Frauenblick: Witkacy

Monika Wrzosek-Müller

Warschau, Witkacy, Willkommen

Die kurzen Besuche in Warschau verlaufen meistens zwischen Bankterminen, Wohnungsinspektionen, den Treffen mit meiner Schwester, meiner Mutter, mit einigen wenigen Freunden, und selten, wirklich ganz selten reicht die Zeit für eine Ausstellung oder einen Film.

Diesmal hat mich die Ankündigung einer Ausstellungseröffnung ganz besonders angezogen. Die Ausstellung „Witkacy: Seismograph des Zeitalters der Beschleunigung“ war gerade einen Tag vor meinem Besuch eröffnet worden. Gezeigt wird sie im Warschauer Nationalmuseum, aus Anlass des 160. Jahrestages der Gründung des Museums. Interessant – ich war mir nicht bewusst, dass das Nationalmuseum schon 1862 als Museum der Schönen Künste gegründet worden war und sich im Lauf vieler Jahrzehnte zu einer zentralen Institution in Sachen Kunst entwickelt hatte.

Die Ausstellung kommt fast protzig daher; es werden nicht weniger als 500 Werke gezeigt: Gemälde, Zeichnungen, darunter die mit den Pastellen, Fotografien, Filmmaterial und schriftliche Dokumente. Die Arbeiten kommen zum Teil aus den entlegensten Museen in Polen, auch aus Privatsammlungen und sogar aus dem Ausland. Die Kuratoren wollten einen umfassenden Blick auf den Künstler werfen und ihn neu lesen; deshalb die meiner Meinung nach nicht ganz gelungene Aufteilung in acht Themenkreise – Bereiche, die sich sehr überlappen, überschneiden und dadurch wenig erklären. Dabei handelt es sich um die Kategorien: Kosmologie, Bewegung, Körper, die Einheit der Persönlichkeit, Dada/Zufall, die Urvision, die Geschichte, Individuen (vor dem Hintergrund des Mysteriums der Existenz). Innovativ ist die Idee, Witkiewicz mit anderen ausländischen Künstlern dieser Zeit in Beziehung zu setzen, daher bekommen wir auch Bilder von Wassily Kandinsky, Max Ernst, Rudolf Schlichter, Umberto Boccioni, Marcel Duchamp zu sehen und nicht zuletzt bieten die nebenan gezeigten Neuerwerbungen des Museums aus dem Werk Marc Chagalls Anregungen für Vergleiche. Tatsache ist aber, dass diese Themenkreise/Bereiche doch sein Schaffen bestimmten. Witkiewicz war geradezu besessen von der Kosmologie, von der Unendlichkeit des Weltalls, von der Verbindung des Individuums, der Natur mit den höheren Sphären; oft hat man aber den Eindruck, dass er das alles nicht ganz ernst nahm und sich selbst aus den schweren Verwicklungen des irdischen Lebens in das Himmlische flüchtete. Wenn es um die Kategorie Bewegung geht, sehen wir in jedem Bild, egal ob es sich um eine Zeichnung oder ein Ölgemälde handelt, dass eigentlich alles auf dem Bild in Bewegung ist, scheinbar unbewegliche Elemente, die als Hintergrund dienen, geraten auch in Bewegung. Sogar in den Porträts geraten die Gesichter in Bewegung, besonders diejenigen, die er nach entsprechendem Konsum von Alkohol oder Drogen schuf. Damit ist ganz eng die Kategorie des Körpers verbunden; Wikiewicz ist förmlich fasziniert vom Aufbau des Körpers und seiner Flexibilität. Er malt Muskel, Sehnen, die sich dehnen, bis ins Unendliche weiten, sich verändern, sogar Bäuche, die nicht besonders ästhetisch wirken. Meistens nach der Einnahme von Drogen verwandeln sich die menschlichen Körper in ganz andere Dimensionen und Längen, Menschen bekommen tierische Füße; diese wiederum werden größer als die Beine etc…

Die Einheit der Persönlichkeit ist vielleicht bei den Porträts von Witkiewicz am stärksten zu sehen; der Künstler versucht die Modelle mit ihrer ganzen Vielfalt, mit psychischer Tiefe darzustellen. Dazu dienten ihm auch die stundenlangen Sessions, oft mit vorangegangenen Fototerminen. Bei manchen nahm der Künstler verschiedene narkotisierenden Substanzen, um seine Erfahrungen zu maximieren und die Personen möglichst authentisch darzustellen, um in die Tiefe der Seele vorzudringen.

Überhaupt die Porträts; sie sind meiner Meinung nach das Wichtigste, was Witkiewicz als Maler geschaffen hatte. Er hat zwar hauptsächlich Personen aus der intellektuellen Elite gezeichnet, gemalt, immer mit immenser Intensität, Bravour, Spontaneität, sodass wir heutzutage, dank diesen Porträts, durchaus eine Ahnung von den Personen haben können. In der Ausstellung haben wir zwei riesige Wandflächen voll behängt mit den Porträts. Der Künstler selbst teilte sie in mehrere Kategorien; es gab die Kategorie „A“ – glattes, realistisches Porträt; „B“ betraf hauptsächlich die Porträts von Kindern, sie zeigten einen besonders charakteristischen Wesenszug des Models; dann gab es eine Mischung von „B+D“ oder „B+E“ bei denen die charakteristischen Züge besonders bei den Männerdarstellungen bis zum Karikaturhaften verstärkt wurden; bei den Frauenporträts endete das oft bei der Dämonisierung. Die Darstellungen vom Typ „C“ entstanden unter dem Einfluss von Alkohol oder Drogen, also waren sie in der Kategorie der „reinen Form“, nicht auf Bestellung und nicht verkäuflich, die Porträts Typs „D“ ahmten die Effekte derer nach, die unter Drogen entstanden waren (sie konnten aber erworben werden). Schließlich Typ „E“, mit weiteren Kombinationen bot eine psychologische Interpretation des Models durch den Künstler, konnte auch ähnlich wie Typ „A“ oder „B“ ausfallen. Die gewaltige Produktion an Porträts resultierte nicht nur aus den guten Verdienstmöglichkeiten seiner Porträtwerkstatt, sondern hauptsächlich aus der Faszination Witkiewiczs für Gesichter, ihre Persönlichkeiten, psychische Befindlichkeiten; er malte die Porträts oft nach Fotografien, die er selbst aufgenommen hatte, etc. Es handelte sich fast um eine Massenproduktion (es wurden nicht nur Porträts produziert, es gab auch Möbelstücke; in meiner Wohnung in Warschau steht immer noch ein Schreibtisch aus der Werkstatt in Zakopane, den ich nicht ausführen durfte, weil er zur Witkiewicz-Werken eingeordnet wurde); die teuersten waren die Porträts des Typs „A“, sie kosteten damals 350 zl; auch die vom Typ „E“ waren teuer. Die Kinderporträts kosteten von 150 bis 250 zl, Typ „D“ nur 100 zl. Der Typ „C“ blieb immer „bezcenny“, also einerseits nicht verkäuflich, ohne Preis und dadurch dann auch unerschwinglich. Seit 1921 gab es auch Porträts, die der Künstler selbst als „U“ klassifizierte – „U“ von Upadek [Niedergang] des Talents.

Auf den Bildern befinden sich unten am Rand oft diverse Zeichen, neben dem Namen des Künstlers und dem Erstellungsdatum auch Abkürzungen in Klammern, z.B. (T. C+Co), oder P 38 (T. B) N II com: das bedeutet Trinken (Alkohol) Cocain, Peyotl, Meskalin. Witkiewicz spielte mit den Drogen, wollte ihre bewusstseinserweiternde Wirkung spüren und ganz gezielt unter ihren Einfluss malen; er notierte manchmal sogar die Mengen der eingenommenen Drogen und beschrieb deren Wirkung: „die stärksten Werte stellten sich auf den Hinterbeinen über der Leere auf und fielen dann leise in den unerwarteten, nebensächlichen Abgrund und nahmen schreckliche, chimärische und bösartige Gestalten an.“ Doch in anderen Notizen, fast Protokollen, berichtet er, dass er ohne die Einnahme der Drogen viele Bereiche der Spontaneität, Farbenvielfalt und Dynamik nicht erreicht hätte. Er wusste zugleich aber, dass er irgendwann dann auch abhängig war und dass für junge Menschen eine große Gefahr davon ausging. Das Künstlerische Sich-Verlieren war es im „normalen Leben“ nicht wert, den Verstand tatsächlich zu verlieren. Davon handeln auch viele seiner Theaterstücke und anderen schriftstellerischen Werke.

In der Ausstellung sind die meisten Porträts ganz eng an zwei Wänden aufgehängt; dadurch fällt natürlich ihre Ähnlichkeit sofort ins Auge und die Einmaligkeit tritt eher zurück. Es gibt natürlich einige Porträts alten Stils, die repräsentativ, auch wegen ihrer Größe, in einem anderen Raum hängen, darunter mein Lieblingsporträt von Jadwiga Witkiewicz, 1925 in Pastell.

Ein weiteres Motiv der Ausstellung ist die Urvision, bedeutend, dass der Künstler nicht dem Ursache-Wirkung-Prinzip der ihn umgebenden Welt verpflichtet ist, sondern mit dem ganz freien Spiel der Fantasie jongliert. Das führte freilich manchmal in die Sackgasse und endete in ziemlich austauschbaren Formen, Gestalten und Farbgebungen.

Witkiewicz wuchs in einer ganz besonderen Familie auf; beide Eltern waren der Kunst verpflichtet, die Mutter als Musikerin, der Vater Maler im Geist des Jungen Polen. Witkiewicz wurde in Warschau geboren, wuchs aber in Zakopane auf. Er wurde zu Hause unterrichtet, besuchte keine Schule, hatte keine „normalen“ Schulkameraden, sondern eher Gleichgesinnte wie Leon Chwistek oder Bronislaw Malinowski, mit dem er später eine längere Reise nach Australien zu den Aborigines unternahm. Nach bestandenem Abitur studierte er kurz an der Kunstakademie in Krakau. Dann lebte er eine Zeit lang in Petersburg. Zurück in Polen heiratete er die Enkelin des berühmten polnischen Malers J. Kossak, Jadwiga von Unrug, und lebte weiter in Zakopane, wo er eine Art Firma gründete, die neben Porträts auch Möbel produzierte. 1939, beim Einmarsch der Deutschen in Polen, floh er in den Osten des Landes, nach Lemberg, und nachdem die Sowjets aufgrund des Molotow-Ribbentrop-Pakts Polen ebenfalls überfallen hatten, brachte er sich ums Leben; er nahm eine Überdosis von Schlaftabletten ein und durschnitt sich die Pulsadern.

Ich denke, sein Elternhaus, seine Erziehung, die Zeit, in der er in Polen lebte, trugen sehr zu der künstlerischen Persönlichkeit bei, die er schließlich wurde. Er hatte aufgrund der Freundschaft mit B. Malinowski sogar Zugang zu Denkweisen der Ethnologie, sah sogenannte Urvölker; er dachte über die Schnelligkeit der Entwicklung der Zivilisation und über Spiritualität nach – damit ist vielleicht die Kategorie Geschichte, aber auch die letzte Kategorie Individuen verbunden. Er war schon seiner Zeit verbunden, etwa durch den Gebrauch von Pastell, durch die Darstellungen einer bestimmten Elite und einer bestimmten Lebensart. Durch sein Experimentieren auch mit der Fotografie und dem Film bewegte er sich aber auch schon in Richtung der Performances und des Avantgardistischen. Besonders in seinen Schriften wurde er zum Vorläufer einer neuen Epoche und war Ideengeber für Künstler wie Tadeusz Kantor oder Schriftsteller wie Czesław Milosz.


Ausstellungsseite des Museums (in Englisch)

3 thoughts on “Frauenblick: Witkacy

  1. “(..)brachte er sich ums Leben; er nahm eine Überdosis von Schlaftabletten ein und durschnitt sich die Pulsadern.”
    erstaunlich ist die gewissheit mit der sie über die mutmassungen ( nicht nur in diesem fall) schreiben;
    doch die menschen sind keine immobilien, das versichere ich ihnen.

  2. lieber herr tibor, ich würde gerne mal ihre texte lesen und seien sie versichert, ich weiß ganz genau, dass die menschen nicht immobilien sind!

    1. freilich, liebe dame, nur zu!
      sehen sie einfach was ich in 5 jahren auf diesem blog
      ( nicht nur von meinen eigenen texten)
      zugänglich gemacht habe, viel spaß!

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