Frauenblick auf ein schönes Buch

Monika Wrzosek-Müller

Arno Geiger, Reise nach Laredo

Es gibt Schriftsteller, oder eher Bücher, bei denen ich total überrascht bin, woher wohl die Einfälle kommen. Ich selbst klebe leider an der Wirklichkeit, sehe alles um mich herum, reflektiere zwar, kann mich aber nicht davon lösen, eine Vision daraus entwickeln, eine phantastische Idee, eine große Frage. Wahrscheinlich deswegen hat mich Arno Geigers letzter Roman Reise nach Laredo so begeistert. Es ist ein Meisterstück in jeder Hinsicht; seine Sprache fesselt mich fast genauso wie diese imaginierte und doch bis zum Ende ausgedachte Geschichte. Ein ungewöhnliches Buch.

Die Handlung ist äußerst einfach: der große Kaiser Karl – nicht der Karl der Große, sondern Karl V. – dankt ab und zieht sich in das entlegene spanische Kloster Yuste zurück. Dort will er, aller Ämter und Herrscherpflichten ledig, über sein Leben nachsinnen, meditieren und sich selbst finden. Doch auch da, im Kloster wird er von den ihn plagenden Fragen über den Lebenssinn, den Begriff von Freiheit begleitet, auch ändert sich wenig an den ihn umgebenden menschlichen Verhältnissen, die erlebt er als weiterhin einengend und bedrückend. Er ist mit 58 Jahren freilich auch schon ein alter Mann und dazu krank, von Fieberanfällen geschüttelt, wahrscheinlich Malaria; es ist von sieben Krankheiten die Rede. In Yuste trifft er seinen illegitimen Sohn Geronimo und beschließt spontan, mit dem Kind auf Reisen zu gehen. Er flieht mit dem Elfjährigen aus den weiterhin versteinerten Verhältnissen hinter den Klostermauern, ergreift sozusagen die Flucht nach vorn. Sucht die Antwort an die wohl wichtigste Frage des Lebens, nach dem Sinn des Lebens, woanders. Schon seine Abdankung ist ein Akt der Selbstfindung, doch er merkt, dass in dem untätigen Dahindämmern im Kloster auch nicht die Antwort liegt, obwohl er hier schon viele Wahrheiten für sich entdeckt.

Ich habe, während ich das Buch las, immer wieder einzelne Sätze, Gedanken aufgeschrieben, so brillant schienen sie mir. In jetziger Zeit, in der sich alles so schnell verändert und man nicht weiß, welcher Konflikt Morgen uns begrüßt, scheinen sie an Aktualität nie zu verlieren.

„Schönheit ist selten wahr und Wahrheit selten schön“; oder „Gott beschütze uns vor dem, was wir uns wünschen“, und weiter: „Es heißt, der Mensch ist das, was ihm bleibt, nachdem er alles verloren hat“, und noch weiter „Hätte der Mensch sich selbst in der Hand – wäre er dann gefangen oder frei?“ oder auch „Erst wenn man die Wahrheit schreibt, ist eine Geschichte aus“. Ich habe es fast wie ein Aphorismen-Buch gelesen: „Vielleicht ist, was wir für Freiheit halten, nur die kurze Reise von einem Gefängnis zum anderen, ein Aufschub, kein Entkommen“, „Schon mancher hat etwas anderes gesucht und wieder das Gleiche gefunden“…; „…und es stimmt natürlich, was Marc Aurel geschrieben hat, dass die Lebenskunst der Kunst des Ringens ähnlicher ist als der Tanzkunst“. „Aber er will nicht mithelfen, das Getriebe der Welt mit leeren Phrasen zu ölen“ und zum Schluss: „In jedem Menschen steckt ein zurückgetretener König“. Hier nur ganz kleine Auswahl der Weisheiten, die ich beim Lesen gefunden habe.

Während der Flucht erleben Karl und seine Mitreisenden alle Unbequemlichkeiten einer Reise im Jahre 1558, auf dem Maulesel, zu Pferd; der Hochgenuss ist ein von Maultieren gezogener Wagen. Die brutalen Auseinandersetzungen rundherum, Streitereien, Raufereien, Kämpfe, Diebstähle, Schmutz und Ungerechtigkeit. Das alles muss Karl durchleben, um festzustellen: „So war ich nie, so frei, so unabhängig. Vielleicht könnt ich jetzt, für einige Augenblicke, für drei Tage, das wäre immerhin etwas. Kann man Unbeschwertheit lernen? Wird man so geboren?“ Der Gegensatz zwischen dem immer mürrischen und nachdenklichen Karl, der doch in der Vergangenheit verhaftet bleibt, und seinem sonnigen und kindlichen Sohn, der immer nur im jetzt existiert, könnte nicht größer sein. Am Ende erleben sie beide das Meer: unendlich, frei und wohltuend.

Fasziniert las ich, wie man sich einer historischen Persönlichkeit bedienen kann, um einen Roman zu konstruieren, der ganz universelle Fragen stellt; für mich ist es eigentlich kein historischer Roman, obwohl in der Szenerie des 16. Jahrhunderts verankert, eher ein philosophischer. Denn letztendlich entpuppt sich die ganze Reise als Vision eines todkranken Mannes, nachdem er zu viel Laudanum eingenommen hat, eines Sterbenden, „der die Sehnsucht nach Normalität nach Gefühlen, die er vielleicht nie hatte: Unbeschwertheit, Leichtigkeit, Gelassenheit“ ausleben will.

Die Antwort wird natürlich nicht direkt serviert, doch sie wird immer wieder angedeutet; im Erleben hier und jetzt, im Moment verweilen, nur so kann man Augenblicke des Glücks und der Freiheit erleben. Für das Kind wiederum bedeutet der Tod seines königlichen Vaters eine große Veränderung; sein Leben und das Leben der begleitenden Personen nimmt einen Neuanfang: „Vor uns liegt noch viel“.

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