viele mehr. Aber wirklich geholfen hat mir die Matte – die Übungen und Regelmäßigkeit und Disziplin und dass ich mich in keinerlei Sektenkreise habe hineinziehen lassen, weder in die, die nur an brutalste Verrenkungen glaubten, noch in diejenigen, welche Yoga nur als Business verstanden.
Jetzt kommt mir dieses Buch Yoga vor, wie eine Reise zurück in die Jahre der Ausbildung, meiner intensiven Beschäftigung mit Yoga. Auf jeden Fall ist es ein unverschämt ehrliches Buch, ehrliches Erzählen, hauptsächlich über die Tiefen des Verfassers. Ob das unbedingt interessant ist und unseren Horizont erweitert, ist andere Frage. Da ich immer angenommen habe, Yoga solle der Vernichtung oder wenigstens der Verminderung des eigenen Egos dienen, überrascht es mich, so viel ausgeprägtes Ego in dem Buch zu finden, neben all den Behauptungen, auf dem Yoga-Weg zu sein. Klar, die Wege zur Konzentration durch Meditation und letztendlich zu höheren Formen des Bewusstseins auf dem achtgliedrigen Pfad (Dhyana, Dharana und Samadhi) waren auch für mich damals fast der wichtigste Teil der theoretischen Yoga-Lehren von Patanjali, doch ich habe sie für mich anders ausgelegt. Das kann ich am besten am Beispiel des Verständnisses von Karma Yoga erklären: Karma Yoga, einer der sechs Wege des Yoga, wird in der indischen Philosophie als der Dienst an den Anderen verstanden. Bei vielen Adepten des westlichen Yoga wird er dagegen als meditativer Weg der Ausübung vieler alltäglicher Verrichtungen wahrgenommen; z.B. wird die Tätigkeit des Putzens der eigenen Wohnung in meditativer Weise, mit Achtsamkeit, als Karma Yoga angesehen. Das ist auch nicht schlimm, das konzentrierte, bewusste, achtsame Putzen kann ein guter Weg für die Bekämpfung der eigenen Misere oder des Unwohlseins sein. Doch das als den Yoga-Weg zu verklären, halte ich für völlig übertrieben. Überhaupt liefert mir das Buch ein Beweis dafür, wieviel Narzissmus und Selbstverliebtheit in dem westlichen Verständnis des Yoga-Wegs steckt. Vielleicht war eben dieser gesteigerte Narzissmus auch der Grund für die Nervenzusammenbrüche des Autors. Das sieht er auch selbst ein und kommentiert ironisch: „Eine Abschieds- und Verlusterfahrung, ein Moment, an dem das Leben kippt, genau das erlebe ich ja gerade. Doch wie soll ich unseren Schülern gegenüber zugeben, dass ich mir diese selbst aufbürde? Ich habe oft gesagt, man müsse das eigene Leid respektieren und nicht relativieren, und das neurotische Elend sei nicht weniger grausam als das gemeine Unglück, trotzdem: im Vergleich zu der kompletten Entwurzelung, die diese sechzehn-, siebzehnjährigen Jungen1 erlebt haben und erleben, ist ein Typ, der alles, absolut alles hat, um glücklich zu sein, und der sich abmüht, um dieses Glück und das seiner Angehöriger zu zerstören, eine Obszönität, die zu verstehen ich ihnen schwer abverlangen kann und die dem Standpunkt meiner Eltern recht gibt, dem zufolge man in Kriegszeiten nicht genug Freizeit hat, um neurotisch zu sein“. Leider ist der Tenor des Buches genau entgegengesetzt, der Autor kokettiert mit dem eigenen Leiden und macht es zum Hauptthema.
Diese absolute Konzentration auf sich selbst im Leben war für mich ein Novum, mit dem ich lange in der westlichen Welt zu kämpfen hatte. Und ich finde es fast pervers, den Yoga-Gedanken so umzukehren, ihn so zu verdrehen, dass er den Anforderungen der coolen, hochgebildeten, gutsituierten und selbstverliebten Menschen in der westlichen Welt dient und dienen soll. Irgendwann habe ich mich damit abgefunden – und da kam der Überfall auf die Ukraine und die alte Ordnung wurde wieder aufgehoben. Das Buch hat aber an erstaunlicher Aktualität gerade jetzt gewonnen, auch wenn es vor einigen Jahren geschrieben wurde. Es verdeutlicht nämlich die erwähnte Selbstverliebtheit und Denkweise einer westlichen Konsumgeneration, die vor allem auf der Suche nach dem eigenen Glück und Wohlbefinden ist. Die aus Angst um den eigenen Wohlstand nicht gewillt ist, der Ukraine zu helfen, sogar bereit ist, der Ukraine das Recht auf Selbstverteidigung abzusprechen. Würde die Ukraine sich Putin beugen, die Annexion einige Gebiete durch Russland in Kauf nehmen, dann hätten wir endlich wieder Ruhe und Frieden – diese Logik des Denkens kann man durch die Lektüre dieses Buchs besser nachvollziehen. Deswegen hat es mich auch gefesselt und zum Nachdenken gebracht, denn die Geschichte eines ungefähr sechzigjährigen Mannes, der mit eigenem Leben nicht klarkommt, scheint an sich nicht besonders faszinierend. Was das Buch aber bietet, ist radikale und verblüffende Offenheit bei der Beschreibung dieses „Kampfes“, z.B. in den Vipassana-Kursen, die „Kampftraining der Meditation seien. Zehn Tage lang, zehn Stunden schweigend von allem abgeschnitten: the real shit. In Internetforen berichten viele, diese Hardcoreerfahrungen habe sie bereichert und verändert, andere verurteilen sie als sektenhafte Vereinnahmung. Sie beschreiben den Ort als Konzentrationslager und die tägliche Zusammenkunft als Gehirnwäsche. Nordkorea sozusagen“; er ist bereit, dies zu absolvieren, auch andere Methoden der Meditation, um den eigenen Dämonen zu entkommen.
Auf dieser Sinnsuche vergessen viele, dass die Texte der Upanischaden, auch der Veden und die von Patanjali deshalb verfasst wurden, um den wirklich Leidenden zu helfen, ihnen einen Platz in der Kastengesellschaft zu geben und das sehr bescheidene Überleben zu ermöglichen, und dass sie spirituelle, fast biblische Texte sind.
Was dem Autor letztlich hilft, ist die Beschäftigung mit den jungen Flüchtlingen, die Abkehr von der eigenen Person, der Perspektivwechsel, durch den er in den Hintergrund tritt und wirklich über die anderen und deren Leben demütig nachdenkt. Insofern ist das Ende des Buches vielleicht hoffnungsvoll; das „freundliche Wasser“ heißt das letzte Kapitel, in dem er zum Schluss kommt: „Kein feierliches, meditatives Yoga, das der Auslöschung der Vritti, dem Ausweg aus dem Samsara oder dem lebenslangen Hinwirken auf einen Zustand der Gelassenheit und des Staunens gilt. Nicht das Yoga, über das ich dieses Buch schreiben und weihevoll behaupten wollte, man dürfe es nicht mit vulgärer Gymnastik verwechseln, sondern das, was junge Frauen auf der ganzen Welt machen, die genau wie diese hier finden, dass es eine wunderbare Gymnastik ist, die nichts von Patanjali halten und nicht die geringste Lust haben, dem Samsara zu entkommen, weil man das Samsara auch Leben nennen kann und weil, auch wenn Patanjali und Konsorten das Gegenteil sagen, das Leben gut ist. Nicht nur, das ist klar, aber auch.“2 Belassen wir es dabei und denken wir immer wieder an die Anderen.
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1 Es sind Jungs aus Afghanistan und Syrien, die er auf der griechischen Insel Leros in einem Schreibkurs unterrichtet und kennenlernt, wohin ihn sein umtriebiges Leben verschlagen hat.
2 Vritti, Samsara: beides Begriffe aus dem Yoga; der erste bedeutet Gedankenwellen, Gedankenbewegungen, der zweite wird auch im Buddhismus verwendet und bezeichnet den Lebensrad, den Kreislauf der Wiedergeburten.