Blutbrüder (2)

Anne Schmidt

3. In der U-Bahn

In der U-Bahn vertrieb sich Kai die Zeit damit zu raten, aus welcher Hälfte der Stadt die anderen Fahrgäste kommen könnten. Die älteren Männer mit Stoffbeuteln waren garantiert Ossis, fand Kai. Die waren daran gewöhnt, Schnäppchen, wie Südfrüchte, gleich einzukaufen, weil ungewiss war, wann und wo es wieder welche geben würde.  Jetzt brauchte man nicht mehr auf seltene Angebote vorbereitet zu sein, aber Sonderangebote gab es immer irgendwo. Also blieben die Stoffbeutel ständige Begleiter der Ost-Berliner.  
Die alten Wessis dagegen trugen Plastiktüten, auch wenn sie nur ein Medikament aus der Apotheke enthielten.  
So versuchte Kai, die Männer in Ost und West einzuordnen, was ihm bei den Frauen wegen der Handtaschen nicht so gut gelang; bei ihnen versuchte er die geografische Herkunft anhand der Kleidung oder der Sprache auszumachen.
Breites Berlinern oder Sächseln waren für Kai sichere Herkunftshinweise, denn in West-Berlin wurde den Kindern spätestens in der Schule das Berlinern abgewöhnt.
Kai war so in seine Beobachtungen und Überlegungen vertieft, dass er erschrocken auffuhr, als jemand über ihm seinen Namen sagte. Lässig am Griff sich festhaltend stand sein Mathmatik-Lehrer, Herr Krause, neben ihm. Er lächelte Kai freundlich an und drückte ihn beruhigend auf den Sitz zurück, als Kai aufspringen wollte. “Tut mir leid, dass ich dich erschreckt habe, Kai”, sagte er freundlich, “das wollte ich auf keinen Fall.” Als der Platz neben Kai frei wurde, setzte sich Krause. Er fragte Kai, wohin er wolle und wusste bald mehr über Kai und seine familiäre Situation, als er in der Schule jemals erfahren hätte. Nicht einmal der Schülerbogen, in dem normalerweise alle Zeugniskopien, Briefe an Eltern, Tadel und besonderes Fehlverhalten in der Schule vermerkt wurden, hätte ihm so viele Informationen über Kai geliefert.
In der Station Mehringdamm fragte Krause, ob Kai Lust hätte, mit ihm zu kommen und seinen neuen Computer einzuweihen. Die Versuchung für Kai war groß, aber sein Pflichtgefühl gegenüber seinem Bruder obsiegte. Er versprach, am nächsten Tag nach der Schule zu Krause zu kommen.
Nachdem Krause ausgestiegen war, fand Kai nicht mehr zu seinem alten Spiel zurück. Er empfand eine übergroße Freude und konnte seine Aufregung nur zügeln, indem er mehrmals heftig ein- und ausatmete. Am liebsten hätte er das kleine Mädchen, das neben ihm auf dem Sitz kniete und versuchte, in dem dunklen Tunnel etwas zu entdecken, an sich gedrückt und geknuddelt. Er konnte sich gerade noch beherrschen und drückte statt dessen seine Hände fest in die Jackentaschen. Er schloss die Augen und versuchte sich Krauses Wohnung vorzustellen.
Hatte Krause eine Frau und Kinder? Kai konnte es nicht glauben, denn Krause wirkte immer gleichbleibend relaxed und freundlich, egal wie viele ausserplanmäßige Konferenzen am Nachmittag anstanden oder Elterngespräche am Abend stattfinden mussten. Krause schien immer Zeit für die Schule und die Schüler zu haben; er sei ein Kümmerer, hieß es, einer, der immer ein offenes Ohr für problembeladene Schüler habe.
Tim war vor Kurzem in der U-Bahn von einer Kontrolleurin aufgeschrieben worden, weil er seine Fahrkarte vergessen hatte. Da Tims Eltern arbeitslos waren, war Tim verzweifelt gewesen. Krause hatte aus Tim herausgefragt, warum dieser im Unterricht nicht mehr aufpasste und hatte ihm – ohne Federlesens – das Geld für die zu zahlende Strafe gegeben. Alle Schüler, die davon wussten, sprachen mit Hochachtung von Krause. Er war ein Vorbild  für die Jungen, eine Art Übervater für die Mädchen.

Fortsetzung nächste Woche

Blutbrüder (1)

Anne Schmidt                                                       

1. Vorzeigemutti  

Kai saß vor der Laube am südlichen Stadtrand von Berlin und überlegte, wo seine Mutter den Schlüssel versteckt haben könnte. Sie, sein jüngerer Bruder Olli und er wohnten seit der Wende in dem winzigen Häuschen, weil seine Mutter unbedingt nach Berlin gewollt hatte, und zwar in den Westteil. Bis November 1989 hatten alle zusammen in Cottbus gelebt, wo es der Mutter immer zu eng und zu spießig gewesen war.  

Sie hatte im Konsum gearbeitet, früh zwei Jungen von zwei verschiedenen Männern geboren, die Jungen nach dem Ablauf des Mutterschutzes der Obhut eines Ganztagskindergartens überlassen und sich weiterhin im Konsum – und auch ausserhalb – um die Wünsche von  Kunden gekümmert. Ab und zu war am Wochenende die Oma gekommen, damit ihre Tochter auch über Nacht wegbleiben konnte, wenn eine Feier ausserhalb von Cottbus angesagt war oder ein Karnevalsfest sich bis in den Morgen hinzog. Die Oma war stolz auf ihre hübsche Tochter, der auch die Geburt der Söhne nicht die zierliche Figur hatte verderben können. Ihr feingeschnittenes Gesicht war faltenlos und hatte einen kindlichen Ausdruck, der Männer magisch anzog. Kai und Olli hatten diese feinen Gesichtszüge und den unschuldigen Ausdruck von ihrer Mutter geerbt. Sie waren die Lieblinge der Erzieherinnen im Kindergarten, nicht nur weil sie hübsch waren, sondern auch weil sie eine besondere Sanftheit und Fröhlichkeit im Spiel mit den anderen Kindern ausstrahlten. Sie waren beide sehr beliebt, besonders bei den Mädchen, die mit ruppigen und kämpferischen Jungen nichts anzufangen wussten. Kai und Olli wurden auch gern von anderen Müttern mitgenommen, wenn die junge hübsche Frau Weber Überstunden machen oder zu ihrer kranken Mutter fahren musste. Da niemand ein Telefon besaß, wurden die Angaben der Mutter nie überprüft. Ihren großen blauen Augen traute niemand eine Lüge zu und so genoss Doris Weber als junge Mutter in der Deutschen Demokratischen Republik Freiheiten, von denen andere junge Mütter nur träumen konnten. Kai und Olli litten nicht unter der Abwesenheit ihrer Mutter, denn jeder war nett zu ihnen und verwöhnte sie, bis die Mutti, gut gelaunt und fröhlich, ihre Söhne abholte. Sie zeigte Allen, wie lieb sie ihre Kinder hatte und  überschüttete sie mit Zärtlichkeiten. Sie war eine Vorzeigemutti, die Berufstätigkeit und Mutterschaft miteinander vereinbaren könne, sagte die zuständige Parteisekretärin. Ihre Jungen seien der beste Beweis für die erfolgreiche Unterstützung des Staates bei der Erziehungsarbeit alleinstehender Frauen, die ihren Beruf nicht wegen der Kinder aufgeben wollten.  

2. Willkommen im Goldenen Westen  

Seitdem sie im Westen waren, war alles anders: Kai und Olli gingen in eine weit entfernte Schule mit Ganztagsprogramm. Die Mutter verließ morgens um 8.00  die Laube und fuhr quer durch die Stadt zu dem Hotel, in dem sie arbeitete. Sie kam immer erst am späten Abend – bepackt mit Tüten – müde zurück. Sie war dem Konsumrausch verfallen und fand überall Sonderangebote, die unbedingt genutzt werden mussten. Kai und Olli hatten nie so viele Jeans und T-Shirts besessen wie in den ersten Wochen im Westen. Nach dem Konsumrausch wurde die Mutti von der Vergnügungssucht gepackt. Sie kam oft nachts nicht nach Hause, sondern ließ durch einen Nachbarn, der ein Telefon besaß, ausrichten, sie habe Nachtdienst im Hotel.

Dass ihre Söhne sie durchschauten, interessierte sie nicht. Sie meinte, die Jungen seien inzwischen alt genug, um allein zurecht zu kommen. In der Schule bekämen sie ein Mittagessen und ein Brot könnten sie sich auch allein schmieren. Zur Unterhaltung brachte sie ihren Söhnen Massen von Comic-Heften mit, die im Hotel liegen geblieben waren.  

Im Garten stand eine marode Tischtennisplatte und unter den Büschen lag ein schlapper Fußball. Soviele Sportgeräte, meinte sie, hätten sie in der DDR nie besessen. Leider vergaß sie oft, den Hausschlüssel an dem ausgemachten Ort zu hinterlegen. Einen Nachschlüssel anfertigen zu lassen war Doris Weber zu kostspielig; ausserdem könnten die Jungen den Schlüssel verlieren, was gefährlich und teuer sein könnte, meinte sie. Dieses Risiko wollte sie nicht eingehen.

Kai gab seine Suche auf. Wahrscheinlich hatte sie den Schlüssel eingesteckt und mit ins Hotel genommen, wo er unbemerkt in ihrer Handtasche ruhte. Kai überlegte, ob er den Nachbarn um einen Anruf bitten könne, aber das hatte er schon so oft getan, dass er sich nicht traute, schon wieder um ein Gespräch zu bitten. Olli hatte heute Basketball-Training in der Schule. Er würde ihn dort abholen und mit ihm zum Hotel fahren, beschloss er. Er nahm seine Fahrkarte aus der Schultasche, zog seine Jacke an und rannte zur Bushaltestelle.

Er hatte Glück, dass der Bus gerade kam und ihn bis zur U-Bahnstation brachte. Mit der U-Bahn brauchte er noch ca. 30 Minuten bis zum Kleistpark und von dort war es nicht weit bis zur Schule.

Fortsetzung in einer Woche

Eine Utopie zu mithaben (Reblog+)

Im Voraus, weil es im Artikel keine Erwähnung findet und erst im Kommentar angesprochen wird. Wünsdorf ist eine nach der Wende gegründete Bücherstadt, wo sich vor allem Antiquariate mit ihren enormen Bücherdepots niederliessen. Mehr dazu HIER.

Roland Mischke

Grüner Visionär
Über eine Idee von Eckhart Hahn

Berliner Zeitung, 25.10.019

 

40 Kilometer vor Berlin
Wie Wünsdorf die erste Öko-Stadt der Welt werden könnte

Ausgerechnet Wünsdorf, die lange verbotene Stadt. Sie ist zu seinem Lieblingsprojekt geworden, zu seinem Lebensprojekt. In Wünsdorf will Ekhart Hahn die erste Öko-Stadt der Welt errichten.

Auf brandenburgischen Sand soll auf 90 Hektar Fläche eine Gartenstadt entstehen, der Gründer nennt sie „einen ökologischen Lernort, wie es ihn weltweit noch nirgendwo gibt. Ein neuer Lebensraum, ein Zukunftsmarkt.“ Und der Sand, sagt Hahn, der Siedlungsökologe, werde dabei kein Nachteil sein, ganz im Gegenteil.

Für DDR-Bürger war Wünsdorf gesperrt

Ausgerechnet Wünsdorf, 40 Kilometer südlich von Berlin. Seit 1910 Militärstadt mit Infanterieschule, Kasernen und Truppenübungsplätzen. Im Ersten Weltkrieg war hier das Hauptquartier der Reichswehr. 1935, zwei Jahre nach Machtergreifung der Nationalsozialisten, wurde das Oberkommando der Wehrmacht dorthin verlegt.

1945 übernahm der militärische Führungsstab der sowjetischen Streitkräfte der Roten Armee die Stadt, von Wünsdorf aus wurde die finale Schlacht um Berlin befehligt. Nach der Kapitulation rückte das Oberkommando der sowjetischen Streitkräfte ein, der Kalte Krieg begann. Für DDR-Bürger war Wünsdorf gesperrt.

1994 zogen die Russen ab und hinterließen eine heruntergekommene Stadt, teilweise vermint und weitgehend leer. Heute hat Wünsdorf knapp über 6000 Einwohner, nun sollen noch 10.000 dazukommen. Wenn es nach Ekhart Hahn geht.

(…)
Er ist Architekt, Raumplaner und Siedlungsökologe, 76 Jahre alt, Segler. Das erklärt seine Sprache.

Unsere Städte, sagt er, seien wie fossile Tanker, würden immer schwerfälliger. „Wir brauchen postfossile, wendige, gutorganisierte Segler. Wünsdorf soll zu dem Segelboot werden, das der Welt zeigen wird, wie sich die Städte umbauen lassen. Dass es in der Brandenburger Sandwüste steht, ist für unser Projekt von Vorteil. Mit neuen Nährkreisen werden wir daraus eine fruchtbare Gartenstadt machen.“

Ekhart Hahn ist ein nüchterner Mann, er hat alles durchgeplant und 2016 den Verein ICEC gegründet, International Campus Eco City. Hahn hat Kontakte zu großen Wirtschaftsunternehmen, zu Bundestagsabgeordneten, Brandenburger Landespolitikern und zu Softwareunternehmen. Für ein großes Projekt muss mit anderen zusammen groß gedacht werden. Und wenn sie es verstehen, werden sie zu Unterstützern. Wie der SPD-Politiker Wolfgang Thierse, Bundestagspräsident a.D., den Hahn vor Jahren kennenlernte.

Sie kamen ins Gespräch darüber, was jeder Einzelne dazu beitragen kann, den Klimawandel und die damit verbundenen Flucht- und Siedlungsbewegungen zu begleiten. Die größte Herausforderung auf dem Planeten, sagte Thierse. Hahn erzählte vom Plan einer Eco City. Im Grußwort für das Heft, das das ICEC-Projekt vorstellt schreibt Thierse: „Wir brauchen durchdachte Visionen, wie die zentralen Probleme unserer Zeit zu lösen sind. Ich wünschte sehr, dass dieses Projekt gelingen möge – als ein wichtiger Meilenstein auf dem Weg in eine hoffnungsvolle Zukunft.“

(…)

Ekhart Hahn ist in Stettin geboren, die Eltern waren Ärzte, die Familie wurde 1945 vertrieben und landete in Niedersachsen. Von dort ging Hahn 1970 an die TU Berlin, war nach fünf Jahren Studium Dozent und bereiste 1975 im Auftrag des Ministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit China. „Noch in der Mao-Zeit, das Land war rückständig, aber es wollte vorankommen.“ In den Siebziger- und Achtzigerjahren hat Hahn in China gelehrt. Sein Thema: die umweltbezogene Siedlungspolitik.

Beeindruckt von dem Report „Die Grenzen des Wachstums“ vom Club of Rome entschied er sich dann für eine berufliche Neuausrichtung und zog sich für sieben Jahre in das Dorf Riedlingen im Schwarzwald zurück. Dort entwickelte er die Thesen zur Siedlungsökologie, die er in mehreren Büchern verbreitete. Zurück in West-Berlin folgten weitere Bücher über die Zukunft der Städte. Die TU Dortmund berief ihn zum Honorarprofessor für Ökologische Stadt- und Raumplanung, das lehrt er seit 1998 auch in Japan.

(…)

Hahn und der Verein ICEC wollen in Wünsdorf 30 Millionen Euro in Grundstücke investieren. In den Machbarkeitsstudien gruppiert sich der Stadtplan um eine grüne Mitte, gerahmt von Wohnquartieren, einer Öko-Station als Herzkammer der Eco City und einem Besucherzentrum. Hier werden sämtliche Energie- und Stoffströme zusammenlaufen, permanent kontrolliert, neu aufbereitet und wieder in den Kreislauf des Stadtorganismus eingespeist. Auf 20 Hektar wird Gartenland, auf 3,5 Hektar werden Gewächshäuser für Gemüse, Obst und Beeren entstehen. Terra preta, schwarze Erde, die sich im Boden des Amazonasbeckens als fruchtbar erwiesen hat, wird den märkischen Sand bedecken. Dazu Biomasse aus Abfällen der Bewohner und ihre Fäkalien zum Düngen.

Die Energieversorgung geschieht nach dem Smart Grid System, es handelt sich um intelligente Stromnetze mit hocheffizienten Energiespeichern. Die kreislauforientierte Technik führt Grund- und Oberflächenwasser, Regen-, Grau- und Schwarzwasser zusammen. Es wird eingesetzt in der urbanen Landwirtschaft, in Gärten, Freiräumen und zur Kühlung. Angelegt werden Wasserläufe, Teiche und eine Fischzuchtanlage. Autos dürfen nicht hinein in die Gartenstadt, Fahrradwege werden gebaut, die Beförderung der Versorgung wird durch Lastenräder und Elektromobilität geleistet. Die Zugereisten sollen  in lichten Häusern mit bunten Fassaden leben.

„Öko-Städte werden unser Überleben sichern“

Angetan ist Ekhart Hahn von den massiven denkmalgeschützten Bauten Wünsdorfs. Die robuste Bausubstanz wird ökologisch saniert. In die einstige Panzerhalle, 120 Meter lang und ebenso breit, 90 Meter hoch, werden drei Etagen implantiert – für Seminarräume und Werkstätten des Campus-Instituts.

Der „Kulturpalast“, in dem einst führende Militärs der Sowjets Klassikkonzerten lauschten, wird zum interkulturellen Zentrum, zum House of One für lernende und lehrende Studierende, die Muslime, Buddhisten und Christen sind. „Öko-Städte werden unser Überleben sichern“, sagt Hahn. „Wenn alle zusammenhalten. ICEC Wünsdorf wird die Blaupause sein.“

Eine Schlüsselaufgabe der Menschheit

Die behördlichen Voraussetzungen sind erfüllt, dank einer großzügigen privaten Spende konnte ein Koordinationsbüro etabliert werden. Jetzt soll Hahns Vorarbeit Früchte tragen. Er hat einen Stab an Experten versammelt: für urbane Landwirtschaft, Landschaftsarchitekten, Pioniere des baubiologischen Planens, dazu Stadtplaner und Künstler.

Der Spezialistenpool wird Studierenden aus aller Welt zur Verfügung stehen, sie werden einige Monate oder Jahre in Wünsdorf leben und dann in ihre Länder zurückkehren.

So arbeitet ICEC inzwischen mit einem Büro in Singapur zusammen, dass dort eine völlig neue Wasserversorgung entwickelt hat. Hahns will Ideen von überallher in der Campusstadt zu konzentrieren. „Der ökologische Stadtumbau ist die Schlüsselaufgabe der Menschheit im 21. Jahrhundert“, sagt er immer wieder.

Er weiß aber auch, dass es nicht genügt, den weltweiten Anforderungen mit Plastikreduktion oder Wärmedämmung zu begegnen. Gebraucht wird ein überzeugendes Konzept. Die Aktivisten von Fridays for Future unterstützt er. Er sagt aber auch: „Sie kennen die Lösungen nicht.“ Ekhart Hahn hingegen glaubt, die Mittel zu kennen, um dem Klimawandel effektiv begegnen zu können.

Da ist die zellulare Vernetzung der Systeme: Wärme aus der Erdtiefe, Energie von der Sonne durch Fotovoltaik, Wasserrecycling und ein perfekter innerer Nährkreislauf. „Die Ressourcen, die wir zum Lebensunterhalt brauchen, werden auf Quartiersebene dezentral neu in Beziehung gesetzt“, sagt Hahn. „Das deutet bereits die neue Mobilität an: kurze Wege, Fahrrad- und Fußgängerbereiche, Frischemärkte, kleine Läden.“ Die lokale Ökonomie hat sich in Mikrostrukturen und der Kiezkultur durchgesetzt. In Wünsdorf sollen 80 Prozent des Gemüse- und Obstbedarfs in der Stadt produziert werden. Für Ekhart Hahn ist das „der Übergang ins postindustrielle Zeitalter“.

Noch wird in Wünsdorf nicht umgegraben und gebaut. Bald aber könnte es so weit sein.


Kommentare:

Anne Schmidt

Die Idee Herrn Hahns von der ökologischen Stadt in Wünsdorf erinnert mich an die Ökostadt Davis bei San Francisco und an die Aussteigerkolonie Eden bei Oranienburg, die Ende des 19. Jahrhunderts von Lilienthal aus Blockhohlsteinen errichtet wurde.
In der Zeit der Planung für ein neues Tempelhofer Feld teilten wir (Bürgerinitiative Flughafen Tempelhof) in einer der zahlreichen Pressekonferenzen der damaligen zuständigen Senatorin, Frau Junge-Reyer, mit, dass die Ökostadt Davis ein Vorbild für eine autofreie Siedlung auf dem Flughafen sein könne.
Leider gingen die späteren Planungen, die Volk sei`s gedankt, in einer Volksabstimmung abgelehnt wurden, völlig an diesen Visionen vorbei. Hätte die Utopie einer ökologischen, autarken kleinen Stadt zur Abstimmung gestanden, wäre das Ergebnis sicherlich anders ausgefallen.
Wünsdorf ist bahntechnisch gut an Berlin angebunden, aber sind die Altlasten aus Land und Wasser wirklich verschwunden? Die befürchteten Kosten für die Dekontaminierung des riesigen Militärareals bei Jüterbog haben die Entscheidungsträger und Lobbyisten Anfang der 1990er dazu bewogen, Schönefeld zum Standort für den Mammutflughafen BER zu küren.
Die Kosten, die bisher in Schönefeld und Umgebung entstanden sind, haben alle anderen wichtigen Problemfelder in Berlin in den Schatten gestellt. Die Brände vom letzten Jahr auf dem “Minenfeld” bei Jüterbog stellen ein weiteres Kapitel im Brandenburger Katastrophenarchiv dar.
Ich hoffe, dass Herr Hahn in der einstigen Bücherstadt Wünsdorf nur ein zurückgebliebenes Archiv und kein vergrabenes und versenktes Arsenal vorfindet. Vielleicht wäre es einfacher eine zweite Abstimmung zur Nutzung des
Tempelhofer Feldes herbeizuführen als in Wünsdorf Altlasten zu beseitigen.

Ewa Maria Slaska

Ach jej, Männer! Dieser Anspruch! ICH war der Erste, der Wichtigste! Noch nie in der Welt gab es so etwas, was ICH mir ausgedacht habe!
Wer verantwortet diese Alleinstellung-Ansprüche in dem obigen Text? Der Ekologe oder der Autor?
Anne Schmidt schreibt über Ökostadt Davis bei San Francisco und die Kolonie Eden bei Oranienburg. Ich habe hier auf diesem Blog mehrere Male über realisierten Utopien geschrieben. Vor allem über Silvio Gesell. Als Silvio Gesell, der übrigens auch zeitlang in der schon erwähnten Kolonie Eden wohnte, seine Teorie des “freien Geldes” veröffentlichte, entstanden in der ganzen Welt mehrere, meistens sehr erfolgreich wirtschaftende, Freie-Geld-Kommunen. Ich schrieb über Silvio HIER, HIER, HIER und HIER. Da er ein deutscher Autor ist, “polonisierte” und übersetzte ich seine Theorie in meine Sprache. Die deutschen Leser können ein Buch von Silvio Gesell über Wirtschaft mit dem Freien Geld HIER lesen.
Wichtiger ist aber, dass man – erfolgreich – versuchte die Gesellsche Theorien lebendig zu machen. In den 30ern gab es mehrere Städte, die es machten, am erfolgreichsten war die Stadt Wörgl in Österreich.

Die positiven Auswirkungen führten dazu, dass der Modellversuch in der Presse als das „Wunder von Wörgl“ gepriesen wurde. Das Interesse daran stieg derart, dass über hundert weitere Gemeinden im Umkreis von Wörgl dem Beispiel folgen wollten. Auch im Ausland und in Übersee fand die Aktion starke Beachtung und Nachahmer. Aus Frankreich reiste der Finanzminister und spätere Ministerpräsident Édouard Daladier nach Wörgl, und in den USA schlug der Wirtschaftswissenschaftler Irving Fisher der amerikanischen Regierung – wenn auch vergeblich – vor, ein Wörgl-ähnliches Geld mit dem Namen Stamp Scrip zur Überwindung der Wirtschaftskrise einzuführen.

Allerdings erhob die Oesterreichische Nationalbank gegen die Wörgler Freigeld-Aktion vor Gericht erfolgreich Einspruch, weil allein ihr das Recht auf Ausgabe von Münzen und Banknoten zustand. Das Experiment von Wörgl und alle weiteren Planungen wurden verboten. Nach Androhung von Armeeeinsatz beendete Wörgl das Experiment im September 1933.

Na, kann man sagen, dem neuen Visionär geht es nicht um Geld, sondern um, na ja, wie in jeder utopischen Narration – DIE RETTUNG DER WELT, die wie ein Wunder auf dem Sand wachsen wird.

Dazu kann ich nur sagen, der Sohn von Silvio Gesell, Carlos, baute die ganze grüne Stadt auf den Dünnen in Argentinien: Villa Gesell in der Mar de la Plata, wo nichts aber nichts wachsen wollte. Ich schrieb darüber HIER für meine polnische Leser. Der deutsche Leser kann viel über die Villa Gesell HIER erfaren. Auf dem Foto unten sieht man, wie Villa Gesell heute aussieht. Es wohnen dort im Winter ca. 30 Tausend Menschen, im Sommer wesentlich mehr, weil es ein Kurort ist.


Anne Schmidt
Mitbegründerin der aufgelösten BI Flughafen Tempelhof (BIFT)

Ewa Maria Slaska
Blogadministratorin und Utopistin

Via Carpatia

Eine Lobende Erwähnung sprach die Jury des 14. filmPOLSKA für „Via Carpatia” aus, den Film von Klara Kochańska und Kasper Bajon, in dem „immer wieder erstaunlich beeindruckende Bilder der Beiläufigkeit die volatile Stimmungslage des europäischen Sommers 2016 sondieren“: „Ein beeindruckendes filmisches Experiment, das sich an den Wohlstandsängsten der ‚Festung Europa‘ abarbeitet“, so die Jury weiter.

Fotos: Via Carpatia_ 5©IKH Pictures Promotion.jpg

Anne Schmidt, die sich den Film während des Festivals angesehen hat, schrieb darüber:

Ich hatte zwar die Inhaltsangabe zu dem Film “via carpatia” bereits gelesen, bevor ich mir den Film anschaute, war aber dennnoch vom Inhalt und der Gestaltung überrascht.
Da ich nach der Vorführung des Filmes noch zum Gespräch mit dem Kameramann im Kino blieb, sehe ich alles nicht so subjektiv oder auch naiv, wie ich es ohne seine erklärenden Worte gesehen hätte.
Er und seine Frau führten die Kamera in diesem “roadmovie”, in dem ein befreundetes Ehepaar die Hauptrolle spielt.
Der Plot für den Film fußt auf Erfahrungen des Hauptdarstellers, dessen Vater aus dem Iran stammt.
In der Filmgeschichte überredet die polnische Mutter ihren Sohn, den syrischen Vater, der auf der Flucht aus Syrien in einem griechischen Flüchtlingslager steckengeblieben ist, dort zu suchen und nach Polen zu schmuggeln.
Die Schwiegertochter steht diesem Ansinnen von Anfang an sehr skeptisch gegenüber und die Spannung, die sich aus ihrem Missmut über den geplatzten Urlaub und seinem schlechten Gewissen ihr gegenüber ergibt, zieht sich durch den ganzen Film. Sie zeigt sich besonders in den Gesichtern der Beiden, die von der Kamera ständig eingefangen werden, weil sie direkt hinter ihnen im Van sitzt. Direktheit und Spontaneität sind die Ausdrucksmittel dieses Films, der trotz seiner scheinbar einfachen Machart eine hohe Professionalität in der Kameraführung und Regie aufweist.
Der unerwartete Schluss am Zaun eines leeren Flüchtlingslager war nicht vorgesehen, sondern ergab sich spontan.
Für die junge Frau, die sich einen Urlaub am Meer gewünscht hatte, kann jetzt der Urlaub mit mitgereister Schildkröte beginnen. Simple Gespräche von vorbeibummelnden Urlaubern holen das junge Paar und den Zuschauer in die banale Wirklichkeit eines scheinbar unbelasteten Urlaubs in Griechenland zurück.

Ein einfaches Film mit einfachen Mitteln gemacht und trotzdem eine großartige Geschichte – der erste (und bis jetzt der einzige) polnische Spielfilm, der sich mit dem Thema Flüchtlinge in Europa und insbesondere, Flüchtlinge in Polen auseinandersetzt.

 

Fuga / Fugue

Uwaga, jak się poszuka, znajdzie się też króciutką opinię o filmie po polsku – niebieską 🙂

Aus der Pressemappe des Festivals:

Kategorie: Neues Polnisches Kino
Polnischer Titel: Fuga
Deutscher Titel: Fugue
Produktionsjahr: 2018
Dauer: 01:40:00
Festivalausgabe: 2019
Regie: Agnieszka Smoczyńska
Drehbuch: Gabriela Muskała
Kamera: Jakub Kijowski
Darsteller: Łukasz Simlat, Zbigniew Waleryś, Halina Rasiakówna, Gabriela Muskała, Małgorzata Buczkowska
Musik: Filip Míšek

W Berlinie dziś jeszcze do obejrzenia / Heute noch im Kino
19:00 / Wolf Kino

Pressetext:

Nach ihrem gefeierten, furiosen, bunten Horror-Trash-Musical Córki dancingu/ Sirenengesang/ The Lure überrascht Smoczyńska mit einem ernsten Psycho-Kammerspiel, zu dem die Hauptdarstellerin Gabriela Muskała das Drehbuch schrieb. Sie verkörpert eine Frau mit einem doppeltem Knick in ihrer Biografie: Vor zwei Jahren war die brave Mutter aus der Gegend von Wrocław plötzlich verschwunden und hatte sich ohne jegliche Erinnerung in Warschau neu erfunden. Als starke, selbstbewusste Frau hat sie sich durchs Leben geboxt, bis eine TV-Sendung ihre Identität offenlegt. Nun ist sie zurück in den Armen ihrer Familie und könnte sich dort kaum fremder fühlen.

In dunklen Bildern und mit mutigem Sounddesign entblättert die Regisseurin das zerrissene Innere ihrer Hauptfigur, der sie stets dicht auf den Fersen bleibt. Dass diese nicht zwingend sympathisch, aber stets nachvollziehbar bleibt, ist neben einem gekonnten Schnitt vor allem der grandiosen Leistung der Hauptdarstellerin zu verdanken, welche Blicke tief in die Seele ihrer Figur zulässt, ohne sie vollständig zu enträtseln.

Ela Kargol napisała:

Pomiędzy flizą, płytą, kaflem jest fuga. Większa mniejsza, szersza, węższa, trwała, krucha….
Fuga wypełniona pewną masą łączy części w całość. Zabrakło w filmie spoiwa wypełniającego fugę. Może się wykruszyło, tak jak pamięć głównej bohaterki, a może z powodu zaniku pamięci nie da się już nic scalić i fuga zostaje pusta.
Mój tata miał takie widzimisię, że kładł fugi kolorowe, potem blakły, tak mi się tylko przypomniało…


Jetzt werden hier Texte von drei weiteren Frauen folgen. Wir trafen uns alle im Kino, aber wir haben nicht miteinander über den Film gesprochen. Das, was wir über den Film denken, trifft sich erst hier.

Ewa Maria Slaska

Ich lese solche Texte stets erst nachdem ich den Film gesehen habe. Ich versuche, mich vor den Spoilern zu schützen. Ich hasse es, schon vorher belehrt zu werden, was ich zu denken habe. Besonders in der deutschen Kritikpraxis ist es eigentlich gang und gäbe, dass einem der Inhalt, das Ende und der Sinn des Filmes von den Rezensenten gnadenlos enthüllt werden. Ist es die unterbewusste Überzeugung, dass der Rezipient keine Ahnung hat und Auslegung braucht, ist es der Wunsch des Publikums, oder ist es blosse Machtlosigkeit der Kritik, die selber nichts weiß und doch über irgendetwas schreiben muss?

Dies aber nur am Rande. Ich bin also ins Kino gegangen ohne jedwede Vorkentnisse. Ich ließ den Film auf mich wirken und… und der ließ mich unberührt. Mir hat der Film nicht gefallen. Vielleicht bin ich aber nur die Einzige im Kino, die das dachte, weil ich vermute, von den Zuschauerinnen (es waren überwiegend Frauen im Kino) bei dem Weggehen kleine Anerkennungssätze zu schnappen.

Ich kann aber nicht anders. Auch wenn alle andere anders denken. Die Geschichte scheint mir unlogisch und voller Lücken konstruiert zu sein. Und damit meine ich nicht den künstlerischen Anspruch der Regisseurin und der Drehbuchautorin, ihre Protagonistin geheimnisakzeptierend und nicht entblössend darzustellen. Nein, ich meine Konstruktionsfehler des Films selber, das Ignorieren der Tatsachen und Prozedern, das Weglassen der nüchternen Fakten. Nichts in der Geschichte von Alicja könnte so gewesen sein, wie es im Film gezeigt ist. Alles stimmt nicht, alles ist nur bloßes Fantasieren um ein Frauenschicksal herum, unterlegt mit frecher Gewissheit der Filmmacherinnen, dass wenn es Frauengeschichte ist, wird sie aufgenommen sein, weil 2019 Frauengeschichten einfach aufgenommen werden und niemand wird sie hinterfragen.

Die Geschichte entwickelt sich nicht, sie dreht sich nur rum. Man weißt nicht, weshalb etwas im Film gerade gezeigt wird, es ist wurscht und egal, was die Menschen im Film machen und weshalb gerade jetzt. Die einzelnen Szenen sind lose nacheinander geworfen. Irgendwas. Irgendwie. Irgend… Ich fühle mich als Zuschauerin regelrecht verarscht und hab’ Gefühl, die große Worte des Pressetexts wollen mich nur einschüchtern, damit ich es doch nicht tue, was man (frau) sich nicht wünscht: nicht frage.

Auch die große schauspielerische Leistung der Hauptprotagonistin, die im Pressetext hochgepriesen ist, scheint mir ein Humbug zu sein. Frau Muskała verfügt, meiner Meinung nach, nur über zwei Gesichtausdrücke – entweder ist sie weit weg vom Hier und Jetzt und somit traurig oder hat einen delikaten fast unmerkbaren Lächeln parat, der sicher ihre Stärke ist, wird aber so oft und so sinnlos eingesetzt, dass es schon gar nichts bedeuten kann.

Also bei der Frage Hit oder Kitt, sage ich Kitt, obwohl mir sehr bewusst ist, dass der Film beste Chancen hatte, den Filmfestivalpreis zu bekommen. Und weisst der Kuckkuck, weshalb er ihn nicht bekam?

Monika Wrzosek-Müller

Irgendwie beschäftigen sich übermäßig viele Filme des diesjährigen Neuen Polnischen Kinos mit psychologischen Problemen, wenn nicht Anomalien. Schon die Titel weisen daraufhin: 7 Gefühle, Panikattacken, Fugue, Over the Limit. Ich habe nun den 2018 von Agnieszka Smoczynska gedrehten Film Fugue gesehen. Eigentlich könnte man bei diesem Film von der Illustration eines dissoziativen Phänomens, nämlich der Dissoziativen Fugue, auch psychogene Fugue genannt, sprechen. Die Hauptdarstellerin Gabriela Muskała, die übrigens auch das Drehbuch schrieb, spielt hervorragend; doch der Film war für mich an manchen Stellen künstlich und überzogen.

In der Klassifikation nach ICD-10 der psychischen Störungen wird Dissoziative Fugue unter der Nummer F44.1 aufgelistet. Zu den Symptomen gehören eine unerwartete, desorientierte Flucht aus der gewohnten Umgebung (Zuhause, Arbeitsplatz), teilweise Amnesie in Bezug auf Teile der Vergangenheit, Verwirrung über die eigene Identität, manchmal die Annahme einer neuen. Die Störung kann von ein paar Stunden bis zu mehreren Monaten dauern. Nun im Film dauert sie zwei Jahre, die Frau nimmt eine neue Identität an und kämpft sich an einem neuen Ort, in Warschau, durchs Leben, bis sie durch eine TV-Sendung erkannt wird. Der Vater ruft die Moderatorin an und entschlüsselt ihre Identität.

Es folgen berührende Szenen, in denen die ganze Familie und besonders der Vater versuchen, sie wieder an ihre Vergangenheit heranzuführen. Doch alle Versuche scheitern, sie scheint sich an nichts zu erinnern. Man sieht nur, dass all das sie quält und ihr unangenehme Gefühle bereitet.

Eigentlich stellt sich für mich in dem Film als wichtigste Frage, warum sie das getan hat, warum sie „geflüchtet“ ist. Das erfährt der Zuschauer peu à peu, in kleinen Schritten – bis er erfährt, dass sie einen Autounfall im Wald hatte. Sie wollte vor ihrem Mann fliehen, der ihr gedroht hatte, sich scheiden zu lassen und ihr den Sohn wegzunehmen. Nach dem Unfall dachte sie, ihr Sohn sei dabei gestorben, und daraufhin, aus Entsetzen über die eigene Tat, wäre sie von der Unfallstelle geflohen und hätte das Geschehene vergessen. Doch ihr Psychotherapeut spricht von dissoziativer Fugue und hilft ihr dabei, ihre wahre Identität zu finden. Aber ihr früheres Leben, in dem sie sich gar nicht mehr zurecht findet, stellt für sie keine Alternative für eine Fortsetzung dar. Am Ende des Films verlässt sie ihren Mann und ihren Sohn. Die Sentenzen, die Szenen mit ihrem Sohn, einem Jungen von 5 oder 6 Jahren, sind sehr berührend: das Kind ist klug und mein Herz zog sich regelrecht zusammen, als ich sah, wieviel der Junge von der Situation auf sich übertrug und wie ihn das direkt betraf. Insofern eine Warnung an alle Eltern, wie direkt ihr Leben das ihrer Kinder betrifft.

Doch letztendlich verdankt der Film seine ganze Wirkung dem enormen, perfekten und mutigen Spiel der Hauptdarstellerin. Trotzdem habe ich den Saal mit einem Gefühl des leisen Missmuts verlassen.

Anne Schmidt

Liebe Ewa,
Der Titel des Films Fuga beschäftigt mich, seitdem ich mir diesen Film angeschaut habe.
Leider konnte ich nicht bis zum Gespräch mit der Hauptdarstellerin und Drehbuchautorin bleiben, denn sie hätte mich vielleicht darüber aufgeklärt, ob die musikalische Fuge oder die handwerkliche Fuge gemeint ist. Vielleicht hast Du die Gelegenheit Gabriela Muskala nach der Bedeutung des Titels zu fragen.
In der Anfangsszene des Films kraxelt eine zierliche junge Frau in Stöckelschuhen über den Schotter einer unterirdischen Bahntrasse (Fuge), bis sie in einem unterirdischen Bahnhof ankommt. Dort zieht sie sich mühsam zum Bahnsteig hoch, taumelt unter den Augen der indigniert schauenden Passagiere ein paar Schritte vorwärts, hockt sich nieder, lupft ihren seriösen Trenchcoat und uriniert auf den Bahnsteig.
Ich frage mich, ob sie damit den Ruf nach der Polizei und einem Arzt provozieren wollte, denn in der nächsten Szene sehen wir sie in einer psychiatrischen Klinik. Sie wird dort zwei Jahre lang als Frau ohne Gedächtnis unter dem Namen Alicja von einem sehr engagierten Professor behandelt bis dieser auf die Idee kommt, sie im Fernsehen der Öffentlichkeit vorzustellen. Sofort nach der Ausstrahlung meldet sich ein Mann, der sie als seine Tochter, die vor zwei Jahren verschwunden ist, erkannt hat.
Ab jetzt wird die Geschichte kompliziert, denn Kinga, wie Alicija richtig heisst, reagiert auf ihre “Heimführung” in ihr ehemaliges Zuhause mit Mann und Kind aggressiv und ablehnend. Auch ihr Mann wirkt weder erfreut noch erleichtert darüber, dass seine Frau wieder zurück ist. Der kleine Sohn scheint sie nicht als seine Mutter wiederzuerkennen und fühlt sich mehr zu einer ehemaligen Kollegin von ihr hingezogen.
Die Frage, was stimmt in dieser Familie nicht, wird erst zum Schluss beantwortet.
Die Frage, hat Kinga wirklich ihre Vergangenheit vergessen, bleibt bis zum Schluss bestehen, denn manche Dinge kann sie seltsamerweise richtig zuordnen.
Nachdem ihr ihr Ehemann den letzten Tag ihres alten Lebens ins Gedächtnis zurückgerufen hat, zieht sie daraus eine unerbittliche Konsequenz. Ob sie damit ihrem Kind das verlorengegangene Gleichgewicht wiedergibt und ihrem Mann ein glückliches Leben ermöglicht, sei dahingestellt.
Aber was wird aus ihr? Kann sie ohne ihren Psychiater nicht mehr leben? Hat er aus ihr eine Kurwa gemacht?
Wie beurteilst Du ihr Verhalten und ihre Zukunftsaussichten, Ewa?
Mich haben die Geschichte und die schauspielerische Leistung der Hauptdarstellerin sehr beeindruckt.
Die Tatsache, dass sie die Verwirklichung ihres Drehbuches über mehrere Jahre verfolgt hat, deutet meiner Meinung nach auf ein starkes persönliches Interesse an diesem Stoff hin. Leider kann ich sie nicht nach den Gründen für ihre starke Ambition fragen, aber Du hast vielleicht noch diese Chance.

Ewa Maria Slaska

Liebe Anne, ich glaube Fuga ist hier als lateinsches Wort Flucht gemeint. Mit Bach und seiner berühmten Fuge (fliehende musikalische Motive geben der Fuga ihren Namen her) hat die Geschichte wohl wenig zu tun. Ob es damit aber (auch) die handwerkliche Fuge gemeint ist, also ein Spalt zwischen den Kacheln, die man zusammenbinden muss, damit sie nicht auseinander geraten? ich weiß es nicht. Möglich wäre es. Man sieht, dass in dieser Familie etwas fehlt, dass hier alle auseinander geraten. Monika meint, die Fugue ist der Name einer psychischen Krankheit.

Fotos: FUGUE_Stills_2_4_6 © Alpha Violet

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Atak paniki / Panic Attak

Liebe Ewa, schreibt mir die Autorin, als Erstes möchte ich meine Entrüstung darüber bekunden, dass ich weder in der Berliner Zeitung noch im Tagesspiegel
einen einzigen Hinweis auf das polnische Filmfestival gefunden habe.

Inzwischen habe ich mir zwei Filme angesehen, u.zw.
Atak paniki und Fuga.

EMS: Zu der Bemerkung, dass es in der Berliner Presse keine Info über das Festival gab, kann ich mich nicht äussern. Aber in der Stadt ist das Festival doch sehr schön präsent. Wir wohnen nicht weit voneinander, die Autorin des Texts und ich. Bei mir in der U-Bahn-Station gab es Festivalplakats in der Vitrine (Wartezeit ist doch Werbezeit), aber ich fahr’ ja U-Bahn oder S-Bahn und die Autorin Auto oder Fahrrad :-), da sieht man die Plakate nicht so oft…

Anne Schmidt

Der Film “Atak paniki” beschäftigt mein Hirn immer noch, obwohl seit seinem Genuss einige Tage vergangen sind.
Dank der Hinweise im Progammheft wusste ich, dass ich mich auf eine Montage gefasst machen musste,
aber dennnoch verwirrten mich die Namen der Personen so sehr, dass ich die Konstellationen der Gruppen zueinander nicht unbedingt sofort erkannte und immer noch nicht alle Puzzleteile korrekt zuordnen kann.
Die verschiedenen zeitlichen Ebenen, die kommentarlos ineinander übergehen, machen meinen Erkenntnisprozess nicht leichter, aber genau das will ich, erkennen und deshalb denke ich immer wieder darüber nach, ob der Tierpsychologe im Flugzeug der Vater von dem jungen Selbstmörder und den bekifften Jugendlichen ist oder ob der neben ihm sitzende Fluggast der Vater von beiden oder nur einem der beiden ist. Ein junger Spielsüchtiger, der seinen Job als Kellner bei einer exklusiven Hochzeit aufs Spiel setzt, zwingt seine ahnungslose, tierliebende Mutter, sein Spiel am heimischen Computer fortzusetzen, damit er nicht von einem geheimnisvollen Anrufer vernichtet wird.


Drei junge Frauen, von denen eine ein Baby hat und mit diesem irgendwann bei
der Hochzeit auftaucht, scheinen die Töchter der Tierschützerin und Schwestern des jungen Kellners zu sein.
Die todschicke Hochzeitsgesellschaft lauscht verständnislos den Erklärungen der schönen, schwangeren Braut zur Wassergeburt ihres Babys, lässt sich aber nicht durch das Fehlen des Bräutigams vom Schmausen und Feiern abhalten.
Ist der Bräutigamer etwa der Typ, der sich zu einem letzten Abendessen mit seiner Nochfrau getroffen hat und der er vor ihrer letzten Verführungsattacke von seiner schwangeren Braut erzählt?
Bei der Frühgeburt mitten im Festsaal scheint er dann doch zugegen zu sein, obwohl er gerade noch in einer leidenschaftlichen Sexszene mit seiner Ex zu sehen war.
Geburt und Tod liegen in diesem Film nahe beieinander, wenn auch nicht zeitlich. Der finale Schuss, mit dem sich der junge Musikredakteur ins All katapultiert hat, scheint zeitlich parallel zum Flug seiner Eltern von Ägypten nach Polen stattzufinden. Noch wissen sie nichts von seinem Tod, werden aber mit dem Tod als Phänomen konfrontiert, weil ein Sitznachbar von ihnen während einiger Turbulenzen des Flugzeugs einen plötzlichen Herzstillstand erleidet. Sein Tod wird nicht gemeldet, damit der Ankunftstermin in Warschau nicht verzögert wird.


Während die drei Jugendlichen nach ihrem Drogenkonsum in Panik verfallen, einer der Drei verzweifelt seinen Bruder telefonisch zu erreichen versucht (wahrscheinlich der junge Selbstmörder), rücken die zwei Töchter, die von ihrer tierlieben Mutter nie erwähnt wurden, der Schwester, die dem spielsüchtigen Kellner als arbeitsames Vorbild vorgehalten wird, auf die Bude. Diese schöne junge Frau, die gerade bei der Arbeit, Telefonsex, war, fühlt sich von ihren aufdringlichen Schwestern und dem Kleinkind einer der beiden äußerst gestört; in letzter Minute gelingt es ihr, ihre Arbeitsmaterialien, u.a. eine Wasserpistole, unter ihrem Bett zu verstecken, als ihre Schwestern sie mit der Nachricht von dem Selbstmord des jungen Musikredakteurs überfallen und sie daran erinnern, dass sie während der Schulzeit mit ihm befreundet gewesen sei. Die junge Frau kann sich offensichtlich nicht an ihn erinnern, gerät aber dermaßen in Panik darüber, dass ihre Schwestern ihren wahren Broterwerb erkennen könnten, dass sie sie
aus ihrem Appartement drängt und anschließend mit einer vollgestopften Reisetasche fluchtartig die Wohnung verlässt. Am Flughafen nimmt sie den erstbesten Flug nach Südamerika, zerrt Pullover, Felljacke und ähnlich warme Kleidung aus ihrer übergewichtigen Tasche und zieht sie sich übereinander an; nicht nur diese Szene ist lustig, auch andere wirken eher komisch als traurig.
Wenn ich den Film noch nicht gesehen hätte, würde ich ihn mir anschauen, nicht nur wegen der Rätsel, die er mir aufgibt, nicht nur wegen der Komik, sondern auch wegen der vielen schönen Menschen und Dinge, die kaum Raum für die hässliche Ralität lassen.


Aus der Pressemappe:

Panic Attak
Film nominiert für den Wettbewerb

Der Episodenfilm erzählt Geschichten von Menschen, die auf den ersten Blick nicht viel miteinander zu tun haben: Zwei Teenager verpassen sich beim ersten Kiffen gleich eine Überdosis. Ein Noch-Ehepaar versucht im Restaurant, gesittet seine längst fällige Scheidung zu organisieren. Eine Internet-Porno-Queen bekommt mitten in den Dreharbeiten ungebetenen Besuch. Fluggäste schlagen sich mit unbequemen Sitznachbarn herum. Eine Braut muss ihre Hochzeitsfeier hochschwanger hinter sich bringen. Und ein Kellner versucht, moralische Spielschulden zu begleichen.

In seinem gefeierten, meisterhaft montierten Debüt webt der Regisseur in vorerst getrennten Erzählfäden, die er später geschickt und auf überraschende Weise miteinander verknüpft, ein Bild von gewöhnlichen Menschen, die in alltäglichen Situationen unvermittelt aus der Bahn geworfen werden. Wie sie sich mit allen Kräften gegen ihr grausames Schicksal wehren, ist tragisch und saukomisch zugleich, vor allem aber zutiefst menschlich. Denn in jedem von ihnen erkennen die Zuschauer_innen ein Stück von sich selbst wieder.


Kategorie: Neues Polnisches Kino
Polnischer Titel: Atak paniki
Deutscher Titel: Panic Attak
Produktionsjahr: 2017
Dauer: 01:40:00
Festivalausgabe: 2019
Regie: Paweł Maślona
Drehbuch: Aleksandra Pisula, Bartłomiej Kotschedoff, Paweł Maślona
Kamera: Cezary Stolecki
Darsteller: Dorota Segda, Magdalena Popławska, Artur Żmijewski, Małgorzata Hajewska-Krzysztofik, Nicolas Bro, Grzegorz Damięcki, Julia Wyszyńska, Bartłomiej Kotschedoff
Musik: Radzimir Dębski

Fotos: PanicAttack©New Europe Film Sales

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Sonntag, 6. April in Berlin

Anne Schmidt über Mieterdemo

Am 6. April schien die Sonne so unverstellt strahlend wie am 8. März dh. bei der Frauen-Demonstration, vom Himmel über Berlin. Dementsprechend voll war der Alexanderplatz, der zum Ausgangspunkt auch dieses Demonstrationsmarsches gewählt worden war.

Fotos: Chris Bakker

Je größer der Leidensdruck desto höher die Teilnehmerzahl bei Demonstrationen könnte man meinen, aber im letzten Jahr, als der Himmel nicht nur Sonnenstrahlen, sondern auch einige Schauer hinabschickte, war die Teilnehmerzahl an der Mietendemo ungefähr halb so hoch, obwohl 20.000 erboste Menschen in einem “Wutpulk” auch schon ein ansehnliches Potential darstellen, das jeder Politiker beachten und berücksichtigen sollte.

Schon im letzten Jahr wurden Unterschriften zur Enteignung von “Deutsche Wohnen” gesammelt, was jedoch in der Politik und auf dem Wohnungsmarkt so wenig Wirkung zeigte, dass in diesem Jahr nicht nur die “Deutsche Wohnen” an den Pranger gestellt wurde, sondern auch andere übermächtige Wohnungsbaugesellschaften, die ihre Wohnungen als Dukatenesel zu betrachten scheinen.

Die Unterschriftenlisten mit der Forderung zur Enteignung waren am Alex regelrecht umlagert. Schilder und Transparente wurden in Massen von Einzelpersonen, aber auch von Mietergemeinschaften getragen; eine Gruppe hatte sich im Stile der französischen Gruppe “Sans Papier” in Weiß gekleidet und weiß geschminkt, um ihre Schutzlosigkeit im Kampf um ihre Wohnungen zu unterstreichen.
Viele Parolen waren witzig und zeugten von der Kreativität ihrer Schöpfer; eine davon “Miethaie zu Fischstäbchen” ist inzwischen auf jeder einschlägigen Demo – meistens mit einer kunstvollen Illustration – zu sehen.

Der Zug, der in meinen alten Augen nicht enden wollte, führte vom Alexanderplatz durch Friedrichshain über die Spree nach Kreuzberg. Am späten Nachmittag wurden von mir die letzten Demonstranten vor ihrem bedrohten Mietshaus in der Dieffenbachstraße gesehen, wo eigentlich alle Häuser denkmalgeschützt sein müssten, geben sie doch die Kulisse ab für Andreas Steinhöfels berühmte Kinderbücher über Oskar und Riko und Harald Martensteins bissige Glossen über mehr oder weniger freundliche Mitmenschen.
Die Transparente an einigen Häusern zeigen jedoch jedem, der die Deutsche Sprache
lesen und verstehen kann, dass die alten Häuser in der Dieffe, wie die in vielen anderen lebenswerten Kietzen der Stadt, zu Spekulationsobjekten verkommen sind, die offenbar nicht den Schutz unserer Volksvertretung genießen.


Zugabe zum Text (vom Tagespiegel):

Janz Berlin is eene Wolke

Die Autorin kam erst 1969 nach Berlin, hat also nicht die ganze Mauer-Zeit miterlebt, den Abbau umso intensiver.

Anne Schmidt

Der Mauerfall in Berlin (in der Erinnerung einer Tempelhoferin ) 

Am 10. November 1989 standen in klirrender Kälte morgens um 7.30 mein Mann, einige Leute aus unserer Bürgerinitiative und ich am Reichstagsgebäude neben einem stinkenden Dieselaggregat und hielten Schilder in die Luft; auf den Schildern standen Losungen mit Ausrufezeichen, die sich an die Geschäftsführer von westdeutschen Flughafengesellschaften richteten, die sich um 8.00 im Reichstagsgebäude zu einer wichtigen Konferenz treffen sollten.

Wir, die Mitglieder der ” Bürgerinitiative Flughafen Tempelhof”,  beschallten den Eingangsbereich des östlichen Flügels des Gebäudes mit den aufgezeichneten Geräuschen eines startenden Flugzeuges.

Der Ü-Wagen des SFB, der unsere Aktion aufzeichnen wollte, traf nicht ein. Bei meinem Marsch vom Hotel Esplanade zum Reichstagsgebäude hatte ich ihn am Brandenburger Tor stehen sehen, wo verschlafene Reporter auf die Öffnung der Mauer warteten.

Mit dem Ausweis einer Abgeordneten der “Alternative(n) Liste” gelangte ich in den großen Sitzungssaal des Reichstagsgebäudes, wo schon die Akivisten der TegelerAnt-Fluglärm-Initiative Platz genommen hatten. Sie hatten Schilder mit in den Saal geschmuggelt und gaben ihrem Unmut während der Reden verhalten Ausdruck.

Als der bayrische CSU-Mann Erich Riedel mit rollendem R von Peenemünde zu schwafeln begann, hielt es mich nicht länger auf meinem Sitz.Ich stürmte in den Gang im 1. Stock am nördlichen Ende des Gebäudes und hatte den Todesstreifen genau unter mir.

Im Saal hatte niemand die Ereignisse der vergangenen Nacht erwähnt, die unglaublichen Worte des Genossen Schabowski wiederholt, einen Blick in die Zukunft gewagt.  Als hätten diese Scheuklappenbeamten in ihrem abgeschirmten Bereich die Außenwelt mit ihrem Tunnelblick beeinflusst, bot sich mir ein Bild langweiliger, unspektakulärer Tristesse: Ein Kübelwagen der Volksarmee rollte langsam über den Fahrstreifen entlang der Mauer, als wolle er die Posten auf ihren Wachtürmen mit Essen versorgen. Die Aufregung der Nacht schien in Gleichgültigkeit zu versinken. Ich war grenzenlos enttäuscht, aber dennnoch zu aufgeregt, um zu den Ignoranten im Saal zurückzukehren.

Als ich aus dem Gebäude stürmte, kamen die ersten Schulklassen mit Willkommensgrüßen die Scheidemannstraße hinaufgezogen. Da ich meine kleine Tochter aus der Kita abholen musste, konnte ich mich nicht dem Zug zum Brandenburger Tor anschließen, sondern eilte zu meinem Auto vor dem Hotel Esplanade. Meine Vorausschau war davon ausgegangen, dass sich am Reichstagsgebäude und vor dem Tor die Massen drängeln und meiner Abfahrt im Wege stehen würden. Dem war nicht so, aber ab Friedrichstraße ließ die endlose Parade von Trabants und Wartburgs kein Durchkommen zu. Verzweifelt versuchte ich der stinkenden Blechlawine zu entkommen, sie zu umfahren, aber plötzlich waren sie überall in Kreuzberg. Ich hatte keinen Blick für die Insassen, denn der Termin in der Kita saß mir im Nacken.

Als ich mit 11/2 Stunden Verspätung in Tempelhof ankam,  empfing mich ein weinendes Kind und eine verständnisvolle Erzieherin. Die Nachricht von der Invasion der Blechkisten aus dem Osten hatte sich bis nach Tempelhof verbreitet.

Ab diesem Tag war nichts mehr so wie vorher: unser langerwarteter Besucher aus Pankow, der überraschenderweise Ende Oktober ein Visum für einen Besuch im Westen bekommen hatte, traf mit den Massen, die sich durch die wenigen Öffnungen der Sperranlagen drängelten, total erschöpft bei uns ein. Jeden Tag gab es neue aufregende politische Meldungen in den Medien. Meine Freundin, die unter widrigsten Umständen drei Jahre zuvor hatte ausreisen dürfen und eine Wohnung direkt vor der Mauer gefunden hatte, fürchtete den Überfall ihrer Verwandten und den Besuch ihrer bisherigen “Blicknachbarn”, meine Kreuzberger Schüler beschwerten sich über lange Schlangen vor den Supermärkten und meine Freundin aus Ost-Friesland schleppte mich in das Willkommenskonzert von Barenboim in der Philharmonie.

Dort vergoss ich Tränen der Rührung zusammen mit Musikfreunden aus Leipzig, die nur wegen dieses Konzertes aus Leipzig angereist waren.

Die anschließende Wanderung an der Mauer entlang auf dem Potsdamer Platz fand in einem einzigen Freudentaumel statt, den auch die Wagenburgler, die damals noch an ihr Bleiberecht glaubten, nicht beeinträchtigen konnten.

Trotz der warnenden Megaphondurchsagen der Polizei drängelte auch ich mich auf einen Wachtturm, um unvergessliche Fotos zu machen. Unvergesslich blieb beim Öffnen der Kamera für mich der Song von Nina Hagen “Du hast den Farbfilm vergessen, mein Michael”. So bleiben die Bilder dieser Nacht nur auf meinem inneren Schirm, aber Bilder auf der Mauer und Löcher in der Mauer dokumentierte ich in den nächsten Wochen fast täglich.

Diese einzigartige  Ausnahmesituation konnte ich nicht begreifen, ohne immer wieder zu den Orten des Geschehens zu fahren, am Anfang noch unsicher mit dem Pass in der Hand. Freudiges Strahlen war in den Gesichtern, die ich wahrnahm, nicht Skepsis und auch nicht Missgunst. Fremde Menschen sprachen und lachten miteinander, staunten ungläubig und tauschten Neuigkeiten aus. Freunde nahmen Jugendliche, die extra aus Wismar angereist waren, zur Übernachtung mit zu sich nach Hause und feierten mit ihnen auf der Mauer Parties.

“Janz Berlin is eene Wolke” ist ein Spruch, der schon zu Kaisers Zeiten geprägt wurde, aber nie besser gepasst hat als in diesen kalten Novembertagen.

Sonntag und Montag in Berlin oder Demo und Dialog

AfD wollte gegen Islamisierung Berlins und Deutschlands protestieren. Es sollten 12 Tausend kommen. Im Endefekt kamen nur zwei Tausend.

In 13 Gegendemonstrationen und einfachen Zulauf einfacher Leute nahmen teil zig Tausende Demonstranten, die gegen Hass und Rassismus und für Demokratie und Toleranz auf die Strassen gingen. Bei den Gegendemos und den bis abend andauernden Parties und spontanen Strassenfeste nahmen ca. 100 Tausend teil. Well done, Berlin. ❤️ #StopptdenHass

Es ging um mehr als eine Demo. Die ganze Stadt war auf den Beinen. Sie feierten, tanzten, sangen, freuten sich und haben gesiegt!

Achtung: die Zahl 72. Tausend (an sich schon imponierend) war nur eine Zwischenbilanz. Soviele nahmen teil an der sechs größten Protestveranstaltungen in der Mitte; sie wurden um ca. 14 Uhr zusammengezählt.

Unten ein Bericht einer Demonstrantin unter Hunderttausend.

Anne Schmidt

Demonstration am 27.5.2018 in Berlin
gegen die AfD

Die Gegendemonstration wurde so umfassend angekündigt, wie es früher immer vor Demonstrationen gegen Rechts der Fall war. Wahrscheinlich hat Ulrich Matthes mit seinem Interview in der Berliner Zeitung ein Glanzlicht für die “glänzende Demonstration” gesetzt, das die Medien zu einer breiten Publikation dieser Veranstaltung veranlasste. Sogar ein kleiner Routenplan war in der Berliner Zeitung abgedruckt, der mir zeigte, wie ich am einfachsten auf schattigen Wegen zu dem (Gegen)Zug stoßen könnte, der schon im Prenzlauer Berg beginnen sollte.
Ich, fußlahme alte Frau, stieg nichts ahnend in Tempelhof in die U6, freute mich über die frische Luft und viel Platz im Waggon, als drei Stationen weiter eine lärmende, sichtlich aufgekratzte Menge von Jugendlichen in die Wagen stürmte.
Aus den Fragen und suchenden Blicken auf handy-displays war zu schließen, dass sie nicht aus der Mitte Berlins kamen.
An der Friedrichstraße verließ ich die desorientierte Gruppe, die nicht meinen Ausgang zur Spree nahm, sondern sich offensichtlich lieber den Ravern an der Siegessäule als den Theaterleuten am Bertolt-Brecht-Platz anschließen wollte.
Noch herrschte Ruhe auf der Friedrichstraße und ich fragte mich, ob ich etwa zu spät gekommen war. Aber auf der kleinen Bühne neben dem Brecht-Denkmal klärte ein Organisator darüber auf, dass in der Lehrter Straße eine Bockade errichtet worden sei und kurze Parodien uns die Zeit bis zum Eintreffen des Zuges verkürzen sollten.
Meine Bank im Schatten musste ich nach kurzer Zeit aufgeben, weil auf der anderen Seite der Spree ein ohrenbetäubender Lärm einsetzte. Menschen mit goldenen oder silbernen Umhängen zogen am Tränenpalst vorbei und unter der S-Bahnbrücke durch in Richtung Luisenstraße, über die sich die AfDler vom Hauptbahnhof kommend nähern sollten.
In Sorge den glänzenden Zug zu verpassen, machte ich mich eilends auf den Weg an den vollbesetzten Restaurant-Terrassen vorbei zur S-Bahnbrücke an der Albrechtstraße. Es staute sich auf der Brücke und ich musste plötzlich an Duisberg denken. Aber bevor bei mir Panik einsetzen konnte, war ich schon am jenseitigen Ufer angekommen und suchte mir eine Lücke zur Aufstellung.
Eine zierliche ältere Dame (etwa in meinem Alter) machte mir bereitwillig Platz und tippte in ihrem Handy herum; sie hatte ihre Leute verloren, mit denen sie wegen der Demo mit der Bahn aus Hamburg gekommen war.
So gut die Lautstärke es zuließ, erzählte sie mir von ihrer Begegnung mit alten rechten Säcken im Hauptbahnhof, die mit ihrer angeblichen unteren Potenz geprahlt hätten. Wir ergötzten uns an dem Konter ihrer Freundin, das sie bei nächster Gelegenheit in einen Slogan verwandeln wollte.
Als sich die erste Freundin bei ihr meldete, fand ich endlich eine Lücke im nicht enden wollenden Zug der Glänzenden.
Der Schlagzeuger hatte unter der Brücke das Echo zu einem besonders langen Solo genutzt und die johlenden und pfeifenden Menschen übertönt. Ein kleines Stück weiter wurde der Zug am weiteren Geradeausgehen von der Polizei gehindert.
Alle versuchten einen Platz am Brückengeländer zu erhaschen, um die Boote, die unterhalb der Luisenstraße auf der Spree lagen, zu sehen und zu bewundern; sie sahen aus, wie Mark Twains Flöße vom Mississippi, hatten aber große Boxen an Bord, um die fahnenschwenkende Masse, die sich von der Charite her auf die Brücke zubewegte, zu übertönen.
Der Coup war gelungen, denn trotz Straßensperre konnten die Gegner der AfD deren Singsang und Rufe übertönen.
Vor dem Brandenburger Tor verhinderten Polizisten aus Dresden den Weitermarsch der ca. 10.000 Menschen, aber alle Demonstranten wussten, dass jenseits des Brandenburger Tores, auf der anderen Seite der AfD, die Raver auf der Straße des 17. Juni herantanzten und auf der Wiese vor dem Reichstag Parteien und Gewerkschaften den Ring um den kleinen braunen Haufen vervollständigten. Der braune Haufen war umzingelt und konnte nur sich selbst beweihräuchern. Ihre Hetzreden gingen unter in Slogans wie “Nazis raus”. Die Demonstranten, die lieber bunt, glänzend und hedonistisch sein wollten, hielten lange aus, trotz einiger Regentropfen. Es war die größte Demonstration Berlins seit langem und sie endete genauso friedlich wie sie begonnen hatte.
Der riesige Polizeieinsatz war völlig überpropotionalisiert. Am Bahnhof Friedrichstraße hätte ich beinahe rohe Gewalt angewendet, um in den U/S-Bahneingang zu kommen, aber da der bullige Typ, der mir den Durchgang verwehrte, sich nicht auskannte, mussten wir nur über die Straße gehen, um ungehindert unsere U-Bahn zu erreichen.

***

Die Strassen bebten, die Menschen jubelten die Freiheit. In jedweder Hinsicht. Eine fröhliche Mischung von alten Love Paraden, Christopher Street Day and Karneval der Kulturen.

Berlin zwischen Siegssäule und Brandenburger Tor


Ewa Maria Slaska

Am nächsten Tag gab es im Auswärtigen Amt eine Veranstaltung zum Thema Polen in Deutschland.

Eine ziemlich viel versprechende Veranstaltung – es kommen zwei Politiker, die für deutsch-polnische Beziehungen zuständig sind, sie reden ganz ganz kurz und danach dürfen wir, das Publikum, Fragen stellen oder uns zu Wort melden. Ich habe mich gemeldet, wurde nicht akzeptiert. Obwohl ich nicht glaube, dass man so eine “blaue Frau”, wie ich an dem Tag aussah, übersehen kann. Deshalb möchte ich hier schreiben, was ich am Montag nicht sagen konnte oder dürfte. Es war eine Antwort auf drei nacheinander gestellten agressiven Fragen, wieso Deutschen uns Polen belehren, wieso dürfe ein Volk, dass in letzten Hundert Jahren zwei Weltkriege entfacht hat, uns, polnischen Patrioten sagen, was wir tun sollen? Usw.

Die Fragenden, nur Männer, gaben sich als private Personen aus, waren aber, um Fragen zu stellen, abgeordnet.

Frau Szczęch und Herr Woidke antworteten mit ein paar beruhigenden Parolen, die um diese patriotische Brei sich ziemlich schüchtern herumschlichen. Daher wollte ich folgendes sagen:

Ja, Pytający Panowie Patrioci – tak, die fragenden Herren Patrioten! Ja, tak, Sie haben recht. Die Deutschen, die in letzten 104 Jahren zwei Weltkriege entfacht haben, dürfen uns nicht belehren. Die gibt es aber nicht mehr. Die Deutschen von heute haben wie kaum eine Nation der Welt ihre Verbrechen offen gestanden, sich für das getane Unrecht entschuldigt und ihre Schuld aufgearbeitet. Und dies können wir Polen wohl und gut lernen, um nicht als die Ewiggestrigen immer wieder gegen den Deutschen ins Feld zu ziehen.

Und sicher könnten wir am vergangenen Sonntag von den Deutschen lernen, wie man sich sowohl spontan als auch institutionell gegen Hass und Rassismus erhebt.Wie fröhlich die Offenheit und Toleranz und Liebe und Freiheit sind.

Ich finde es richtig schade, dass ich es nicht sagen dürfte. Daher werde ich einen Link zu diesem Beitrag an Herrn Woidke und Frau Szczęch schicken…

***

Übrigens war Frau Szczęch in ihrer Aussagen ziemlich mutig, wenn man bedenkt, was die PiS Regierung über deutsch-polnische Beziehungen denkt… Ich glaube, sie wird gehen… Viel Glück Frau Szczęch!

Der blaue Spuk im Auswärtigen Amt: Ich und Herr Woidke und unser Buch von Michał Rembas und mir; Foto Krystyna Koziewicz.

Berlin, Stadt der Flüchtlinge

Im März 2017 hieß es:

Das größte Berliner Containerdorf für Flüchtlinge entsteht derzeit auf dem Tempelhofer Feld, im Spätsommer sollen die ersten Flüchtlinge einziehen. Doch das Dorf mit 1200 Plätzen hat einen entscheidenen Makel: Statt drei Jahre wie üblich wird es nur zwei Jahre betrieben werden können. Bei Baukosten von 16 Millionen Euro ein entscheidender Nachteil. Die Investition müsste schon nach zwei Jahren abgeschrieben werden. Die Initiative 100 Prozent Tempelhof kritisiert den Bau als „Massenunterkunft“. Die Flüchtlinge sollten besser in Wohnungen untergebracht werden.

Anne Schmidt

Am 3. Dezember um 13:00 durfte die interessierte und ambitionierte Öffentlichkeit auf dem Vorfeld der Flugzeughangars in Tempelhof den Innenbereich der dort aufgebauten Flüchtlingshütten in Augenschein nehmen. Im eisigen Wind warteten Kameraleute und Reporter mit Mikrofonen in den klammen Händen auf die Einführungsrede des Vertreters der Landesflüchtlingshilfe ab, um dann noch einen Disput zwischen der Bürgermeisterin von Tempelhof/Schöneberg und dem Flüchtlingsrat mit aufzunehmen.

Die Nachbarn des Tempelhofer Feldes entrannen dem eiskalten Wind zwischen den Hütten, indem sie die Dikussionen draussen nicht abwarteten, sondern sich in einer Musterhütte die Raumverteilung ansahen: Zwei Zimmerchen mit jeweils zwei Betten, ein winziges Duschbad und eine kleine Küche mit Herd und Kühlschrank erregten das bloße Missfallen einer ehemaligen Sozialarbeiterin und ehrenamtlichen Flüchtlingshelferin.
In der Tat fragte auch ich mich, wo das dritte, vierte… Kind einer Familie schlafen soll, das eventuell schon in der Pubertät ist und rein des Geschlechtes wegen in einem anderen Zimmer schlafen muss als die Geschwister. Wahrscheinlich werden Papa und Söhne sich in einem zusammengeschobenen Kingsize-Bett drängeln, während im zweiten Schlafraum die weiblichen Mitglieder der Familie sich betten dürfen.
Mich beschäftigte besonders die Enge im Duschbad, wo die Kleinen von einem Erwachsenen versorgt werden müssen, der zwischen Dusche und Wand kaum Platz finden wird. Da ist es von besonderem Vorteil, dass die Flüchtlingsfrauen zum großen Teil sehr dünn sind.

Die Temperatur in der Hütte war überraschend angenehm, obwohl die Aussentür offen stand (Tag der offenen Tür).

Meine Frage, wie im Sommer eine Überhitzung der Kunststoff-Container vermieden werden könne, behielt ich, ob der hitzigen Diskussion draussen zwischen den Vertretern es Flüchtlingsrates und der Bezirksbürgermeisterin, für mich. Die strahlenden Augen der einzigen Flüchtlingsfamilie, die an der Besichtigung teilnahm, versöhnte mich mit dem Provisorium.
“Wir haben sogar ein Frauenzimmer”, verkündete die etwa 9-jährige Tochter. Mutter und Vater gaben der Hoffnung Ausdruck, dass sie am folgenden Tag einziehen könnten. Lange genug haben sie darauf gewartet, denn den ganzen Sommer über sah ich vom Zaun aus, der das Container-Dorf vom Tempelhofer Feld hermetisch abtrennt, dass in den Hütten, die fertig zu sein schienen, Bauarbeiter ein und aus gingen, deren Privatautos vor den Türen geparkt waren.

Es hieß damals in den Medien, es  habe noch kein Betreiber gefunden werden können. Jetzt erfuhr ich, dass der Betreiber der Hangar-Unterkunft auch für das Hüttendorf zuständig ist. Wahrscheinlich musste seine Eignung erst einer langen Kontrolle unterzogen werden. In einem der Hangars müssen demnächst alle Neuankömmlinge die ersten drei Tage nach ihrer Ankunft in Berlin verbringen. Dort müssen sie sich zwischen Zeltplanen und unter einem Gemeinschaftsdach auf ihr Asylverfahren vorbereiten, obwohl es in der Stadt inzwischen genügend Heimplätze – laut Flüchtlingsrat – gibt.