Monika Wrzosek-Müller
Prolog: der Text ist während einer Sitzung der Schreibwerkstatt im Polnischen Sprachcafé entstanden. Unverständlich für mich kamen Einwände von einer angeblich polnischstämmigen Teilnehmerin, dass sie über den Warschauer Aufstand nichts wüsste und nichts wissen wolle. Ihre Eltern hätten ganz andere Erfahrungen…
- August 2025
Der Tag danach. Gestern um 17.00 Uhr stand ganz Warschau still, hörte auf die Sirenen, dann wurden Lieder angestimmt, die polnische Nationalhymne. Unheimlich, dachte ich, als ich auf meinem Handy die Videos aus Warschau sah, die wissen jetzt mehr über den Warschauer Aufstand von 1944 als ich, die ich mein Leben lang neben meinem Vater lebend gewusst hatte. Er hat so lange geschwiegen, die Angst vor möglichen Konsequenzen war größer als sein Wille, seine Erlebnisse im Warschauer Aufstand mit uns zu teilen. Zum Glück hat er noch den Bau des Museums des Warschauer Aufstands erlebt, konnte noch aktiv daran mitwirken, indem er seine Erinnerungen aufschrieb und dem Museum übergab, sich interviewen ließ. Vielleicht hat ihn das erleichtert; da war er schon sehr alt und sehr krank… und ich war in Deutschland. Er gehörte dem Bataillon junger Pfadfinder „Parasol“ an, fast alle kamen bei den Kämpfen ums Leben, nur einige wie mein Vater verwundet, wurden aus dem völlig zerstörten Warschau in Gefangenenlager in Deutschland abtransportiert. Doch ihr Mythos lebte in Polen weiter.
Jetzt in der Stille sah ich Warschau mit Tausenden von Menschen auf den Straßen, junge Menschen, viele davon ohne direkten Bezug zu diesem Aufstand, der so viele Leben gekostet hat. Ich betrachte das alles jetzt von außen, bekomme Gänsehaut und denke an meinen Vater und daran, wie ungerecht die Geschichte mit diesen jungen Menschen umgegangen ist. Nachdem er nach Warschau zurückgekehrt war, wurde er sofort verhaftet und für einige Monate ins Gefängnis gesperrt. Nach der offiziellen Auslegung des Aufstandes in der Volksrepublik Polen waren die Kämpfer Verräter, Agenten der Westmächte und Feinde des Sozialismus. Dann denke ich, die Geschichte geht aber vielleicht auch weiter ungerecht mit uns allen um. Deswegen sollen wir über alles reden, erzählen, uns erinnern, unsere Sicht auf die Geschichte präsentieren. Diese Gedanken kommen mir immer geballter und intensiver, je älter ich werde, vielleicht werden sie zu einer Obsession. Was für eine Geschichte bleibt von mir, an welche Erzählungen wird mein Sohn sich erinnern, welche von den an ihn weitergegebenen Erinnerungen wird er in sich tragen? Er, der Lieblingsenkel meines Vaters.
Wenn die Gedanken zu Wellen werden, dann kommen sie, brechen etwas auf, ziehen sich dann auch wieder zurück. Doch sie hinterlassen immer feine Linien im Sand, ein paar Muscheln, manchmal Netze, etwas Holz und viel Plastik. Die Wellen können aber auch größer und gefährlicher werden, sie können wie ein Tsunami über uns kommen, alles bedecken, vernichten. Dann muss man die eigene Geschichte ausspucken, sie wirklich endlich einfach erzählen.
Epilog: in demselben Café gab es gestern (am 1. September) ein Treffen aus der neuen Reihe „Gute Menschen, Bürgerdialog- Raum für Demokratie“. Es ging um die überragende Persönlichkeit Maria Gräfin Tarnowska, die für die Kämpfenden im Warschauer Aufstand von größter Bedeutung war. Sie war daran nicht nur als Sanitäterin und Krankenschwester des Polnischen Roten Kreuzes beteiligt, sondern organisierte auch die gesamte Betreuung der Verwundeten und nahm später an den Verhandlungen über die Kapitulation mit den Deutschen teil. Sie sprach fließend Deutsch und konnte dank ihrer weltgewandten Manieren und ihres Muts die deutsche Seite überzeugen, dass die Kämpfenden den Status von Kombattanten der polnischen Armee erhielten und die Zivilbevölkerung vor der Zerstörung Warschaus die Stadt verlassen konnte. Für mich eine ungeheuer wichtige Person, denn ohne ihren Einsatz hätte mein Vater das Ende des Warschauer Aufstandes höchstwahrscheinlich nicht überlebt.
