Frauenblick auf ein berühmtes Buch

Monika Wrzosek-Müller

Um Salingers Roman Der Fänger im Roggen

Ich mag es, wenn die Themen zu mir kommen, mich sozusagen anspringen oder noch konkreter, wenn ich mit ihnen aufwache. So war das auch im Falle des Romans Der Fänger im Roggen von D.J. Salinger. Ewa hat den Roman Buszujacy w zbozu in einem Eintrag vom 18.07. für eine neue Lektüre empfohlen; zwar gefiel mir das Interview mit der polnischen Übersetzerin des Textes, Magdalena Słysz, nicht besonders, weil sie so bedrängt wurde in Richtung einer Interpretation, mit Fragen, die immer in eine Richtung gingen, die mir auch eher weit entfernt vom Text des Romans schienen; ich fand, die Übersetzerin schlug sich sehr wacker und versuchte den Fangfragen des Interviewers zu entkommen, sich nicht festzulegen. Auf jeden Fall aber weckte alles mein großes Interesse und ich habe das Buch bestellt (ist gar nicht so einfach, es zu bekommen) und gelesen.

Zum zweiten Mal kam das Buch zu mir hier in Italien, in der Maremma, als ich die Zeitung Repubblica an einem Freitag kaufte; im beigefügten Magazin Il venerdi di Repubblica sehe ich auf der Titelseite großes Foto mit jungen Menschen und der Unterschrift I giovanni Holden, so auch der italienische Titel des Buches von D.J. Salinger; es handelte sich um die Festivitäten anlässlich des 30. Jahrestages einer Schule für kreatives Schreiben in Turin, netter gesagt der Akademie für storytelling von Alessandro Baricco (dem Autor u.a. des wunderschönen Büchleins mit dem Titel: Seide). Die Schule trägt nämlich den Namen Holden. D.J. Salinger selbst hat die Schule nicht besucht, doch sein Sohn Matt Salinger war in den Räumen der alten Bombenfabrik in Turin und hat sie sich angesehen. So schließt sich für mich der Kreis um diesen atemberaubenden Roman und er wird dadurch nicht nur mit negativen Gerüchten assoziiert. Denn aus dem Interview im Blog entnehme ich, dass viele unredliche Taten mit dem Buch in Verbindung gebracht worden sind; sowohl der Attentäter, der Ronald Reagan zu ermorden versucht hat, als auch der Mörder von John Lennon waren von dem Buch fasziniert, trugen es angeblich sogar während der Tat bei sich. In den 1980er Jahren wurde der Roman entsprechend in einigen US-Bundesstaaten aus den Bibliotheken entfernt und als Schullektüre verboten, angeblich wegen des schlechten moralischen Einflusses und der ordinären Sprache. Doch in der Schule von Turin leben die jungen „Holdenisten“ die Hauptfigur aus, sie bezeichnen sich selbst als dem Leben etwas entrückt, etwas snobistisch, und finden, dass der Akademiegründer Alessandro Baricco ihnen ihre zukünftige Karriere vorlebt. Bis zu 85% der Studenten finden auch einen Job, natürlich nicht alle als Schriftsteller, aber vielen hat die Schule geholfen „eigene Stimme“ zu finden. Die meisten arbeiten in der Kommunikationsbranche, bei Verlagen und Werbeagenturen. Viele werden Journalisten. Natürlich kostet so eine Schule etwas, einige bekommen aber Stipendium und 10.000 Euro pro Jahr ist, so finden sie, angemessen für ein Studium, in 10 Studenten auf einen Lehrenden kommen. Die Institution ist völlig unabhängig von staatlicher Finanzierung, doch das Diplom wurde 2019 staatlich anerkannt.

Zurück zu dem Buch, das mich richtig getroffen und aufgewühlt hat. Soviel Kritik an der eigenen Gesellschaft, soviel Traurigkeit und bodenlose Offenheit und Selbstzerstörung habe ich eigentlich nirgendwo gefunden. Man muss sich danach wirklich erst einmal fangen, sich sammeln und nach vorne schauen. Die Handlung ist in ein paar Sätzen erzählt: ein 17-jähriger Schüler einer guten Internatsschule in Pennsylvania wird relegiert, weil er in gleich mehreren Fächern durchgefallen ist. Nachdem er das erfahren hat, beschließt Holden Caulfield, die Schule gleich zu verlassen und nach New York zu fahren, wo seine Familie lebt. Er will aber seine Eltern nicht treffen, bevor diese nicht offiziell über seinen Schulverweis in Kenntnis gesetzt worden sind. So verbringt er die drei Tage bis dahin in Manhattan, es sind die Tage unmittelbar vor Weihnachten. Die Handlung spielt also am Samstag, Sonntag und Montag und ist an sich nicht spektakulär; er trifft wenige Menschen, erlebt aber ziemlich viel für einen 17-jährigen, trinkt und raucht in Unmengen. Was wirklich bewegt, sind seine Gedankengänge und seine selbstzerstörerische Art zu leben. Außer ganz wenigen Menschen (seiner Schwester, seinem verstorbenen Bruder, einem ehemaligen Lehrer, den beiden Nonnen, die er zufällig in einem Café trifft, und vielleicht seinem älteren Bruder, der Schriftsteller in Hollywood ist) findet er alle schrecklich. In der deutschen Übersetzung heißen sie dann „piefig“ (auf englisch „phony“ und „corny“), er wirft ihnen Verlogenheit und Affektiertheit vor. Sie sind alle spießig und Snobs, allerdings ist er selbst den Menschen eher zugetan, die über Geld verfügen und äußerlich, besonders für Mädchen, attraktiv sind. Nebenbei bemerkt, gibt er für diese drei Tage unheimlich viel Geld aus und ist zum Schluss völlig pleite.

Als ich das Buch las, konnte ich mir nur eine Katastrophe als Ende vorstellen: ein Selbstmord oder eine tödliche Krankheit. Dass er der kleinen Schwester zuliebe nach Hause zurückkehrt und dann in einem Sanatorium landet, war für mich eine Überraschung und stellte einiges in Frage. Manche interpretieren den Roman als Erziehungsroman, in dem der Held vom Kind zum Erwachsenen wird, dafür würde sein Entschluss nach Hause zu gehen und seiner Schwester nicht zu erlauben sich gemeinsam mit ihm auf ein Abenteuer einzulassen, zeugen. Doch dann der Schluss; nach seinen Vorsätzen für die Zukunft, seinen Erwartungen in Bezug auf die Fortsetzung seiner Schulausbildung gefragt, sagt er: „Also wie soll man wissen, bevor man mal macht, bevor man es macht? Die Antwort ist, man weiß es nicht. Ich glaube zwar, dass ich mich anstrengen werde, aber woher soll ich es wissen?“ Das heißt er lernt nicht und wird nicht erwachsener, denn alles ändert sich ständig und er kann nur darauf reagieren.

Ich habe lange darüber nachgedacht, was es ist, das einen an diesem Buch so fesselt, und ich denke, es ist die Beiläufigkeit der wichtigen Dinge, die er erzählt, erlebt oder die eben passieren. Vielleicht ist das das Jugendhafte, das nicht Rationale daran, dass wir glauben er wird erwachsen und das Leben wird sich zum Guten wenden, aber er verwirft das. Doch die tiefe Traurigkeit und Verzweiflung, die aus der Hauptszene, aus seinem Traum kommt (die ich grandios finde), als er als Fänger im Roggen alle Kinder vor dem Abgrund retten will, ist meiner Meinung nach nicht einem 17-jährigen angmessen. Und dann eingestehen, dass man das Gedicht, oder das Kinderlied falsch in Erinnerung hat, aus dem für ihn der Spruch oder die Vorstellung, der Catcher in the Rye zu sein, kommt; denn im Gedicht und im Lied heißt es „Comin` through the Rye“, gibt einen Dreh zur Beiläufigkeit. Selbst wenn Holden unheimlich sensibel und sehr intelligent sein soll. Manche sprechen hier eben von den Erlebnissen des Autors selbst, der während des Krieges und danach in der US-Armee, in Deutschland an der Befreiung des KZ-Außenlagers in Hurlach beteilgt war und dort wahrscheinlich schreckliche Dinge gesehen hat. Seine Tochter schrieb in ihren Erinnerungen an den Vater, er habe ihr gesagt: den Geruch des verbrannten menschlichen Fleisches, den vergießt man nie. Da, im fränkischen Gunzenhausen (laut Wikipedia) entstand höchstwahrscheinlich auch der Roman, da schrieb er schon eine Erzählung, in der auch Holden Caulfield auftritt.

Das Unheimliche für mich ist, dass da seine Jugendjahre schon lange zurückliegen aber er schreibt das Buch in der ich-Form und benutzt dabei den Jugendslang, er verkörpert wirklich einen Jugendlichen, verschmilzt mit ihm. Zugegeben, dieser Jugendslang müsste es einem Übersetzer sehr schwer machen, den richtigen Ton, die richtigen Worte zu finden. Auch die Eindringlichkeit und Genauigkeit, der offene Sarkasmus und die Ironie, die oft aus den Sätzen sprechen, machen die Arbeit eines Übersetzers schwer. Eigentlich, denke ich, müsste man das Buch im Original, also im amerikanischen Englisch lesen. Wie geht man mit einer Sprache um, die sich ständig ändert und immer neue Schlagworte entstehen, wie: geil, mörderisch… Zur deutschen Übersetzung kann ich nur anfügen, dass mich vieles genervt hat, wie das schon erwähnte Wort “piefig“ aber auch andere mehr. Interessant fand ich die Tatsache, dass in der DDR das Buch breiten Anklang und Zustimmung fand. Es wurde mehrmals verlegt; offenbar war den Organen die Kritik der westlichen Lebensweise gut genug.

Nach Wikipedia: Der Roman wurde mittlerweile in mehr als dreißig Sprachen übersetzt und bis heute mehr als 60 Millionen Mal verkauft.

Ich verstehe dieses Buch als einen Aufschrei der Empörung gegen die Verlogenheit und Unaufrichtigkeit der Welt. Faszinierend ist, wie der Autor den jungen Helden die vielen Wahrheiten verkünden lässt; fast nebenbei, beiläufig, ohne aufgesetzt zu wirken, eher zurückhaltend. Erstaunlich für mich auch, dass je länger man sich mit dem Roman befasst, desto verwirrter wird man und desto mehr Fragen stellen sich. So auch mutet der allerletzte Schlussgedanke aus dem Roman an: „Erzähl nie einem was. Denn sonst vermisst ihr alle mit der Zeit.“ Vielleicht deswegen hat sich Salinger selbst nach diesem Roman von der Welt nach Cornish, New Hampshire, zurückgezogen und auch kaum etwas mehr publiziert hat.

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