Eine Seite, die ich auf der Strasse gefunden habe

Ewa Maria Slaska

Meine treuen Leser:Innen wissen, dass ich es liebe, die auf der Straßen gefundenen Buchseiten aufzulesen und deren Autorin / den Autor zu entdecken. Vor Jahren, aber schon in den Zeiten, dass dieser Blog funktionierte, war es wirklich eine akribische Aufgabe, die Autorin oder den Autor zuerst in Kritiken zu finden, oder mindestens vermuten, wer es sein kann und was für ein Werk es ist. Meistens ging ich am Ende in die Bibliothek oder kaufte ich das Buch. Jetzt ist es viel viel einfacher. Man sucht sich eine Zeile, gibt sie dem Google und schon ist des Pudelsrätsel gelöst, wie bei Goethe: Das also war des Pudels Kern!

Winters finde ich keine Seiten, es ist viel einfacher sie bei schönem Wetter zu finden, sie ist auch trocken und daher entzifferbar. Darüber hinaus geht man öfter spazieren, geht langasmer, schlendert, flaniert. Deshalb ist für mich Seiten-Rätsel lösen ein Sommer-Vergnügen. Für meine Internetsuche wähle ich immer einen schönen, interessanten Satz. Diesmal war es: Asphodeloswiese… Herr Belfontaine atmete tief.

Asphodeloswiese… alleine diese Wortkombination mutet mich angenehm an. Asphodelenwiese, Asfodelowe Łąki, ein Reich im Jenseits, jenseits Gut und Böse, jenseits Himmel und Hölle, ein Dazwischen-Raum, wo glückliche Seelen die ganze Ewigkeit spazieren gehen. Wie bei mir oder aber bei jemanden, der wichtig(er) ist, wie Gottfried Benn:

Tristesse

Die Schatten wandeln nicht nur in den Hainen,
davor die Asphodelenwiese liegt,
sie wandeln unter uns und schon in deinen
Umarmungen, wenn noch der Traum dich wiegt.

Was ist das Fleisch – aus Rosen und aus Dornen,
was ist die Brust – aus Falten und aus Samt,
und was das Haar, die Achseln, die verworrnen
Vertiefungen, der Blick so heiß entflammt:

Es trägt das Einst: die früheren Vertrauten
und auch das Einst: wenn du es nicht mehr küßt,
hör garnicht hin, die leisen und die lauten
Beteuerungen haben ihre Frist.

Und dann November, Einsamkeit, Tristesse,
Grab oder Stock, der den Gelähmten trägt –
die Himmel segnen nicht, nur die Zypresse,
der Trauerbaum, steht groß und unbewegt.

1954

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Bei dem Buch, das ich suche, heisst es Asphodeloswiese und nicht die Asphodelen. In der Tat heißt die Pflanze Affodil oder Asfodil und deren Plural lautet die Affodille. Darunter gibt es die Affodile auf einer Wiese:

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Bevor ich (endlich) zum gesuchten Buch komme, möchte ich noch verraten, dass man die Asfodelen im Garten pflegen und zu Hause auch essen kann, weil es ein bisschen wie Knoblauch schmeckt und riecht. Aber Vorsicht – der Draught of Living Death (Der Trank der lebenden Toten) ist auch aus Asfodel gemacht und wird in verschiedenen magischen Geschichten zum Versetzen der Menschen in den Zustand des Quasi-Todes benutzt (wie bei Harry Potter!).


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Das Buch, ja, endlich. Es ist ein Roman Das unauslöschliche Siegel von Elisabeth Langgässer, der Zittat stammt aus dem V. Kapitel. Man braucht es nicht zu kaufen – Portal Gutenberg hat es online: https://www.projekt-gutenberg.org/langgaes/siegel/index.html

Hermann Broch schrieb darüber: …ein Hexen- und Engelskessel, in dessen Tiefen es unaufhörlich gärt und kocht, während die Oberfläche darüber in dichtester und dabei zartester Bewegung wie kaum sonst in einem Prosawerk mit allen Farben des Zaubertums schillert. (Da passt der Asphodel richtig richtig).

Es ist ein wichtiges Buch, ein Hauptwerk der Autorin, an dem sie, so Google Buch, heimlich während der NS-Zeit arbeitete: Sie beschreibt in diesem Roman das fiktionalisierte Schicksal ihres jüdischen Vaters, der sich katholisch taufen ließ. Der “Kampf zwischen Gott und Satan” steht im Mittelpunkt der Erzählung.

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Über meine anderen auf der Strassen gefundenen Lektüren schreibe ich HIER:

Lutz van Dijk, Verdammt starke Liebe, Juni 2013, gefunden in Berlin auf dem Ku_Damm

Hermann Kasack, Die Stadt hinter dem Strom, Juni 2016, gefunden in Berlin-Kreuzberg

Max Frisch, Andorra, Februar 2017, gefunden in Berlin-Charlottenburg

Antonio Skármeta, Die Hochzeit des Dichters, Mai 2018, gefunden in Berlin Tempelhof, direkt vor meinem Haus

 Ana Veloso, Der Duft der Kaffeeblüte, die Seite im August 2018 in Berlin-Schöneberg gefunden

Elisabeth Langgässer, Das unauslöschliche Siegel, Mai 2024 in Berlin Mitte

Damals wie heute denke viel darüber nach: Es sind gute Bücher, kein Schund, den man einmal liest und wegwirft. Wer reißt die Seiten aus den Büchern und wirft sie auf die Straße? Wer macht sowas mit den Büchern? Weshalb?

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