Frauenblick auf die Nulllinie

Monika Wrzosek-Müller

Die Nulllinie. Roman aus dem Krieg

Von Szczepan Twardoch

Wir sitzen oben auf der Terrasse der Villa des Literarischen Colloquiums am Wannsee, unten geht eine riesige orangene Sonne unter; alles taucht in ein bläuliches, dann violettes Licht, es sieht magisch aus. Die Menschen sitzen dicht gedrängt, nicht nur im Saal, und es sind nicht nur Polen hier, wenn sie auch deutlich die Mehrheit bilden. Viele junge Menschen, auch erstaunlich viele junge Männer, auffallend gut angezogen, vielleicht folgen sie dem Helden des Abends.

Auf einer Bank im Park, vor der Lesung, lerne ich eine deutsche Germanistin und Theaterwissenschaftlerin kennen; beide halten wir das blau, blaugraue Buch in den Händen, also ist offensichtlich, wohin wir beide gehen. Sie versteht viele Begriffe aus dem Buch nicht, z.B. Banderovzy (Die Anhänger von Stepan Andrijowytsch Bandera, der Anführer des national rechtsextremen Flügels der OUN-Milizen war, der sog. UPA-Banden, die den Deutschen nahestanden und in der Ukraine Verbrechen an Juden und Polen während des Zweiten Weltkriegs begangen haben. Nach dem Krieg floh Bandera in die BRD und starb 1959 in München). Auch der Begriff Pedärussen ist ihr fremd, das wird dann irgendwann im Buch erklärt, doch spontan ist es für Deutsche offensichtlich nicht zu verstehen. Die folgende Passage verstand die deutsche Leserin nicht: „Sie konnten keinen einzigen Satz sagen ohne `Ukraine`- danach erklärten die Kyjiwer Bekannten, auf deren Einladung du gekommen warst, dir leicht verlegen, die Leute seien eben Galizier, aus Lemberg, die seien halt so, humorlos, ohne Distanz, immer nur Ukraine, denn kurz zuvor hatte ein junges Mädchen, Philologiestudentin von irgendwas, dich wütend angeschrien, du solltest ´in die Ukraine`, nicht `nach der Ukraine` sagen, und als du ihr erklären wolltest, dass man das in Polen so sagt …, schrie sie noch mehr herum, dass Ukraine keine Insel ist…“; meine neue Bekannte verstand auch nicht, warum sich das Mädchen so aufgeregt hätte und ´nach der Ukraine` würde doch niemand sagen. Ich dachte mir, eigentlich müsste der Übersetzer das alles irgendwie klarer übertragen, doch ich mühte mich vielleicht nicht vergeblich… Dann beginnen wir, über die Ukraine und den Angriffskrieg der Russen zu sprechen; wie die Haltungen dazu, die Hilfen in der Welt, in Europa aussehen, und da sagt die Dame: „Ja, und die Ukraine, das war und ist ein doch korruptes Land und Deutschland täte gut daran, genau hinzuschauen, wo die Hilfen, die wir ihnen zukommen lassen, landen“. Mir wird heiß, unangenehm und ich will nur noch weg.

Die Lesung beginnt mit einem lockeren Gespräch zwischen dem Schriftsteller und dem Übersetzer, der in dem Fall auch die Rolle des Gesprächsdolmetschers übernommen hat. Sie scheinen sich gut zu kennen und leicht miteinander auszukommen. Twardoch spricht auf Polnisch. Es sei doch eindeutig ein literarischer Text, ein Roman, mit allen Konsequenzen und Privilegien, die daraus resultieren. Das diene auch der Wahrheit über diesen Krieg. Der Hauptheld Koń (Pferd) sei nicht mit ihm identisch, obgleich ja seine Familiengeschichte da nicht ganz unschuldig wäre. Ich spüre ganz genau seine Faszination und seinen uneingeschränkten Willen, den angegriffenen Ukrainern in dieser Situation irgendwie, auch im Kleinen, zu helfen. Da ist eine Sehnsucht, meiner ähnlich, nach etwas Unbestimmten, dass irgendwo, irgendwann mit mir verbunden war, verbunden ist und wofür ich mich doch verantwortlich fühle. Ja, er habe insgesamt vielleicht zwei Monate, acht Wochen an der Front, an der Nulllinie verbracht. Das sei schon realistisch, was er da beschreibe. Er werde immer wieder in die Ukraine fahren und Hilfsgüter bringen, so wie andere Polen auch; er sammelt auch Geld, was ihm durch seinen Bekanntheitsgrad leichter falle. Am Anfang sei es um Autos gegangen, die großen LKW, jetzt bringe er hauptsächlich Drohnen, Zubehör für die Drohnen, Nachtsichtgeräte. Der Krieg funktioniere nicht so, dass man Monate auf die Lieferungen warten könne, da sei man längst tot, und sie bräuchten alles, immer und immer wieder. Ja und es stimme, dieses Crowdfunding funktioniere unter den Zivilisten, sowohl ukrainischen als auch ausländischen, aber auch Soldaten selbst würden vieles privat finanzieren.

Ja und der Unterschied zu den früheren Weltkriegen: … es sei vielleicht dem Ersten Weltkrieg ähnlicher, dem Stellungskrieg damals, sie sitzen in den Schützengräben, harren aus und warten auf Drohnen. Der größte Unterschied bestehe darin, dass die Gegner immer füreinander sichtbar sind, durch die Wärmebildkameras sehen sie sich, können auch gezielt treffen, wenn sie wollen, falls die gutes Material haben.

Dem Buch sind zwei längere Essays vorangegangen, die Twardoch für die Zeit und NZZ geschrieben hat, daraus, aus dieser Idee entstand dann das Buch. Es sei für ihn auch eine Verpflichtung, schreiben könne er doch am besten.

Das Buch erzählt die Geschichte einiger Soldaten: Koń, Ratte, Schabla, Jagoda, Corleone, Leopard, Waräger und Zuja. Nicht bei allen lernen wir ihre vorherigen Geschichten kennen. Über die ukrainische Armee schreibt Twardoch: „Andererseits erinnern die Streitkräfte der Ukraine viel mehr an die alte Sowjetarmee, als du glauben möchtest, Koń, du und all jene, die wie du am Anfang des uneingeschränkten Krieges, der für dich überhaupt erst der Kriegsbeginn war, an die einfache Message der ukrainischen Propaganda von einer modernen, westlichen Armee glaubten, mit vielen schönen, draufgängerischen Jungs, die gegen die Kräfte des Bösen kämpfen, wie Tolkiens Gondor gegen die Orks.“

Durch das Anfangszitat aus der Ilias kommt man zu grundsätzlichen Überlegungen zum Krieg: warum geht man hin? Was wiegt schwerer, der Ruhm des gefallenen Soldaten oder der langweilige Kriegsalltag? Nachdenken über Stolz und Mut, über „unsterblichen Ruhm“, wie das indische Epos Bhagawadgita, die Ilias oder die nordische Edda trifft das Buch allgemeinere Aussagen. Irgendwo sagte Twardoch in einem Interview: “Die meisten Soldaten, die er getroffen habe, sind gegen den Krieg. Sie wollten ihn nicht. Sie kämpften, weil sie müssen. Es ist nicht ihre Lebensart. Sie müssen diesen Krieg führen, weil sie ein Land zu verteidigen haben, und die Verteidigung des Landes ist keine abstrakte Idee. Es ist kein abstrakter Patriotismus. Denn sie verteidigen ganz reale und einfache Dinge, wie ihre Heimat. Sie verteidigen ihre Familien, sie schützen ihre Familien vor Vergewaltigung, Mord und Massengrab. Denn das ist es, was die Russen üblicherweise tun, seit wir Russland kennen“.

Doch der Kriegsalltag wird völlig ungeschönt präsentiert, sie versinken meistens im Schlamm, es ist kalt, einsam, gefährlich und langweilig. Da versagen jede Rationalität und jedes Wissen über intellektuelle Inhalte, was zählt sind Intuition, manchmal Aberglaube; auf jeden Fall hilft Glaube, die Zeit durchzustehen. Bei jedem dieser Kämpfer ist die Sehnsucht nach einem normalen, manchmal vulgären Leben zu spüren, daher auch die sprachlichen Vulgarismen. Deswegen auch die ausführliche Schilderung eines guten Essens in einem italienischen Restaurant in Kyjiw, der schnellen WhatsApps mit den Freunden, einer Frau, manchmal der Eltern, Erhaschen von normalem Leben. Zwar sagt Twardoch, sie, die Soldaten spürten keinen Hass, Hass macht blind und begrenzt die Möglichkeiten, aber Wut, unheimliche Wut auf diese Russen, nicht nur auf Putin: „`Du meinst, das Problem wäre Putin? `, hat Zuja dich einmal gefragt, als ihr im Bett über eure Jugend spracht und du ihr davon erzähltest, wie du in den frühen 2000er Jahren das nördliche Russland bereist hast und wie gut du mit den gewöhnlichen Russländern auskamst, was für gute Menschen das seien. `Viele Leute im Westen denken so. Dass die gewöhnlichen Russländer normale Menschen wären, so wie in dem Lied von Sting, Russians love their children too. Vielleicht stimmt das sogar. Aber es war nicht Putin, der die Russländer versklavt hat, Koń. Das haben die Russen selbst getan, sie haben Putin und das ganze System hervorgebracht. Die Folterkammern der Separis in Donezk, das ist nicht Putin, und dieser Typ, der mir sagen wollte, was er von mir hören will, und der die MP an den Kopf meiner Mutter hielt, war auch nicht Putin, nicht Putin hat mir die ganze Hand reingesteckt. Putin geht aus ihnen hervor, aus ihrer Substanz, Putin ist der Spiegel, in dem sie sich betrachten. Putin ist sie, und sie sind Putin.“

Das Buch hat kein happy end. Die Hoffnung des Helden angesichts der anfliegenden russischen Drohne: „der päderussische Pilot ist vielleicht ein Versager“; doch auf dem anderen Ufer des Dnipro sind die Überlebenschancen der ukrainischen Soldaten gering, minimal.

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