Frauenblick: Gewalt

Monika Wrzosek-Müller

Sind wir eigentlich dabei, Gewalt abzubauen, oder befinden wir uns in einer Spirale der Gewalt, die immer neue Felder übernimmt?

Ich stellte mir die Fragen nachdem ich das Buch von Anna Raabe Die Möglichkeit von Glück gelesen und den Film von Paola Cortellesi Morgen ist noch ein Tag gesehen habe.

Anna Raabes Buch erzählt von der Generation, die noch in den 80er Jahren in der DDR geboren wurde, dann aber schon nach der Wende, in der erweiterten Bundesrepublik aufgewachsen ist und sich irgendwie keiner der beiden Welten zugehörig fühlte. Ganz offensichtlich knüpft die Autorin an eigene Erfahrungen an; ihr Text ist vielleicht auch ein autofiktionaler Roman, dadurch gewinnt er auch eine tiefe Authentizität und erlaubt uns, den Lesern, die Mäander der Erfahrungen dieser Gruppe zu verstehen. Ihre Protagonistin verbringt die Kindheit noch in den völlig verhärteten DDR-Strukturen; ihre Eltern aktive Parteigenossen, die Mutter vielleicht auch besonders motiviert, ebenso die Großeltern. Die Oma, zu Nazizeiten BDM-Führerin, war dann später, in der DDR, Erzieherin geworden. Der Opa ein getreuer Parteigenosse und Mitarbeiter der Stasi. Stine, die Hauptheldin, kämpft um ihr eigenes, selbstbestimmtes Leben, sie will verstehen, was um sie herum passiert und warum. Doch alles ist gerade im Wandel; für die Kinder hat niemand Zeit; um Antworten muss man sich selbst kümmern.

Dazu sagt Anna Raabe: „Ich glaube auch, dass das eine Generation ist, die nicht geliebt wurde. Einfach, weil sie in die Agonie der DDR hineingeboren wurde“. Zugleich sind das eben die Jahre des hochkommenden Rechtsextremismus, der Anschläge auf Flüchtlingsunterkünfte und der Bedrohung der Andersdenkenden im täglichen Leben, auf der Straße. Es gelingt der Autorin sehr gut, die im System verankerte Gewalt auch in den Familien, unter den Kindern, dann auch unter Kollegen im täglichen Leben zu zeigen. Sie sagt irgendwann in einem Interview: „Ich kann mir schwer vorstellen, dass diese Gewalt nur auf der Straße entsteht. Das steckt schon in den Familien und hat dort eine lange Tradition.“ Besonders die Gestalt der Mutter, einer toxischen Mutter, sticht im Kreis der Gestalten um sie herum heraus. Eine Frau, die nie Zuneigung, Gefühle für ihre Kinder zeigt, sie regelt das Familienleben wie das Leben im Betrieb: im Wettbewerb, durch Schikane und perfide Fallen und Lügen, auch um immer oben zu schwimmen. Stines tiefere Spurensuche über ihren Großvater, den sie achtet, bringt auch keine positiven Einsichten. Der erklärt sich alles sehr einfach: „Wir kamen aus dem Krieg, Stinchen, wir wollten nur eins – nie wieder Faschismus!“ und zugleich war die Aufarbeitung der Gräueltaten des Zweiten Weltkrieges in der kleinen Stadt doch eher unzureichend: „Der Holocaust und der Krieg, das war irgendwas in Polen und in Berlin“, auf jeden Fall immer weit weg. Auf ihre Einfwände schlägt er nur vor: „Trink lieber was, Stinchen, dann ziehst du auch nicht so eine Schnute!“ Natürlich hat auch der Opa Paul „viele Leben geführt. Das Leben im Lumpenproletariat der Weimarer Republik, das Leben als Kanonenfutter, das Leben als Propagandist der SED und zum Schluss das des Betrogenen.“ Erstaunlicherweise gibt es unter den Erwachsenen eigentlich keine positive Gestalt im Familienleben von Stine, und doch gelingt es ihr, das eigene Leben zu verteidigen und letztlich richtig zu leben.

Cortellesis Film C´e ancora domani behandelt alles leichter, beschwingter, mit Bildern, die sich einprägen, schwarz-weiß oder in unendlichen Grauschattierungen. Das Ganze spielt in einer ärmlichen Wohngegend in Rom, gleich nach dem Krieg, 1946, doch alles ist schön organisiert, mit einem Hof, auf dem alle sitzen, tratschen, beobachten, nichts entgeht ihnen. Der Regisseurin, Hauptdarstellerin und Drehbuchautorin in einer Person, Paola Cortellesi gelingt es auf einzigartige Weise, das Leben einer ärmlichen Familie gleich nach dem Krieg zu zeigen. Fast ein Theaterstück, sehr kameral, wenige Personen, wenige Schauplätze, und doch sehr prägnante Szenen auch der Gewalt zwischen Mann und Frau – Szenen, die ins Groteske mutieren und absichtlich als Tanz dargestellt werden. Dann immer die Erklärung: „Er war im Krieg“, „Er ist nervös“ – als Entschuldigung vorgebracht. Die Akzeptanz für dieses Verhalten von allen rundherum, macht es unmöglich, sich dagegen aufzulehnen, die Gewalt zu sanktionieren oder zu unterbinden. Diese Familienmuster des Ehelebens werden weitergegeben und so muss die Tochter plötzlich einsehen, dass ihr Geliebter sie genauso wie sein Eigentum, ein Objekt, das ihm gehört, betrachtet. Der Schwiegervater, der, noch perfider, dem Sohn empfiehlt, einmal richtig zuzuschlagen, damit Delia sich nicht an die bloß leichten Schläge gewöhnt. Und als sie am Ende die Hauptperson – Mutter und Krankenpflegerin, Regenschirmherstellerin, Wäscherin und was noch alles – wählen geht, staunen wir. Im Film macht natürlich der Ton die Musik; Delia klagt nicht, sie nimmt alles auf sich für die Kinder, weil sie keinen anderen Weg hat, aber wir bewundern sie und wünschen ihr die ganze Zeit, dass sie sich aus den Klauen der Männer löst, wobei wir gleichzeitig wissen, dass das nicht möglich ist. Auf jeden Fall: die erste Ohrfeige bleibt einem im Hals stecken, wie der sprichwörtliche „Schlag ins Gesicht“.

Spannend sowohl das Buch als auch der Film. Ich habe einige Stimmen gehört, von Zuschauern bzw. Lesern, die meinten: das sei alles übertrieben – so war das damals nicht, da geht ihnen die Fantasie durch, auch unsere Großeltern haben nie so gelebt, nie gab es solche Brutalität, solche Gewalt bei uns. Im Einzelfall mag das stimmen, doch die Erfahrung ganzer Generationen lehrt etwas Anderes. Kein Zufall, dass besonders viele ältere Frauen Cortellesis Film angeschaut haben.

Wir sind gerade wieder dabei, uns an Gewalt, die von oben: Krieg, Kampf, Aufrüstung, zu gewöhnen. Das, wovon wir dachten, es längst hinter uns gelassen zu haben, kommt gerade verstärkt zu uns zurück. Nebenbei bleibt auch die andere Gewalt, in Form von Mobbing und Verfolgung im Internet bestehen, und erlebt einen Aufschwung, die psychische Gewalt nimmt zu. Da sollten wir hellhörig bleiben.

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