Monika Wrzosek-Müller
Swidermajer – ein Juwel der Umgebung von Warschau
Die Bahnlinie, die schon in den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts nach Otwock oder noch weiter fuhr, brachte in der Zwischenkriegszeit alle nach frischer Luft Hungernden in die Sommerfrische. Die Lage an der Weichsel und dem Flüsschen Swider, inmitten von Kiefernwäldern, garantierte gutes, gesundes Klima. So ist es nicht erstaunlich, dass die schönsten und größten Villen, Pensionen und Hotels direkt an der Bahn entstanden. So war das in Falenica, Jozefów, Swider und Otwock.
Der Zeichner und Maler Michal Elwiro Andriolli, derselbe, der die Werke von Mickiewicz und Shakespeare illustriert hatte, entwarf erst einmal für sich selbst eine Holzvilla in der Nähe des Flüsschens Swider, wo er seine letzten Lebensjahre verbrachte. Da die Nachfrage nach dieser Art von Häusern plötzlich stieg, entwarf er viele Pläne für typische Sommerhäuser entlang der Bahnlinie. Jemand sagte, sie seien eine Kreuzung zwischen russischer Datscha und alpiner Schihütte, aber erst der Dichter Konstanty Ildefons Gałczyński gab dem Stil in seinem Gedicht „Der Ausflug nach Swider“ den prägnanten Namen Swidermajer („Diese Villen, wie der Wojewode will, sind im Swidermajer-Stil“; meine Übersetzung). Mich erinnern sie auch sehr an den Gebäudekomplex der Lungenklinik in Beeliz und an die Bäderarchitektur der Ostseeküste, wobei dort eigentlich nur die Veranden in Holzbauweise ausgeführt wurden; es soll sogar eine fabrikmäßige Produktion dieser Art von Häusern in Wolgast gegeben haben; sie wurden Wolgasthäuser genannt. Im Fall von Andriolli wäre eher die Anlehnung an russische Vorbilder denkbar, denn er verbrachte in Russland fünf Jahre der Verbannung wegen der Teilnahme am Januaraufstand 1863.
Den Stil charakterisierte eine leichte Holzkonstruktion und Holzverkleidung, obwohl einige der größeren Objekte doch in solider Ziegelbauweise hochgezogen und nur mit Holz verkleidet wurden. Die auffälligen Stilelemente waren: die vertikal und horizontal verlaufende Holzverkleidung, ein Satteldach, hölzerne, verzierte Fensterläden und die besonders schönen, reich geschmückten Veranden, oft mit Buntglasfenstern. Die Verzierungen an den Giebeln zeigten oft pflanzliche, seltener Tiermotive. Meistens wurden die Häuser nur in den Sommermonaten genutzt und standen im Winter leer. Der größten Popularität erfreuten sie sich nach dem Tod Andriollis, also nach 1893; allein in Otwock gab es um die 500 solcher Objekte. Die Mehrheit der Besitzer solcher Häuser gehörte der jüdischen Mittelklasse (über 50%) aus Warschau an. Schon 1893 entstand in Otwock das erste Sanatorium für die Behandlung von Lungenkrankheiten (Tuberkulose, Asthma etc…). 1923 erhielt Otwock sogar den Status eines Kurbads; es gab ein Casino, viele Cafés und Restaurants. Viele bekannte polnische Persönlichkeiten waren Gäste in den zahlreichen Pensionen, darunter Władysław Reymont, Józef Piłsudski, Henryk Sienkiewicz, Bolesław Prus, Julian Tuwim und Janusz Korczak. Es gehörte zum guten Ton, sich dort zu zeigen, sich am Wochenende zu treffen, mit ganzen Familien, Kindern, Großeltern.
Mein Vater besaß noch in den 80er Jahren zwei Grundstücke in Jozefów, das eine bewaldet und nicht zu bebauen, das andere konnte er irgendwann später als Bauland verkaufen. Wir fuhren in den sechziger und siebziger Jahren oft dorthin, um Verwandte zu besuchen, die in einem halb aus Holz errichteten, halb verputzten Haus wohnten, mit einem riesigen Garten, und ich erinnere mich an einen Opa (meine beiden echten waren im Krieg gefallen), der dort Bienen züchtete. Wir gingen auf den Sandpfaden zum Weichselufer oder, was ich nicht so sehr mochte, zum Swiderufer. Die Holzhäuser sind mir als verfallene, ungepflegte Ungeheuer in Erinnerung geblieben. Da war ihre Glanzzeit eindeutig vorbei.
Nach dem Krieg und dem Verschwinden der Juden wurden die Häuser ihren ursprünglichen Funktionen beraubt. Zwar waren sie als Sommerhäuser entworfen worden, ohne Heizung oder fließendes Wasser, doch wegen der Zerstörung Warschaus bewohnten sie viele obdachlos gewordenen Menschen ganzjährig. Es entstanden Slums, das Wasser im Fluss Swider wurde verunreinigt, oft gab es im Sommer Brände, denen viele der Häuser zum Opfer fielen.
Die Häuser verfielen und verfallen weiter, erst nach der Wende gab es erste Versuche, einige zu restaurieren. Die Kosten für solche Unternehmungen waren und sind horrend, weshalb nur wenige Exemplare wieder in ihren ursprünglichen Zustand versetzt werden konnten. Manche waren in Privatbesitz geblieben und wurden auch erhalten, doch die meisten verschwanden. Immer noch kann man die in großen Gärten gelegenen Ruinen finden, doch es werden immer weniger; nur wenige Objekte wurden unter Denkmalschutz gestellt.
Ein schönes Beispiel für die Restaurierung nach fast vollständiger Zerstörung ist die Pension Gurewicz, das größte Holzhausensemble in Polen. Es entstand in mehreren Etappen; seit 1906 wurde bis 1921 immer wieder ein Flügel oder ein Anbau hinzugefügt. Fairerweise muss man sagen, dass es sich um ein eben nur mit Holz verkleidetes Haus handelt. Zuerst war es als Privatvilla der Familie Gurewicz konzipiert, dann wurde es zum Sanatorium für ca. 80 Gäste. Gleich nach dem Krieg beherbergte es ein Militärkrankenhaus und 1948 verkaufte die Familie Gurewicz das Ensemble. Es wurde weiterhin als Krankenhaus genutzt, dann als Medizinisches Lyzeum, irgendwann war es in einem derart schlechten Zustand, dass es mehrere Jahre leer stand. In einem Zustand des völligen Zerfalls übernahm eine Autofirma das Objekt, um darin eine orthopädische Klinik einzurichten. Die Kosten für die Wiederherstellung wurden auf 10 Millionen Euro geschätzt. Von der ursprünglichen Idee, das Haus zu restaurieren, sind die Architekten abgegangen; das Haus wurde zerlegt und wieder neu aufgebaut, getreu nach den Fotos und Zeichnungen, getreu den erhalten gebliebenen Elementen. Es war das einzige Verfahren, um das Ensemble zu retten und ihm zugleich eine neue Funktion zu geben; natürlich stritten die Konservatoren, die Architekten, die Innendesigner, die Eigentümer, die Klinikexperten – und herausgekommen ist ein Kompromiss; so viele Funktionen zusammenzubringen, war eine echte Aufgabe und das Ergebnis kann sich wirklich sehen lassen und vielen Leuten gefallen.
Für das normale Publikum sind der großzügig angelegte Garten und ein Restaurant mit einer großen Sommerterrasse zugänglich; alles in einem wunderbar gepflegten Zustand.
Vielen Dank für diesen schönen Beitrag! Meine Frau stammt aus Świder Wschodni und ich habe seit meinem ersten Besuch dort immer die schöne Holz-Architektur bewundert, die die Stadt Otwock sogar bei Buswartehäuschen und bei Pavillons im Stadtpark zitiert. An Andriolli erinnert neben den Gebäuden im Świdermajer-Stil u.a. ein Wandbild in der nach ihm benannten Straße im Stadtzentrum. Dass er zusammen mit Ludwik Narbutt im Raum Lida (in der Puszcza Rudnicka) in dem erwähnten Januaraufstand von 1863 kämpfte, erfuhr ich übrigens nicht in Otwock, sondern aus dem Lied “Rudnickaja pušča” des belarusischen Barden Aleś Čumakoŭ und seiner Gruppe Ceilidh Ceol, s. http://ceol.by/#s9. Durch Ihren Artikel, Frau Monika Wrzosek-Müller, habe ich wieder viel Neues gelernt und werde bei meinem nächsten Besuch auf beiden Seiten des Świder noch aufmerksamer sein. “Z kosmosu” finde ich übrigens bis heute die Vorstellung, dass dieses Flüsschen, an dessen Ufern unsere deutsch-polnische Familie so viele schöne Stunden verbrachte, nach der dritten polnischen Teilung ein paar Jahre lang die Grenze zwischen Preußen (Jozefów) und Österreich (Otwock) markierte. Da man den Świder in diesem Bereich an etlichen Stellen ohne große Anstrengung durchwaten kann, würde hier der Titel eines anderen Liedes passen: “Keine Grenzen – żadnych granic” …
Ihr Eintrag hat mich beschämt; ich hätte viel mehr nachforschen sollen. Vielen Dank für die Informationen. Die Geschichte ist irgendwie in Polen immer lebendig, manchmal aber sehr traurig und ich wollte nur einen kleinen Eindruck von meinen Ausflügen hinterlassen.
Ich finde Ihren Beitrag sehr schön – und Sie sind dabei Ihrem Anliegen absolut gerecht geworden. Solch ein Bericht kann doch immer nur einen Ausschnitt der Fülle an Eindrücken und Fakten wiedergeben. Ich habe gerne die Gelegenheit genutzt, Ihren Ausführungen ein paar Details hinzuzufügen, die ich sehr spannend finde und die vermutlich selbst vor Ort nur wenigen bekannt sind. Obwohl meine Frau aus Otwock stammt und ich sehr am Ort und seiner Geschichte interessiert bin, hätte ich mir vor dem Lesen Ihres Berichts unter “Pensjonat Abrama Gurewicza” nichts vorstellen können – obwohl ich an jenem sicherlich schon auf der ul. Armii Krajowej vorbeigefahren bin. Vielen herzlichen Dank also, dass Sie mit Ihrem Bericht meinen Horizont erweitert haben!
Die Geschichte ist in Polen in der Tat immer sehr lebendig und ich muss sagen, dass mir das sehr imponiert, nicht zuletzt in Gestalt der Begräbnis- und Erinnerungskultur, wie ich sie bei den Besuchen an den Gräbern der Vorfahren und Verwandten meiner Frau kennengelernt habe. Ein Uropa von ihr ist zur Zeit der deutschen Besatzung unter nie ganz geklärten Umständen gewaltsam zu Tode gekommen. Seine Tochter, die Oma meiner Frau, habe ich noch persönlich kennenlernen dürfen. Ich hätte es verstanden, wenn sie Ressentiments gegenüber uns Deutschen gehegt hätte und war umso dankbarer, dass ich von ihr als an Land und Leuten interessierter Mensch willkommen geheißen und nicht als Bürger des einstigen Okkupantenstaates vorverurteilt worden bin. Polen, aschkenasische Juden und Deutsche haben in der Geschichte, Kultur und selbst in der Sprache so viele Berührungspunkte, dass es eine Bereicherung ist, diese kennenzulernen. An den schönen gemeinsamen Erfahrungen können wir uns erfreuen und diese sollten uns auch die nötige Kraft geben, mit den schmerzlichen und furchtbaren Aspekten unserer gemeinsamen Vergangenheit zurechtzukommen und die richtigen Schlüsse daraus für die Gegenwart und Zukunft zu ziehen.