Monika Wrzosek-Müller
Nachdenken über ein Buch: Lea Ypi, Frei. Erwachsenwerden am Ende der Geschichte.
Vielleicht ist es an der Zeit, einen neuen Blick auf die Umbrüche, Revolutionen, gewaltfreien, stillen Revolutionen, „Wenden“ um und nach 1989 zu werfen. In Polen hatten diese Umwälzungen eigentlich schon früher stattgefunden und die sperrigen, oft bruchhaften Biografien verliefen vielleicht doch etwas milder als die, die Lea Ypi in ihrem Buch nachzeichnet. Sich wirklich ernsthaft damit beschäftigen, worum es den Menschen in den später so genannten post-sozialistischen Ländern in Ost-, Süd- und Mitteleuropa in dieser Zeit ging! Das würde allerdings bedeuten, sich den einzelnen Biographien zuzuwenden und wirklich genauer hinschauen, was die Menschen da bewegt hat, jenseits großer Schlagworte: Freiheit, Demokratie; worum sie wirklich gekämpft haben.
Auf jeden Fall findet diese Auseinandersetzung inzwischen in der Literatur statt. Sie liefert immer neue Bücher, darin neue Ansätze, neue Blickweisen, neue Erkenntnisse zu den Verläufen, den Absichten und die Resultate dieser spannenden, turbulenten Zeit. Vielleicht hat hier auch der Krieg gegen die Ukraine und damit verbundene Debatten einen anderen, freieren und differenzierteren Blick erlaubt. Auch das Nachdenken über die Zukunft, wenn auch in der Vergangenheit gründend, bleibt da doch nicht stehen; es gibt immer neue Wege, Lösungen und Vorschläge. Denn die Weltordnung (oder Unordnung) fordert uns ständig dazu heraus, eigene Standpunkte und Überzeugungen kritisch zu überprüfen und eben neue Wege einzuschlagen, überhaupt Neues zu wagen.
Gerade habe ich ein Buch gelesen, das vieles anders darstellt, als die gängigen Erklärungen nahelegen, die Entwicklungen vielleicht aus einer neuen, besonderen Perspektive zeigt; ich meine das Buch von Lea Ypi, einer albanischen, jetzt auch britischen Politikwissenschaftlerin und Philosophin: Frei. Erwachsenenwerden am Ende der Geschichte. Die Autorin, eine junge albanisch-europäische Intellektuelle, die in Rom an der Universität di Sapienza und in der Badia Fiesolana (am Europäischen Hochschulinstitut in Florenz) Philosophie, Journalismus und Literatur studiert hat, erlaubt uns Einblicke in die Ereignisse der Jahre um 1990 in ihrem Heimatland Albanien – einem Land, das zwar in Europa liegt und mit der alten griechischen und römischen Kultur verbunden ist, dann aber völlig isoliert war und ganz für sich alleine existierte. Ypis Leben, die Kindheits- und Jugendjahre in Albanien bilden den Kern der Erzählung, aber es geht auch um ihre eigenen Reflexionen darüber, was passiert ist, wie ihre Eltern die Krise gemeistert haben oder eben nicht.
Ich denke, für viele von uns war und ist Albanien ein weißer Fleck auf der europäischen Landkarte. Man wusste zwar, dass es irgendwie sozialistisch war, dann auch auf dem Weg zum Kommunismus, aber irgendwie anders mit Stalin als dem großen Guru des Ostblocks, mehr mit den Chinesen als mit den Sowjets, kurz um man wusste nichts Genaues. Dabei ist Albanien nur 74 km Wasserweg von Otranto in Apulien, von Italien entfernt. Aus den sozialistischen Ländern fuhr man nach Bulgarien, manchmal Rumänien, in seltenen Fällen nach Jugoslawien, aber ich habe nie gehört, dass es jemanden gegeben hätte, der in Albanien unterwegs gewesen wäre. Erstaunlich wäre es nicht; es ist dieselbe Adriaküste, die Millionen von Touristen in Kroatien anlockt.
Die junge Lea wächst in einem sehr sozialistischen oder schon kommunistisch organisierten Land auf; mit strikter Schuldisziplin, Klassendiensten, allen möglichen Ferienlagern und obligatorischen Aktivitäten wie gemeinsamem Straßen reinigen, Bäume pflanzen, dem ewigen Russisch als der lingua franca. Doch alle sprachen eigentlich italienisch, denn die Geschichte des Landes war mit diesem Land viel enger verknüpft, abgesehen von Griechenland und früher dem Osmanischen Reich. Die kleine Lea wird von einer Musterlehrerein über alle Fragen des Lebens aufgeklärt; die Lehrerin hat immer Antworten parat und erklärt die Welt sehr anschaulich und simpel. Die Eltern halten still, zu Hause wird nicht gesprochen, nur das Französisch der Oma verwundert manchmal; Lea wächst systemkonform, in der damals herrschenden Realität auf, ohne etwas in Frage zu stellen. Selbst wenn sie nicht Philosophin wäre und da nicht im Titel das Wort Freiheit stünde, müssten uns von Anfang an Zweifel kommen, ob das Leben im Albanien dieser Jahre wirklich so reibungslos verlief. Dabei legt die Autorin selbst bewusst den Focus auf diesen Begriff. Das Buch beginnt schon damit: „Ich habe mich nie gefragt, was Freiheit bedeutet, nicht bis zu dem Tag, als ich Stalin umarmte.“ Darüber denkt sie nach; Freiheit wovon und aber auch wozu? Wann fühlt man sich frei? Wer, was, wozu gibt einem die Freiheit? Kann überhaupt jemand einem die Freiheit geben? Da kommt die für mich wichtigste Erkenntnis aus diesem Buch: die Freiheit gibt niemandem ein System, auch nicht der Systemwechsel, die individuelle Freiheit, die trägt man in sich, man befreit sich innerlich oder bleibt gefangen in vielfältigen Zwängen und die äußerlichen Symbole der Freiheit helfen einem auch nicht weiter. Natürlich gibt es die Freiheit des Individuums wie auch die der Gesellschaft; über diese Freiheit der Gesellschaft in Albanien erfahren wir: „Ich erinnere mich vage an irgendwelche Demonstrationen, die ein Jahr zuvor an der Berliner Mauer stattgefunden hatten. Wir hatten darüber in der Schule gesprochen und die Lehrerin Nora hatte erklärt, sie hingen mit dem Kampf zwischen Imperialismus und Revisionismus zusammen, und wie sie sich gegenseitig den Spiegel vorhielten, wobei beide Spiegel kaputt waren. Nichts davon gehe uns etwas an. Unsere Feinde versuchen regelmäßig, die Regierung zu stürzen, und ebenso regelmäßig scheitern sie. […] Wir waren von mächtigen Feinden umzingelt, aber wir wussten, wir standen auf der richtigen Seite der Geschichte. Wann immer unsere Feinde uns bedrohten, ging die Partei, vom Volk unterstützt, noch stärker daraus hervor. Im Laufe der Jahrhunderte hatten wir gegen gewaltige Reiche gekämpft und dem Rest der Welt bewiesen, dass selbst eine winzige Nation am Rand des Balkans die Kraft zum Widerstand aufbringen konnte. Und nun führen wir den schwierigsten aller Umbrüche an: von der sozialistischen zur kommunistischen Freiheit, vom revolutionären, durch Gesetze geregelten Staat zur klassenlosen Gesellschaft, in der der Staat allmählich absterben würde.
Natürlich hatte Freiheit ihren Preis, erklärte Lehrerin Nora. Immerzu hatten wir die Freiheit allein verteidigt, und nun war es an ihnen, den Preis zu zahlen. Sie trudelten ins Chaos, wir hingegen blieben standhaft. Wir würden weiterhin als gutes Beispiel vorangehen. Wir besaßen weder Waffen noch Geld, doch wir trotzten dem Sirenengesang des revisionistischen Ostens genauso wie dem des imperialistischen Westens; unsere Existenz schenkte all jenen kleinen Staaten, auf deren Würde nach wie vor herumgetrampelt wurde, neue Hoffnung. An die Ehre, in einer gerechten Gesellschaft zu leben, reichte höchstens unsere Dankbarkeit heran, vor dem Horror geschützt zu sein, der sich in anderen Teilen der Welt entfaltete, an Orten, wo Kinder verhungerten, in der Kälte erfroren oder zur Arbeit gezwungen wurden.“ Zwar wird das mit unerträglichem Pathos vorgetragen aber auch sehr stimmig und logisch und für kleine Kinder wahrscheinlich auch glaubhaft; sie kennen auch nichts anderes. Die Lehrerin hat die nötige Autorität, auf sie wird gehört und sie verfügt über gute rhetorische Fähigkeiten. Man wächst in einer realen Wirklichkeit auf, hat nur e i n e eigene Biografie. Wir Leser erfahren in diesen Passagen auch viel über die Geschichte Albaniens.
Die kleine Lea wählt ihren Schulweg bewusst, sie hat drei Möglichkeiten und wählt an dem Tag den falschen und gerät in eine Demonstration, hört zum ersten Mal die Rufe: „Freiheit, Demokratie“. Auch der abgeschlagene Kopf der Stalinstatue ist ein Zeichen für die neue Zeiten. Erst einmal aber wundern wir uns – wie die kleine Lea -, warum denn zu Hause so selten von Onkel Enver (Hoxha) gesprochen wird und warum sein Bild nicht im Wohnzimmer hängt. Dazu müssen wir uns vergegenwärtigen, das alles passiert in den späten 80er Jahren; die Autorin wurde 1979 geboren. Es ist einerseits erschreckend und zugleich faszinierend zu lesen, wie abgeschottet, abgeschlossen die Welt im Albanien jener Zeit war. Wie verhärtet die Fronten waren, so dass es in den Familien keinen Platz für ihre Wahrheit, ihre Biografien gab. „Ich bin in dem Glauben aufgewachsen, meine Eltern teilten meine Begeisterung für die Partei, meinen Wunsch, unserem Land zu dienen, meine Verachtung für unsere Feinde und meinen Kummer darüber, dass meine Familie keine Kriegshelden hervorgebracht hatte, deren sich gedenken ließ. Aber nun war alles anders. […] Diesmal gab es keine Fixpunkte; alles musste von Grund auf neu erschaffen werden. Die Geschichte meines Lebens war nicht die von Ereignissen, die sich zu einem bestimmten Zeitpunkt abgespielt hatten, sondern die einer Suche nach den richtigen Fragen, jenen Fragen, die mir zuvor nie in den Sinn gekommen waren.“ Wie stark musste die Verdrängung und Verleugnung der Vergangenheit in Albanien gewesen sein, wie stark die Angst, dass die Eltern, um das Kind zu schützen, auf ihre Identität verzichteten und sie im Glauben aufwachsen ließen, dies sei die wahre Wirklichkeit. Für eine Polin, die viel früher in den 60er bis 80er Jahren im sozialistischen Polen groß geworden ist, liest sich das alles sehr merkwürdig und zugleich bietet es eine Plattform der bewussten Auseinandersetzung mit dem, was in den 90er Jahren passiert war. Es bietet auch einen neuen Blick auf die Transformation.
Auf dem Umschlag des Buches, auch in der deutschen Ausgabe, sehen wir eine Cola-Dose in der eine rote Rose steckt; diese Cola-Dose war in Albanien ein Symbol der freien, westlichen Welt, um sie kämpften die Leute, kauften leere, einzelne Dosen, um sie in ihren Wohnzimmern aufzustellen.
So groß die Bewunderung für die westlichen Lebenswelten ist – die Transformation, der Umbruch in Albanien verläuft leider alles andere als erfreulich; die beste Freundin landet in Italien auf dem Strich, die Eltern, anfangs euphorisch und engagiert in politischen Ämtern, werden Opfer eines Bankbetrugs und bleiben mittellos zurück. Die Mutter setzt sich mit dem Sohn nach Italien ab und verdient dort ihr Geld als Putzfrau. Der Vater, erst von den Repräsentanten der Weltbank als Hafendirektor eingesetzt, scheitert an den rigiden kapitalistischen Vorgaben der Gewinnmaximierung. Er bringt es nicht über sich, die jahrelang beschäftigten Hafenarbeiter einfach zu entlassen, sie arbeits- und mittellos sich selbst überlassen. Nur die Oma ändert sich wenig, bleibt mit ihren Erfahrungen über die Zerwürfnisse und Katastrophen erhaben.
Die erste Welle oder Walze der Transformation scheint im Falle Albaniens nicht viel Positives hervorgebracht zu haben. Zu groß die Kluft zwischen der Realität und Ideal; zu schnell kommen die Veränderungen und sie sind allzu sehr mit der schnellen Selbstbereicherung verbunden. 1997, nach dem „Lotterieaufstand“, als die auf dem Schneeballsystem beruhenden Pyramidengeschäfte der Banken scheitern, kommt es zum Bürgerkrieg. Tausende Albaner emigrieren, verlassen das korrupte, im Nepotismus versinkende, Land. Die Beschreibungen dieser Zustände bei Lea Ypi sind exakt und nüchtern; auf bewundernswerte Weise bemüht sie sich, die Ereignisse einzuordnen und deren Sinn zu ergründen. Sie tut das, so denke ich, für sich selbst, aber wir, die Leser, profitieren ungeheuer von diesen einerseits emotionalen, aber andererseits auch fast wissenschaftlich wirkenden Überlegungen.
„’Die Zivilgesellschaft’ war ein vor kurzem ins politische Vokabular aufgenommener Begriff, der mehr oder weniger ‘die Partei’ ersetzte. Bekanntermaßen hatte die Zivilgesellschaft Osteuropa die Samtene Revolution gebracht. Sie hatte den Verfall des Sozialismus beschleunigt. Bei uns wurde der Begriff populär, als die Revolution bereits abgeschlossen war, vielleicht um einer Reihe von Ereignissen Bedeutung zu verleihen, die uns erst unwahrscheinlich erschienen waren und dann ein sinnstiftendes Etikett brauchten. Das Wort gesellte sich zu anderen neuen Schlüsselbegriffen wie ‘Liberalisierung’, der ‘demokratischer Zentralismus’ abgelöst hatte; ‘Privatisierung’ nahm die Stelle von ‘Kollektivierung’ ein und ‘Transparenz’ die von ‘Selbstkritik’. Geblieben war der Begriff ‘Übergang’, meinte aber nicht länger den Übergang vom Sozialismus zum Kommunismus, sondern den vom Sozialismus zum Liberalismus; auch ‘antiimperialistischer Kampf’ wurde ersetzt, und zwar durch ‘Kampf gegen die Korruption’.
Alle diese Konzepte handelten von der Freiheit, allerdings nicht mehr des Kollektivs – inzwischen ein Schimpfwort – sondern des Individuums.“
Am Anfang des Buches steht der Satz von Rosa Luxemburg: „Die Menschen machen ihre Geschichte nicht aus freien Stücken, aber sie machen sie selbst“; ja die Wichtigkeit der Selbstbestimmung, nicht über die Köpfe hinweg, erklärt vielleicht auch etliche Missverständnisse und manches von dem Scheitern auf dem langen Weg des Ostens gen Westen.
Für mich hat dieses Buch wirklich eine Lücke gefüllt, die sich immer größer und bedrohlicher auftat zwischen den Versprechungen und Illusionen und den dann eintretenden Realitäten. Vieles hätte vielleicht sanfter und ohne Druck verlaufen können; diese Diagnose können wir aber leider meistens erst im Nachhinein stellen.
