Frauenblick aufs Sterben

Monika Wrzosek-Müller

Das reine Land nach Olga Tokarczuk – Letzte Geschichten von Elzbieta Bednarska sowie das Buch selbst

Interessant, als ich über das Stück und das Buch nachdachte (allerdings habe ich das Buch auf Polnisch gelesen), kam mir in den Sinn, dass ich den Begriff „Reines Land“ aus dem Buddhismus kenne. Ja, denn der Amida (Amitabha)-Buddhismus ist ein wichtiger Weg, bei dem das Individuum in reinen Bereichen seine Entwicklung beschleunigen kann und, auf die Andere Kraft vertrauend, wiedergeboren wird, um schließlich in das Reine Land (ins Nirvana, Paradies) einzutreten. Diese Glaubens- und Denkrichtung ist in fast allen asiatischen Ländern weit verbreitet (Japan, China, Korea, Taiwan, Vietnam und Singapur). Der praktische Weg führt durch Konzentration und Visualisierungen zu höheren Entwicklungsstadien.

Als ich das Buch las, konnte ich nicht anders, als an diese meditativen Wege der fernöstlichen Religion zu denken. Nirgendwo wird das zwar explizit gesagt, doch ich spürte auch in der Performance von Elzbieta Bednarska, dass dieser meditative, langsame Weg Schritt für Schritt die Methode sei; man gleitet ganz langsam von einem Zustand in den anderen, doch vielleicht ist das auch die erspürte, erahnte Möglichkeit, unserer hektischen Welt einen anderen Weg zu zeigen. Der Text liest sich auf Polnisch wie ein langsam, fast träge fließender Fluss; er hat neben den meditativen Elementen auch etwas „nicht von dieser Welt“, obwohl er sehr wohl von ganz realen Ereignissen und Begebenheiten erzählt. Das Buch ist in drei fast voneinander unabhängige Geschichten unterteilt, die sich aber bei ganz genauem Lesen als ein Familien-Fortsetzungsroman herausstellen, als eine Geschichte von drei Frauen: Großmutter, Mutter, Tochter/Enkelin mit ihrem Sohn: Parka (Paraskewia)-Ida-Maja. Diese drei Romangestalten sind Reinkarnationen – die Großmutter, eine Ukrainerin, die ihrem Mann nach 1945 in die sog. „wiedergewonnen Gebiete“ gefolgt ist, wird zu Ida, die in Warschau lebt und als Reiseleiterin arbeitet, und diese wiederum hat die Tochter Maja, die Reisebücher schreibt und durch die ganze Welt reist. Der Lebensweg jeder von ihnen ist durch Leid und große Mühen gekennzeichnet, doch mit Konzentration und Achtsamkeit gelangen sie weiter voran. Bemerkenswert sind die Entwurzelung und die Heimatlosigkeit der Heldinnen; die Oma kann sich offenbar nicht frei auf Polnisch ausdrücken, sie kennt kaum jemanden in dem westpolnischen Städtchen, und nachdem ihr Mann gestorben ist, vereinsamt sie völlig. Die Mutter ist ständig unterwegs, ihr bleibt kaum Zeit zum Nachzudenken, wohin sie eigentlich gehört. Doch plötzlich, durch einen Unfall auf dem Weg zum Haus ihrer längst verstorbenen Eltern, wird sie von einem alten Ehepaar in ihr zerfallendes Haus aufgenommen und erlebt die unheimliche, morbide Umgebung, wo sterbende Tiere, aber auch die beiden alten Bewohner des Hauses leben, die sich schon mit dem Tod ausgesöhnt haben. Ida: „Jetzt fällt ihr auf: den ganzen Körper zieht es zur Erde, als wären alle seine Teile schon erschöpft und müde und gäben still das tägliche Gerangel mit der Erdanziehungskraft auf. Ja, sagt der Körper, ich ergebe mich. Ich kämpfe nicht mehr gegen dich, ich welke, beuge mich, krümme mich, falle auf die Knie und drücke mich schließlich mit Gesicht, Bauch, Schenkeln an die Erde.“ Zuletzt bleibt auch Maja, die Tochter, in dem ganzen Boom um das Reisen eigentlich einsam und völlig auf sich selbst gestellt und muss dabei noch für ihren Sohn sorgen. Sie erlebt das Sterben eines ihr unbekannten und doch für ihren Sohn wichtigen Mannes auf einer kleinen Insel in der Südsee, der sich als Magier/Zauberkünstler entpuppt und ihrem Sohn einige Tricks beibringt, in denen die Objekte scheinbar erscheinen und verschwinden, was das Kind natürlich ganz fasziniert beobachtet.

Die Inszenierung von Bednarska kann man aber auch nachvollziehen, ohne den Text des Buches zu kennen, für mich war es eine Sammlung von Texten über den Übergang des Körpers von einem Zustand in den anderen, also über das Ende des Weges in den Tod und das sich damit vertraut machen. Elzbieta inszeniert ihre Arbeiten seit Jahren nicht mehr im Theater, sondern verlegt sie an Orte, die auch mitspielen und die Geschichte mittragen – Zitadelle, Bunker, Kirche oder Gefängnis. Diesmal spielt sich alles in der Zionskirche ab, die wir langsam und bedächtig durchwandern. Dabei geht der Blick aus verschiedenen Perspektiven in den Innenraum der Kirche. Eine einzige Schauspielerin spielt ungeheuer intensiv, es wird also kein Bezug zu den im Buch vorgestellten drei Generationen hergestellt. Fast würde ich sagen, es handelt sich um eine der ruhigsten Inszenierungen der Regisseurin. Am intensivsten war für mich die Szene mit dem Gesang der Großmutter, in der sie mit ihrem Kostüm und Kopfschmuck etwas vielleicht Nostalgisches, auf jeden Fall Slawisches hat; sie singt auch fantastisch klar und Herz öffnend. Diese Einlagen habe ich öfters bei den Inszenierungen beobachtet und sie sind immer gelungen, nicht übertrieben, bringen aber das Element des Herzens und stärkere Emotionen in die Aufführung. Über allem steht aber der Gedanke an den Tod, an das Ende – und ob es das Ende ist, der Übergang in einen anderen Zustand, und wie man sich daran gewöhnen, wie damit leben, wie damit umgehen sollte und wie wir weiterleben angesichts des Todes, der uns eigentlich immer begleitet und Teil des Lebens ist.

Während ich diese Zeilen schreibe, bekomme ich die Nachricht, dass meine Mutter in Warschau gestorben ist, die Beschäftigung mit dem Text nimmt andere Dimension an.

„Es muss so einen Augenblick geben, wahrscheinlich ist er kurz und unauffällig, aber geben muss es ihn. Das Erklimmen, der Weg hinauf muss einen Höhepunkt erreichen, von dem dann der Abstieg beginnt. Es wäre wie das Losbrechen des Gewitters, der wildeste Sturm, der lauteste Donner, wonach die Stille beginnt“.

Überhaupt die Stille, sie spielt sowohl im Buch als auch in der Aufführung eine Rolle. Im Buch sind es die Winterlandschaften, der Schnee legt alles still, die Wege, die Häuser, alles Lebendige verschwindet, aber es ist nicht nur die kalte Landschaft, die diese entfremdete Einsamkeit und Stille ausstrahlt auch in der Südsee passt die feuchte Hitze und die leeren Strände, die kaum besuchten Inseln in dieses Bild; die Stille herrscht über die Beschreibungen, sie motiviert zum genauen Hinschauen und zum sich zurückziehen. Man weiß eigentlich nicht: sind diese schneebedeckten Landschaften einsam, oder sind die Protagonistinnen einsam und von der Welt isoliert, wodurch die Landschaft ihre bestimmten Züge annimmt; auf jeden Fall sind sie oft unheimlich bei der ganzen realistischen Beschreibungsweise.

Sowohl das Buch als auch die Aufführung bleiben tief in Erinnerung.

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