Monika Wrzosek-Müller
La doppia notte dei tigli
Welch eine Koinzidenz; gerade sprach ich darüber, dass in Italien auf dem Lande die „Madonna della segiolla“ von Raffael überall über den Betten hing und in Polen die „Matka Boska Częstochowska“ diese Aufgabe erfüllte. Da sah ich im Blog einen Eintrag: Matka Boska Częstochowska. Auf die Madonna kam ich wiederum über den Schriftsteller, Maler, Arzt und Politiker Carlo Levi (1902-1975), in Turin in einer wohlhabenden jüdischen Familie geboren, und über sein Buch „Die doppelte Nacht“; als Levi das schrieb, war er schon weltbekannt. Er wurde von den Faschisten schon 1935 nach Kalabrien in das Dorf Aliano verbannt. Seine Erlebnisse dort hat er in einem berühmten Roman „Christus kam nur bis Eboli“, [Cristo si e fermato a Eboli] verarbeitet. Darin beschreibt er das schwere Leben der Bauern auf den steinigen Feldern und erwähnt eben auch die obligatorische, berühmte „Madonna della seggiola“ über den Ehebetten, die er aber dann im Original im Palazzo Pitti gesehen haben muss, denn er bewohnte eine Wohnung in Florenz, während des Krieges, direkt an der Piazza dei Pitti.
Was mich an dem Buch über die Deutschlandreise von 1958 fasziniert hat; die Italiener haben angeblich den Faschismus nicht aufgearbeitet, aber sie haben, meiner Meinung nach, verstanden, dass sie nicht perfekt, dass das Leben im Allgemeinen nie perfekt, vollkommen ist. Ihre Politik war jahrelang und immer wieder chaotisch und voll seltsamer Wendungen, Skandale und Aufbrüche. Sie lernten mit dem täglichen Leben, der Not umzugehen, dabei blieben sie näher an den Emotionen, an der Empathie und dem wahren, komplizierten Leben. Carlo Levi sieht Westdeutschland, Bayern, Schwaben, die großen Flüsse, den Rhein, aber auch einige Orte an der Donau, doch vor allem besucht er Berlin, eine zweigeteilte Stadt, gesehen mit den Augen eines Italieners.
In Deutschland, vielleicht genauer in Westdeutschland, wurde alles exzellent und eher stur bewältigt, es entstanden wunderbare Gedenkstätten, wo man über alle Taten nachsinnen, diskutieren konnte. So blieb, meiner Meinung nach, vieles eher starr und unbeweglich, verwissenschaftlicht und eigentlich bar emotionaler Regungen. Das war aber schon, so lese ich verwundert, in den ganz frühen Jahren nach dem Krieg (also schon um 1958) angelegt. Während Levis Reise entsteht ein Bild von Westdeutschland, dass sich eben durch die schnelle finanzielle Unterstützung seitens USA während des Kalten Krieges von seiner Vergangenheit still verabschiedet hatte; es wurde mit zusammengebissenen Zähnen und wenig Herz hart gearbeitet, auch um einiges zu vergessen. Er nennt das „die Nacht der verschlossenen Augen und der emsigen Hände“. Da wurde alles wiederaufgebaut, schnell und ohne viel Liebe zum Alten, zum Detail; so entstanden Städte mit der obligatorischen Einkaufsmeile und modernen Kaufhäusern, da wo sie ausgebombt waren, oft ohne Rücksicht auf die historischen Vorgaben, mit dem Fokus auf schnelles Geldmachen. Sein Bild ist eher düster, auch wenn er von dem verschneiten Schwarzwald und den alten Städten, Stadtlandschaften mit märchenhaften alten Kirchen in der Vorweihnachtszeit schwärmt, wirkt das alles für ihn irgendwie grau, wie mit Asche bedeckt, vielleicht auf den grauen Himmel zurückzuführen, doch es sind auch oft die Städte und die Menschen, die dieses Graue und Apathische in sich tragen.
„Und hier, an den Ufern strömender Flüsse, am Fuße dieser isolierten großartigen Wälder aus Gedanken und Stein, hat der Geist des Totalen sein natürliches Zuhause; und als seine rechtmäßigen, schrecklichen Kinder werden Träume, Ambitionen, messianische Hoffnungen geboren… Doch es gibt niemanden, der das Wahre zwischen Tag und Nacht, das sich Hölderlin ausmalte, suchen würde, oder wenn es so jemanden gibt, zeigt er sich nicht und man vernimmt ihn nicht. … Man könnte sagen, dass die schrecklichen und wunderbaren Impulse, die im Laufe der Jahrhunderte von hier, im Schatten des Münsterturmes, ausgegangen sind und auch heutzutage noch überall unvorstellbarsten Folgen nach sich ziehen, nichts als Ruinen zurückgelassen haben, inmitten derer das Gefühl der Erhabenheit in Minderwertigkeitskomplexe umgeschlagen ist und erniedrigte oder fremde Menschen umhergehen.“
Schon der Titel hat mich irritiert: „Die doppelte Nacht…“ auf Italienisch hieß es aber eigentlich „Die doppelte Nacht der Linden“, dann wären doch die Straßen in beiden Teilen von Berlin gemeint – die Straße Unter den Linden und auf der westlichen Seite der Kudamm. Der war aber fast von Anfang an mit Platanen bepflanzt; (der Kudamm wurde Anfang 1866 mit Bergulmen geschmückt, die aber schon in den 1920er -30er Jahren abstarben; als Ersatz pflanzte man dann Platanen.); also ging es nicht um Berlin. Wenn wir uns die erste Seite des Buchs uns anschauen, steht da ein Zitat von Goethe aus Faust. Die Tragödie zweiter Teil:
„Funkenblicke seh ich sprühen
Durch der Linden Doppelnacht“
Der Autor ergänzt: „Es mag ein Land geben, in dem die Dächer alter Häuser noch spitz in den Himmel ragen, Philemon und Baucis; wo sich die Zweige noch grün in gemütlich dahinfließenden Flüssen spiegeln. Doch in welcher Erinnerung hat sich ihr Duft verloren und das Leben? Und von welcher Asche sind ihre Blüten bedeckt? Lynkeus auf seinem Turm hat die Klage erhoben: Funkenblicke sprühten durch der Linden Doppelnacht, das Wahre ist im teuflischen Selbstmord zugrunde gegangen.
Um die innere Wüstenei nicht zu erschauen, dauert eine Nacht fort; die Nacht der verschlossenen Augen und der emsigen Hände, in der Vernunft und Leidenschaft in Schlaf verschlossen sind und selbst die Leere geteilt ist.“
Der Autor hat mit dem Titel sehr gehadert, es kamen verschiedene Versionen in Frage: „Das pränatale Weihnachtsfest“, „eine unterirdische Reise“, „Die vorgeburtliche Freiheit“; er zeichnete immer wieder den deutschen Historiker Friederich Meinecke mit Hitler zusammen auf einem Blatt, Titelblatt, und sprach von der Zerrissenheit, der Katastrophe der Germania. Das Werk erschien zuerst in der Turiner Zeitung La stampa in fünfzehn Folgen, erst später wurde im Verlag Einaudi ein Buch daraus. Da hat Levi sich für den Titel mit dem Verweis auf Goethe entschieden, für ihn stand der Genius Goethes, der Pakt mit dem Teufel, in Verbindung zu Hitlers Taten, zu Hitler als dem Führer des deutschen Volkes.
Für mich wurde sein Reisebericht eigentlich erst in Bezug auf Berlin wirklich interessant. Sein ständiges Pendeln von einer Seite der geteilten Stadt auf die andere, die genaue Beobachtung, längere Gespräche mit Freunden, Passanten, Bekannten, ergeben ein differenziertes Bild eines außergewöhnlichen Orts. Doch auch hier werden schon damals die Unterschiede für ihn ganz selbstverständlich und sichtbar: „Jede der beiden Stadthälften tendiert dazu, die Prinzipien der Welt, die sie regiert, ins Extrem zu führen und sie auf diese Weise, im Scheinwerferlicht einer angenommenen weltweiten Aufmerksamkeit, in höchstem Maße zu prägen. Auf der einen Seite individuelle Freiheit, Überfluss, Reichtum, moderner Geschmack, Dekadenz, Gleichgültigkeit, Feinsinnigkeit, Ungleichheit; auf der anderen Tugendhaftigkeit, Arbeit, Aufopferung, Gleichheit, Teilhabe, das Gefühl eines Volkskollektivs. Doch verwirklichen beide Teile, sowohl die einen als auch die anderen Berliner, diese Ideale und gegensätzlichen Lebensrealitäten mit großer Entschlossenheit und trotzigem Mut, aber scheinbar, ohne wirklich daran zu glauben. Es wirkt, als seien die zwei eingeschlagenen Wege, die sich Tag für Tag weiter voneinander entfernen, bis die Distanz zwischen ihnen unüberbrückbar geworden sein wird, nichts weiter als ein Mittel – das nicht als absolut und unerlässlich wahrgenommen, sondern schicksalhaft und von äußeren Mächten auferlegt hingenommen wird -, um übergangsweise eine Leere zu füllen, die keine Macht, kein Ideal, kein natürlicher, einheitlicher Wille zu füllen vermag. Wenn diese oder jene Richtung einmal akzeptiert, dieser oder jener Weg einmal eingeschlagen wurde, wenn wie in einem beinahe sportlichen Geduldsspiel die daraus jeweils erwachsenden Opfer einmal auf sich genommen wurden, beschleunigen ausgerechnet jene innere Leere, jener Mangel an Autonomie bei den grundlegendsten Entscheidungen und das maschinenhafte Vergnügen an der Bewegung, die darauf ausgerichtet ist, jedes Nachdenken, jeden Zweifel und jede Gewissenskrise zu verhindern, das Tempo immer mehr. Je größer daher die Leistungen sind, desto lebloser wirken sie.
Die gleiche fundamentale Entfremdung zeigt sich also, auf gegengleiche Art und Weise, im einen wie im anderen Berlin, mitleiderregende Schwestern der inneren Unfreiheit. Sie stehen einander gegenüber und rivalisieren in jeglicher Hinsicht miteinander, doch tun sie dies in unterschiedlichen Sprachen. In ihrer Gleichheit und Unterschiedlichkeit spiegeln sie einander: Was die eine tut, tut die andere nicht; wenn die eine im Licht erstrahlt, hüllt sich die andere, ebenso hartnäckig, ins grau ihrer Tugendhaftigkeit; die eine trägt ihren Reichtum zur Schau, die andere trägt auf die gleiche Weise ihre Armut zur Schau; die eine versucht, die jüngste tödliche und unmenschliche Vergangenheit zu verbergen, um sie vor sich selbst zu verleugnen, sie zu vergessen und so zu tun, als habe es sie nie gegeben, die andere bewahrt sie und gedenkt ihrer kontinuierlich wie mit einem erzieherischen Memento mori; die eine lässt das alte Individuum allein mit seinem Reichtum und Elend, die andere bevormundet neue Massen und macht sie gleich; die eine lässt theoretisch die Freiheit, sich ein eigenes Urteil zu bilden, und das befreite Urteilsvermögen zieht sich zurück und wird nicht zum Ausdruck gebracht, die andere unterdrückt es, und paradoxerweise glimmt es unter der Asche hervor. Alles ist bei den beiden anders: die Straßen, die Häuser, die Versorgung, die Regierungen, die Museen, die Erinnerungen, die Theater, die Kultur, die Wirtschaft. Jeder der beiden Teile scheint das gewählt zu haben, was der andere verschmäht hat. Diese halbierten Welten beäugen einander finster, wie Schauspieler akzeptieren sie den Willen und den Blick derjenigen Mächte, die wollen, dass sie gegensätzlich sind, sie stehen einander wie zwei Vertreter unterschiedlicher Zivilisationen gegenüber, die keinerlei Kontakt miteinander haben können: Und doch sind sie aus demselben Holz geschnitzt. Wer durch ihre Willkürliche und künstliche Grimmigkeit hindurchblickt, stellt fest, dass sie gerade in dieser Willkür, in dieser Grimmigkeit, in dieser Künstlichkeit, in dieser Verzweiflung einander gleich sind.“
Eine Analyse der Unterschiede, die nicht tiefer gehen könnte und die vieles damals schon erklärt, was nach der Vereinigung den Prozess des Wiederfindens so schwergemacht hat. Da kamen doch auf beiden Seiten Dinge hoch, die nicht bewältigt worden waren. Bedenken wir, dass Levi das alles noch vor dem Mauerbau schrieb.
Zwar soll der Reisebericht wie ein Stück erzählter Autobiographie klingen, doch treten als seine Begleiter eindeutig fiktive Personen auf und er dichtet vieles als realistischer Maler in die Bilder der Städte, der Landschaften hinzu. Er selbst nennt es „modesto romanzo vero“, also nur „bescheiden wahrer Roman“.
In Italien lebte Carlo Levi nach dem Krieg in Rom, wurde 1963 und später (1968) in den italienischen Senat gewählt, war am Aufbau eines demokratischen Italien beteiligt. Eingenommen für ihn hat mich auch seine Meinung zu Israel; schon damals meinte er, man müsse unterscheiden zwischen den Israelis beziehungsweise den Bürgern des Staates Israel und den Juden in der Diaspora, in der ganzen Welt zerstreut. Wie recht hatte er angesichts der gegenwärtigen Entwicklungen im Nahen Osten.
