Deutsche Oscar-Nominierung (gegen meine)

Anne-Sophie Scholl

In die Sonne schauen, Reblog

 Im Corona­winter von 2020 zog Mascha Schilinski gemeinsam mit ihrer Freundin und Co-Drehbuch­autorin Louise Peter auf einen alten Bauernhof in der deutschen Alt­mark. Dort sind sie auf einen Schnapp­schuss aus den 1920er-Jahren gestossen – und eine Idee ist geboren. Der Film In die Sonne schauen spielt auf diesem Hof und reiht kurze Szenen, manchmal auch nur Blitz­lichter aus vier Epochen des letzten Jahrhunderts aneinander. Der Film ist ein Ereignis, ja eine Offenbarung, schreibt Feuilleton-Autorin Anne-Sophie Scholl. 

Ihr Film wird als Sensation gefeiert: Regisseurin Mascha Schilinski. Foto: Julia Ishac

Das Flirren eines immer­währenden Jetzt

In die Sonne schauen von Mascha Schilinski ist eine Wucht. Der Film macht Geschichte aus dem Inneren erfahrbar, wie man es noch nie im Kino erlebt hat.

Man solle ihren Film eher fühlen, bevor man versuche, ihn zu verstehen, sagte die Regisseurin Mascha Schilinski, als sie jüngst bei der Vorpremiere in Zürich In die Sonne schauen vorstellte. Es klang fast wie eine Warnung.

Sie bezog sich damit auf den französischen Filme­macher Robert Bresson. Dessen Aussage I’d rather people feel a film before understanding it aus dem Jahr 1960 stand bereits als Zitat auf dem Titelblatt ihres Dossiers, als der Film noch wenig mehr als eine Idee war. Am diesjährigen Film­festival in Cannes ließ man sich auf die gewagte Form ein. Der Beitrag aus Deutschland wurde als Sensation gefeiert. In die Sonne schauen erhielt den Preis der Jury und damit die Bronze­medaille. In Deutschland wird er euphorisch als «Meisterwerk» ausgerufen. Nun schickt das Land ihn ins Rennen um den Oscar für den besten internationalen Film.

Und es ist tatsächlich so: Wer einen Plot sucht, um den Film zu verstehen, wird auflaufen. In die Sonne schauen folgt einer assoziativen Erzählweise, in der sich körperliche Erfahrungen und unausgesprochene Traumata zu einem Erinnerungs­gewebe fügen. Es ist ein Film, der Geschichte nicht anhand der grossen Ereignisse, sondern aus dem Inneren erzählt und davon, wie sie sich in Körpern einnistet. Der Film spielt auf einem Vierkanthof in der deutschen Altmark und reiht Bilder oder kurze Szenen, manchmal auch nur Blitz­lichter aus vier Epochen des letzten Jahrhunderts aneinander.

Zum Auftakt ist eine Szene aus den 1940er-Jahren zu sehen, ein Mädchen in schlichtem Kleid humpelt mit Holz­krücken durch den Gang. Die junge Erika (Lea Drinda) geht ins Zimmer ihres schlafenden Onkels, stellt die Krücken zurück und wirft einen Blick auf seinen Bein­stumpf und auf die vielen Zeichnungen der Verstümmelung an der Wand. Mit dem Finger tastet sie nach Schweiss, der sich in seinem Bauch­nabel gesammelt hat, und führt ihn sich an die Lippen. Dann geht sie in den Innenhof, wo ihr Vater die ganze Zeit schon nach ihr ruft, sie solle die Schweine in den Stall bringen. Der Vater schlägt sie, wie er es wohl immer tut, sie dreht den Kopf ab, schaut in die Kamera und lächelt. Es sieht aus, als blicke sie durch die Zeit hindurch.

Mit einer Schwarzblende wechselt der Film in die 1910er-Jahre zu den Mädchen der damaligen Grossfamilie, die einer Magd einen Streich spielen und durch die Gänge davon­rennen. Die Szene kippt in die Erinnerung an einen Tag, an dem die Familie ihrer Toten gedachte. Die kleine Alma (Hanna Heckt) entdeckt auf dem Familien­altar das Foto eines Mädchens, das ihr aufs Haar gleicht und auch denselben Namen hat wie sie, eine verstorbene Schwester. Mit vielen ungelösten Fragen geht sie mit den älteren Schwestern auf dem Dach­boden zu Bett. Sanft schwenkt die Kamera in die Jetztzeit, wo sich ein Paar auf ebendiesem Dach­boden liebt. Die beiden sind mit ihren zwei Töchtern aus Berlin zugezogen und wollen den Hof für die heutige Zeit renovieren. Zu ihnen stösst Kaya (Ninel Geiger), ein geheimnis­volles Mädchen aus der Nachbarschaft.

Und dann ist da noch Angelika (Lena Urzendowsky), die in den 1980er-Jahren mit ihrer Mutter Irm (Claudia Geisler-Bading) und dem Vater auf dem Hof lebt. Selbst­bewusst, drauf­gängerisch und scheinbar gleich­berechtigt spielt sie mit ihrem Körper und testet Grenzen aus, hat ein unausgesprochenes Verhältnis mit ihrem Onkel, das nicht unbedingt von Gewalt, aber doch von Macht und Ohnmacht geprägt ist.

Sie habe diesen Hof von früher gekannt, erzählt Mascha Schilinski. Im Corona-Winter von 2020 zog sie sich gemeinsam mit ihrer langjährigen Freundin und Co-Drehbuch­autorin Louise Peter dorthin zurück, um an je eigenen Stoffen zu schreiben. Das Gebäude, bei dem sich Wohnhaus, Stall und Scheune rund um einen grossen Innenhof gruppieren, stand die letzten 50 Jahre leer. Vieles war noch so, wie es die damaligen Besitzer zurück­gelassen hatten.

Schilinski und Peter stiessen auf einen Schnapp­schuss aus den 1920er-Jahren. Auf dem Bild waren drei Mägde zu sehen, die von der Arbeit aufschauten und direkt in die Kamera blickten, so als blickten sie durch die Zeit hindurch in die Gegenwart. Eine ungewöhnliche Aufnahme für die damaligen Jahre, als Fotografie teuer und Aufnahmen daher in der Regel gestellt waren. Das Bild löste viel in ihnen aus.

Nicht zu Ende erzählte Dinge

Mascha Schilinski sitzt in einem nüchternen Besprechungs­zimmer ihres Schweizer Verleihs im Zürcher Seefeld und erzählt, wie die Erfahrung an ein Kindheits­gefühl anschloss. Sie ist 1984 geboren und in einer Altbau­wohnung in Westberlin aufgewachsen. Als Kind spielte sie auf einem alten Parkett­boden, in dem es eine Kerbe gab. Schon damals fragte sie sich: Warum gibt es diese Kerbe, wer sass vor mir an genau dieser Stelle, was hat diese Person gedacht oder gefühlt?

«Mit dem Geist der Fotografie mit den drei Mägden und dem Hof hatte ich das Gefühl, jetzt haben wir filmisch etwas, was die Gleich­zeitigkeit von Zeit vielleicht greifbar machen kann», sagt sie.

Schilinski und Peter begannen zu recherchieren, lasen über die Vergangenheit der Region und über inter­generationale Traumata, suchten für die Region spezifische Geschichten, fanden viel über Bräuche oder Rituale, gerade auch aus der Zeit der Landwirtschaftlichen Produktions­genossenschaften während der ehemaligen DDR, aber auch Tagebücher aus den 1940er- und 1980er-Jahren. Ein Glücks­fund waren zwei Bücher von Frauen über das verlorene Paradies der Kindheit.

Zwischen Beschreibungen von Spielen im Stroh oder von der Wäsche tauchten da mitunter ganz beiläufig verstörende Einschübe auf. Die Magd muss noch gemacht werden, damit sie für die Männer ungefährlich ist, stand da etwa.

«Wir hatten das Gefühl, wir müssen diese kleinen Dinge aufgreifen, die nicht zu Ende erzählt und verloren gegangen sind», sagt Schilinski.

Angelika (Lena Urzendowsky) lebte in den 1980er-Jahren auf dem Hof. Cineworkx
Die 1910er-Jahre: Eine Magd schaut durchs Schlüsselloch. Cineworkx

Vier Jahre lang entwickelten Schilinski und Peter das Drehbuch, bis zum letzten Tag vor dem Dreh. Dabei entschieden sie sich: «Wir nehmen nur alle Bilder, die wir sehen möchten, und schauen, wie wir dieses Material miteinander verknüpfen, damit am besten diese Gleichzeitigkeit von Zeit entsteht.»

In dem Film geht es vor allem um Dinge, die aus dem Benennbaren dieser Welt heraus­kippen, nicht erzählt wurden, im Körper jedoch weitertoben und unbewusst an die nächste Generation weiter­gegeben werden.

Schilinski und Peter wählten die Zeiten, aus denen sie erzählen, so, dass sich ihre Haupt­figuren nicht direkt begegnet sind, nur jeweils eine Figur reicht in die nächste Generation hinein und schafft eine Verbindung. Die Mädchen aus den jeweiligen Epochen werden durchs fortschreitende Jahrhundert hindurch älter. Damit verändert sich auch das Selbst­bewusstsein in ihrem Blick.

Es geht viel um das Verhältnis von Körpern und Blicken in diesem Film, der selbst einen neuen Blick auf das vergangene Jahrhundert wirft. Insbesondere die kleine, aufgeweckte Alma aus den 1910er-Jahren schaut oft durch Schlüssel­löcher, Türfenster oder Ritzen in Bretter­verschlägen, ihr heller, blonder Kopf leuchtet zwischen den dunklen Trauer­kleidern der Erwachsenen. Geredet wird wenig, es gibt viele Geheimnisse und unausgesprochene Dinge, den Wörtern und ihren Bedeutungen ist nicht zu trauen, die Mütter schweigen, schauen weg und kommunizieren allenfalls mit Blinzeln. Sie schliessen die Augen vor Scham, würgen Schmerz runter, lachen an den falschen Stellen, die Beine versagen ihnen. Die Mutter von Erika in der Nachkriegs­zeit der 1940er-Jahre fehlt gänzlich.

Das erste Mal, als Angelika in den 1980er-Jahren erscheint, hat sie eine neue Brille bekommen und zeigt ihrer Mutter, was sie gerade über den blinden Fleck gelernt hat, der sich im Gesichts­feld einstellt. Später wird sie darüber sinnieren, wie das Auge das Bild auf den Kopf stellt und die Wirklichkeit eigentlich ganz anders ist, als wir meinen.

«Kinder haben eine fast halluzinatorische Fähigkeit, Dinge aufzuspüren, die verborgen bleiben sollen, sie haben es sofort im Bauch», sagt Mascha Schilinski. Sie könnten die Absurditäten dieser gemachten Welt aufdecken, in der wir alle leben und die wir als gegeben hinnehmen.

Hintergründig erzählt der Film davon, wie Erinnerung und Vorstellungs­kraft ineinander­greifen. Es ist, als würden die Ahnen mit ihren Erinnerungen und Erinnerungs­splittern selber ihr inneres Material abtasten und vor- und zurück­spulen durch die Zeiten. Dabei übernimmt die Kamera eine eigene Perspektive: Suchend streift sie durch die Zimmer und Gänge des Hofs, scheint über dem Geschehen zu schweben. Mitunter fixiert sie eine Szene, sodass diese fast zu einem Standbild gerinnt, dann lässt sie eine Szene unzuverlässig in eine andere kippen oder Teile des Bildes lösen sich auf.

Sie hätten am liebsten alles auf Film gedreht, doch aus Kosten­gründen war das nicht möglich. «Wir haben versucht, eine technische Entsprechung zu finden, die dieses flirrende, wabernde Gefühl und zugleich auch diesen unendlichen Sommer eines immer­währenden Jetzt einfängt», sagt Schilinski. Kamera führte ihr Partner Fabian Gamper, der aus der Schweiz stammt, in Zürich studiert hat und während des Gesprächs gerade mit dem gemeinsamen Sohn Lux am See spazieren geht – das Baby ist Anfang Jahr zur Welt gekommen, mit seinem Namen und den hellen blonden Haaren erinnert der Bub an die kleine Alma im Film.

Ein Erfahrungsraum für alle Sinne

Es sind intensive, sorgfältig und mit präzisen Details gearbeitete Bilder, die in diesem Film auftauchen. Zusammen mit der Tonspur werden sie zu einem Gesamt­erlebnis: Schritte hallen auf dem Dielen­boden, der Wind rauscht, das Stroh knistert und bald meint man, den metallenen Geschmack einer Türklinke im Mund zu spüren. Mal stürzt man durch einen tosenden, schwarzen Tunnel in eine andere Zeit hinein, mal gleitet die Kamera mit einem sirrenden Geräusch hoch zum Fenster in einen anderen Zeitraum, mal gibt es einen harten Schnitt, mal legen sich Stimmen aus einem anderen Jahrzehnt über die scheinbar sorglose Jetztzeit.

Wiederkehrende Gesten, Echos und Motive werden durch die Zeiten gereicht: Wo früher Füsse in Holz­pantoffeln schlüpften, schlüpfen Füsse in moderne Plastik­schlappen, Kinder rennen damals wie heute um einen Tisch, Körper legen sich schützend umeinander, und wo mal ein Aal in eine Hand gebissen hat, lutscht jetzt ein Kind an einem Eis.

Kaya (Ninel Geiger) im Heute, circa 2020. Cineworkx

Die grösste Heraus­forderung sei es gewesen, die Bilder zu orchestrieren und einen stimmigen Rhythmus zu finden, sagt Schilinski. Die Montage dauerte zehn Monate, in denen Mascha Schilinski und die Cutterin Evelyn Rack genau abwägten, wie viel Zeit mit einer Figur verbracht werden muss, bevor der Sprung in eine andere Epoche gemacht werden kann, oder auch wie viel Zeit sie verstreichen lassen wollten, bevor sie ein Motiv in einer anderen Epoche wieder auftauchen lassen. Maximal drei Takes der einzelnen Szenen standen zur Auswahl. Der Film musste in nur 33 Tagen gedreht werden. Hinzu kam, dass mit den vielen Kinder­darstellerinnen nur drei Stunden pro Tag gearbeitet werden durfte.

Erst bei der Montage kam der Song dazu, der wie ein Leitmotiv durch den Film trägt. Stranger von Anna von Hausswolff von 2015 fängt die Stimmung der 1980er-Jahre ein und hat die Qualität eines Ohrwurms, der durch die Zeiten reicht. Von der Sehnsucht nach Neuem ist darin die Rede und von einem diffusen Gefühl, das im Inneren gegen einen selbst arbeitet.

Ein solches Gefühl klang bereits im Arbeits­titel des Films an: The Doctor Says I’m Alright But I’m Feeling Blue. Die Kinder der Jetztzeit, die neu hinzu­gezogen sind, spüren es beim Eislutschen auf dem Hof oder beim Schwimmen im nahen Grenzfluss – so wie einst die kleine Mascha auf dem Parkett ihrer Kindheit.

In Cannes wurde der Film mit dem englischen Titel Sound of Falling eingereicht. Die Frauen fallen durch die Zeiten, und sie fallen im wörtlichen Sinn. Sie gehen an die Grenzen, die ihnen gesetzt werden, die Sonne im deutschen Titel steht auch für den Tod.

Dabei stellt der Film die kleinen Ereignisse aus dem häuslichen Alltag – die leisen inneren Beben – als ebenso wichtig hin wie die historischen Einschnitte der grossen Geschichte. Gewalt ist allgegenwärtig, nicht nur die Gewalt, die aus den Blicken hervorgeht, denen diese Frauen im Lauf dieses Jahrhunderts ausgesetzt waren, auch Gewalt, die sie sich selbst und anderen aus diesem Kreislauf heraus zufügen. Mit seinen mal verstörenden, mal verunsichernden, aber in jedem Fall ausdrucks­starken und vielschichtigen Bildern öffnet der Film einen Erinnerungs- und Erfahrungs­raum, in dem sich auch Verbundenheit und Trost finden lassen.

Immer wieder neu wird das Verhältnis vom eigenen Körper und von dem Zugriff darauf variiert – von anderen, von den Figuren selbst, von zugeschriebenen Bedeutungen und Konzepten. Der Körper erscheint manchmal als verräterisch, wenn er Wallungen sichtbar macht, die die Figuren eigentlich verbergen wollen, oder wenn er auf den eigenen Willen nicht reagiert. Und doch erweist sich der Körper als zuverlässiger und vertrauens­würdiger Indikator für eine tiefer liegende Wahrheit. Wie der Film davon erzählt, macht ihn zum Ereignis. Eine Offenbarung.

Zum Film

Mascha Schilinski (Regie): In die Sonne schauen . Mit Lena Urzendowsky, Luise Heyer, Laeni Geiseler, Susanne Wuest, Lea Drinda, Hanna Heckt, Ninel Geiger u. a. Seit 11. September im Kino, 149 Minuten.

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Mein Tip dagegen: Leibniz – Chronik eines verschollenen Bildes,  ein deutsches Filmdrama von Edgar Reitz aus dem Jahr 2025.

Regie: Edgar Reitz, Anatol Schuster
Drehbuch: Edgar Reitz, Gert Heidenreich
Musik: Henrik Ajax
Kamera: Matthias Grunsky
Es spielen:

Edgar Selge: Gottfried Wilhelm Leibniz
Barbara Sukowa: Kurfürstin Sophie von Hannover
Aenne Schwarz: Aaltje Van De Meer
Lars Eidinger: Pierre-Albert Delalandre
Michael Kranz: Liebfried Cantor
Antonia Bill: Königin Sophie Charlotte von Preußen

Ein ruhiger, melancholischer Film über Philosophie, Kunst, Leben, Krankheit, Schmerz und Tod; fast eintönig, ohne Gefühlsausbrüche; ein ruhiger melancholischer Spaziergang über die winterliche Landschaften des Kurfürstlichen Park Herrenhäuser. Ein Film an dem ich mich noch in Jahren erinnern werde.

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