Blackpool

Monika Wrzosek-Müller

Ewa fährt nach Blackpool, nicht im Sommer, sondern eher in der dunklen, herbstlichen, fast vorweihnachtlichen Zeit.

Aus den Tiefen meiner Erinnerungen tauchten Erzählungen meiner Mutter auf, über ihre Englandreise im Jahr 1958 – ein für die damalige Zeit in Polen unerhörtes Ereignis. Meine Tante und meine Mutter hatten sich auf Einladung irgendeiner Dienststelle der RAF (Royal Air Force) auf die Reise gemacht, denn die Air Force konnte die Witwenrente, die meiner Oma als Ehefrau eines im Krieg gefallenen polnischen RAF-Piloten zustand, nicht nach Polen auszahlen und man wollte wenigstens den Töchtern die Reise zum Grab ihres Vaters, meines Großvaters, in Großbritannien ermöglichen.

Ja, und es war eben Blackpool, wo die beiden Frauen die meiste Zeit ihres Aufenthalts verbrachten, bei Freunden meines Großvaters. Wie oft habe ich als Kind von Sady and George aus Blackpool gehört, mir ihre Briefe auf dem wunderschön dünnen internationalen Luftpostpapier samt Briefumschlag (par avion) angesehen; natürlich auch die beigefügten Fotos von ihren beiden monströs dicken oder sehr großen, auf jeden Fall wohlgenährten Katzen. Offenbar war George als Bankdirektor oder Bankangestellter für den Nachlass meines Großvaters verantwortlich und auch ermächtigt, dessen Töchtern (also meiner Mutter bzw. Tante) bestimmte Gelder auszuzahlen. Doch sie nahmen sich auch persönlich der beiden jungen Polinnen freundschaftlich und herzlich an und nahmen sie für längere Zeit – zwei, drei Monate! – in ihrem Haus auf, was schon ziemlich außergewöhnlich war. Meine Mutter war damals zu allem hochschwanger mit meiner Schwester und wahrscheinlich voller Sorge um mich, die ich als kaum anderthalbjähriges Kind in Warschau auf sie wartete. So oder so war meine Mutter von Blackpool begeistert und erzählte immer wieder, auch in späteren Jahren, von der prächtigen, langen Uferpromenade mit den vielen bunten, hell beleuchteten Lokalen, den Geschäften, Pubs; auch irgendwelche Piers wurden erwähnt, wobei ich erst später verstanden habe, dass es sich um eine Seebrücke handelte. Sie erwähnte auch irgendeinen Beinahe-Eifel-Turm (den Blackpool Tower), der sich an der Promenade befand und von dem man die ganze Gegend weit überschauen konnte. Zusammen mit ihren englischen Freunden haben sie auch einen Ausflug zur Isle of Man gemacht und meine Mutter erzählte voller Bewunderung, dass es dort, in diesen Breitengraden (!), Palmen geben sollte. Natürlich konnte sie uns das erklären – alles wegen dem dort verlaufenden Golfstrom, der das Küstenklima wirklich milder macht und vor allem die Irische See erwärmt. Wahrscheinlich verlebte meine Mutter in Blackpool die glücklichste Zeit ihrer Schwangerschaft. Ihre Erzählungen von Schottland und Aberdeen brachten ihre Augen nie zum Leuchten, obwohl das die Gegend war, wo sich – auf dem RAF-Friedhof von Lossiemouth – das Grab meines Opa befindet; das alles klang düster, dunkel, nass und menschenfeindlich, im Gegensatz zum fröhlichen Blackpool. Blackpool musste im Vergleich zum damals ärmlichen Aberdeen mit dem Flair eines Badeortes für sie geleuchtet haben. Natürlich war das lange vor dem großen wirtschaftlichen Aufschwung, den Aberdeen wegen der Ölförderung in der Nordsee erleben sollte; das habe ich dann viel später selbst dort gesehen. Für eine Polin, die in späten fünfziger Jahren nach England gefahren war, schien diese Welt im Vergleich zum grauen, oft noch völlig mit Ruinen durchsetzen Warschau so bunt, glücklich und schön, dass sie es in ihr Herz geschlossen hat. Der goldene Westen leuchtete – und komischerweise war für meine Mutter gerade Blackpool, der ebenso bescheidene wie beliebte Ferienort für die nordenglischen Arbeiterfamilien dieser Zeit, der Inbegriff dieses Leuchtens.

Jetzt schaue ich mir im Internet aktuelle Bilder von Blackpool an, lese negative Schlagzeilen über die verarmte Stadt und die seit Langem bröckelnde Tempel des vergangenen Tourismus. Heute ist Blackpool soziales Notstandsgebiet, bekannt vor allem noch für ausufernde Trinkgelage; berüchtigt sind die Sauftouren junger Männer aus den Unterschichten, vergleichbar mit kollektiven Sauftouren nach Prag oder nach Krakau. Gefeiert werden Junggesellenabschiede: „Stag Party“ und Brautabschiede „Hen Party“ der englischen Arbeiterklasse. Aber immer noch zieht die Stadt jährlich unheimlich viele Touristen an und der Freizeitpark „Blackpool Pleasure Beach“ ist einer der größten in Europa. Es gibt immer noch zahllose Spielhallen und Pubs – und eben die bunte Welt, die ihr Versprechen von Glück selten einlöst, doch immer wieder viele Menschen anlockt.

Witziger weise erzählte jetzt mein Mann, dass ihn seine erste Klassenfahrt im deutsch-englischen Schüleraustausch in der zehnten Klasse eben nach Blackpool führte und er dort in den Sechzigerjahren bei einer Gastfamilie gewohnt und sein Englisch aufpoliert hat. Danach hat er mit einem Freund noch einen ganzen Sommerurlaub dort verbracht. Für die beiden Jungs aus dem bürgerlich konservativen Frankfurt am Main war Blackpool mit seiner unheimlich ausgebauten Unterhaltungsinfrastruktur – den Discos, Konzerthallen, Bars, Spielhallen, Casinos – aber auch wegen der Freiheiten, die englische Jugendliche damals genossen, hoch faszinierend. Sie übten weiter ihr Englisch mit englischen Mädchen und genossen das lustige Leben an der Promenade und auf den Piers. „Fish and Chips“ und enorm viel Spaß. Später, als mein Mann in Manchester gearbeitet hat, verstand er besser, dass Blackpool d e r Traumort für die Sommerfrische der Arbeiter aus den Industriestädten Nordenglands war.

Als Kind soll ich angeblich oft anstatt „das ist so schön“ eher „das ist englisch“ gesagt haben; ich setzte „schön“ mit „englisch“ gleich und das war ausgerechnet mit Blackpool assoziiert.

Ich bin auf Ewas Erzählungen aus Blackpool sehr gespannt…

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