und ein Regenspätsommer mit meiner Schwester
Für Pia
Ewa Maria Slaska
Meine Nachbarin hatte Corona. Ich habe ihr jeden Tag etwas von meinem Tisch zukommen lassen. Sie meint jetzt, die polnische Küche sei fantastisch. Als Dankeschön bekam ich eine Kinokarte mit einer Filmempfehlung.
HEINRICH VOGELER – AUS DEM LEBEN EINES TRÄUMERS
Deutschland 2022
Regie: Marie Noëlle – Buch: Marie Noëlle
Mit Florian Lukas, Anna Maria Mühe, Alice Dwyer, Johann von Bülow, Samuel Finzi
In diesem Jahr jährt sich Heinrich Vogelers Geburtstag zum 150. Mal. Grund genug für eine umfassende Ausstellung im Künstlerort Worpswede, aber auch der ideale Zeitpunkt für einen Film, der nach den Mustern einer Dokumentation erzählt, aber mit reichlich Spielszenen ausgestattet ist. „Heinrich Vogeler – Aus dem Leben eines Träumers“ ist so weder das eine, noch das andere, aber der vielleicht perfekte Ansatz, um den Künstler und den Zeiten im Umbruch, in denen er lebte, gerecht zu werden.
Heinrich Vogeler… Ich schließe meine Augen und plötzlich sind letzte 15 Jahre verschwunden und wir sind mit meiner Schwester Katharina in der Umgebung von Worpswede. Wir wohnen in einem Haus nicht weit von der Stadt, wo sich der Fußboden bewegt, wenn man geht, weil das Haus auf einem Moor gebaut ist. Damit der Fußboden und damit das ganze Haus nicht zerfällt, ist er auf zwei Platten gebaut, die nur durch Wände zusammengehalten werden.
Wir haben einen festen Tagesablauf. Aufstehen, frühstücken, arbeiten, dh. schreiben und übersetzen, Mittag kochen, essen, spazierengehen, Regenpilze sammeln und sie gleich nach dem nach Hausekommen braten und sofort essen, dann mit unseren Gastgebern ein Bisschen quatschen oder mit deren Kindern Brettspiele spielen, auf der kleinen vorgebauten Terasse sitzen, schweigen, dem quakenden Fröschen zuhören, Sterne gucken, schlafengehen…
Es regnet fast jeden Tag. Aber auch fast jeder Nacht kann man Sterne sehen.
Manchmal fahren wir zum Teufelsmoor, an Samstagen gibt es in den Dörfern rumherum Kirmes und Flohmärkte, ab und zu gehen wir in die Stadt, nach Worpswede, eine Stadt durch ihre Künstler-Verein Worpswede berühmt. Wir besuchen all diese Künstlerhäuser dort und gehen zum Grab von Paula Modersohn-Becker auf dem kleinem Friedhof. Auf dem Grab befindet sich eine liegende Frauenfigur mit einem kleinem Kind. Das ist Paula mit ihrer Tochter Mathilde, die sie bei der Geburt in den Tod schickte. Mathilde selber lebte aber schon sehr lange – 1907–1998. Paula starb 31-jährig. Ihre letzten Worten waren der Überlieferung nach: Wie Schade!
Für die letzten drei Nächte unseren Urlaubs verlassen wir unserem Einhaus-Dorf und ziehen in das Haus-im-Schluh, Museumshaus von Martha Vogeler, erste Ehefrau von Heinrich Vogeler. Überall hängen Vogelers Bilder, kleine Aquarellen sogar in unseren Zimmern. Im Speiseimmer Der Frühling.

1923 hat sich Martha, die Ehefrau, Geliebte, Muse und Mutter ihrer drei Töchter, und vor allem Modell für so viele seine Bilder, in einen anderen verliebt. Somit hat sie das gemeinsame Haus, den berühmten Barkenhof verlassen. Sie zog ins Haus im Schluh, am Rande des Dorfes, da also, wo jetzt auch wir wohnten.

Er blieb im Familienhaus, das, wegen kleines Birkenhain rumherum – Barkenhof genannt. Ein Haus, wo auch mehrmals Rainer Maria Rilke wohnte. Auf diesem berühmten Bild unten scheint noch alles in Ordnung zu sein, Martha ist noch da und alle Freunde, Vogeler selbst sitzt in der Ecke und spielt Cello. Aber wenn man richtig reinschaut in das Bild, sieht man, dass sich die Idylle auseinandergelebt hatte. Niemand lächelt, niemand schaut einen anderen an. Jeder ist für sich alleine und traurig. Sogar der Hund.

Nicht umsonst hat man den Film Träumer betitelt, nicht umsonst hat er sich selber, inmitten seines glücklichen Künstlerlebens, doch als Don Quijote verstanden, eine tragikomische Figur. Als er für Barkenhof ein Pferd kaufte, nannte er es partout Rosinante.
Er ist ein Verwandlungskünstler. Zuerst Liebling des Bürgertums und reicher Pater Familiae, dann zum Anfang des I Weltkrieges ein Freiwilliger, ein Soldat, aber mit einem Sonderauftrag, als Fotograf, Zeichner und Maler den gerechten Krieg Deutschlands gegen den Rest der Welt, zu verewigen. Er glaubt an Gerechtigkeit dieses Krieges, an seine Rechtmässigkeit. Schließlich muß sich Deutschland wehren. Und als er entdeckt, dass das Alles ein Märchen war, eine Kaiserslüge, verwandelt er sich noch einmal, diesmal in einem Kriegs- und Kaisersgegener.
Er bekennt sich zur Kommunismus, zur gemeinsamer Güte zum Wohle der gerechten Gesellschaft. Er lernt Marchlewski können, und seine Tochter Zofia, Sonja, die er später heiratet.
1924 verwandelt er nicht nur sich, sondern auch sein Haus. Aus dem Boheme-Treffpunkt wird Kinderheim für die Kinder, deren Eltern für Politik in Knast saßen.
1927 verlassen Sonja und Heinrich das Haus endgültig und ziehen nach Berlin, wo sie in der Hufeisen Siedlung ein Häuschen beziehen, in derselben Straße, nur ein paar Häuser weiter, wo Stanisław Kubicki wohnte, also der Künstler, der in diesem Blog schon zig Mal auftauchte. Sie waren beide linksorientierte Künstler und befreundet.
Vogeler ist 1872 in Bremen geboren, 1942 in Kasachstan, in Sowjetunion zum Tode verhungert. Ja, in der Sowjetunjon, also dort, wo er und Sonja 1931 freiwillig hingezogen sind, weil sie an Sowjetunion glaubten. Sie haben in Moskau geheiratet, in Sowjet Union einen Sohn bekommen, und haben sich dort 1941 scheiden lassen. Sonja hat überlebt. Sie ist nach dem Krieg nach Warschau gekehrt und noch viele Jahre gelebt (1898-1983). Er starb den Hungertod in Karaganda.
Sein Grab ist unbekannt.
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Obwohl der Journalist behauptet, Vogeler verstand sich als Don Quijote, und die Tatsache, dass er sein erstes Pferd Rosinante nannte, es zu unterstreichen scheint, habe ich nirgendwo sein Selbstbildnis als Ritter der Traurigen Gestalt gefunden. Dafür aber ein Bild von 1900, gemalt von Paula Modersohn-Becker. Im Film wird vermutet, dass Paula und Heinrich zeitlang enger befreundet waren und vielleicht gar ein Paar. Wer weißt also, ob der Don Quijote von Paula doch nicht Heinrich ist? Die Künstlerin selber nannte den Mann auf dem Pferd – Cervantes.
