Frauenblick auf…

die Wohnanlage

Monika Wrzosek-Müller

Jeden Morgen ging sie mit dem Hund aus dem Haus und je nach Wetter bog sie links oder rechts ab. War es sehr sonnig und heiß ging sie nach links, da war es vormittags schattig und oft windig. Sie ging dann zwischen kunstvoll angelegten Parkflächen, die eben keine reinen Grasflächen waren; da sind diverse Bodendecker eingepflanzt, manche blühten schon, andere kamen später, auch verschiedene Blumen wie Iris und niedrig wachsende Rosenarten, aber auch Hortensien, Sommerflieder, Lavendelbüsche, verschiedene Arten von Storchenschnabel, Immergrün und vieles mehr. Diejenigen, die länger im Schatten lagen, gediehen eindeutig besser, sie wurden nicht von der Sonne verbrannt. Nach rechts lief sie, wenn im Winter, Frühjahr oder späten Herbst Licht- und Sonnenstunden weniger wurden. Eigentlich war die Bepflanzung ähnlich, wie auf der anderen Seite, die Sonneneinstrahlung setzte aber den Pflanzen oft so stark zu, dass sie manchmal schon in Juni ausgetrocknet und mickrig waren und es viele nackte Stellen gab.

Es ist eine schöne Wohnanlage, vorne ein dominierender Baukomplex mit zwei Flügeln, einer Kapelle der ehemaligen Klinik; mit einem neu angebauten Flügel präsentierte sie sich mit den roten Backsteinziegeln und mit schönen grünlichen Fenstern, gemäß der ursprünglichen Gestaltung, sehr würdevoll. Nach hinten hin kam dann ein Neubaukomplex hinzu, mit vielen Spielflächen für Kinder und den eben erwähnten Grünflächen. Sie traf viele junge Menschen, manche führten auch ihre Hunde aus, doch sie sah auch viele junge Eltern mit ihren Kindern, entweder im Kinderwagen oder an der Hand gehend. Manchmal ging sie so spät, dass sie sah, wie sie, sobald das Wetter es erlaubte, mit den Kindern im Sandkasten spielten. Jedes Kind mit einer Mutter oder einem Vater, oder einer/einem BetreuerIn, je einzeln, getrennt mit allzu viel Spielzeug. Selten, wirklich zu selten sah sie, dass die Kinder miteinander spielten, meistens schon ältere Jahrgänge. Als Verständigungssprache diente meist englisch. Die Menschen, die sie in der Anlage traf, sprachen verschiedene Sprachen, sie kamen auch aus verschiedenen Ländern, gar Kontinenten, sie waren meistens Ausländer. Am öftesten hörte sie englisch in vielen Varianten, mit verschiedenen Akzenten, aber auch russisch, öfters ukrainisch oder auch arabisch. Selten kam sie mit ihnen ins Gespräch, aber sich gegenseitig zulächeln, das gab es immer wieder. Manchmal grüßten sie einander, da sie sich schon mehrmals gesehen hatten, doch öfters blieb es bei einem Lächeln oder Kopfnicken. Vorne, in dem alten Teil ihres Wohnkomplexes gab es einen alten Park mit vielen riesigen Kastanien und zwei Rotbuchen; die einen zum Teil langsam kränklich, die anderen frisch gepflanzt noch nicht ganz so hoch, aber schon jetzt imposant mit ihren dunkelroten Blättern. Manche von uns versuchten im Sommer die Bäume zu wässern, wenn Regenmangel herrschte. Auch gab es Vorstöße, zusammen im historischen Garten zu arbeiten, Tausende von winzigen Kastaniensprossen aus den Rabatten zu zupfen, die aus den vielen herabgefallenen Kastanien wuchsen. Manchmal sammelten sie auch den angehäuften Müll auf dem Trottoir, doch diese Aktionen blieben nur ganz wenigen ein Anliegen, die Mehrheit der Bewohner beteiligte sich gar nicht daran.

So eine Eigentümergemeinschaft kann zum Albtraum der einzelnen Besitzer werden; das komisch-tragische dabei war, dass wir uns selbst diesen Albtraum veranstalteten und antaten. Meistens handelte es sich bei den Eigentümern um Personen, die im Leben durchaus erfolgreich waren, in ihren Berufen aufgestiegen, es zu etwas gebracht haben. Vielleicht aber gerade deswegen musste alles exzellent, professionell und spitzenmäßig aussehen, so behandelt werden und funktionieren. Sie behandelten die Wohnanlage als ihre Visitenkarte und sichtbares Zeichen des eigenen Erfolgs. Doch gerade durch diese scheinbare Optimierung geriet vieles in Schieflage; es wurde ganz viel Geld, wirklich verschwenderisch ausgegeben, um sich selbst und den anderen zu beweisen, dass man besser wäre, es besser könne und überhaupt am besten Bescheid wüsste. Dabei hatte jeder eine ganz individuelle und dabei doch „die einzig mögliche“ Vorstellung davon, wie alles behandelt werden und aussehen sollte. Noch erstaunlicher war, dass dieselben Menschen, die in der Politik totale Demokratie und Freiheit einforderten, in der kleinen, überschaubaren Gemeinschaft Verhaltensweisen entwickelten, die diesen Prinzipien völlig widersprachen – mit Mobbing und Druck ihre Interessen und Vorstellungen durchzusetzen versuchten. Meistens ging es auch nur darum, das eigene Ego zu bedienen, eigene Ideen und Vorstellungen zu verfolgen, um sich dann erhaben und besser als die anderen zu fühlen; mit rationalen Lösungen hatte das alles wenig zu tun. Die surrealen, auf jeden Fall unrealistischen Entscheidungen erreichten in manchen Eigentümergemeinschaften ein derartiges Ausmaß, dass sie dann nicht mehr wussten und ahnten, wohin sie trieben, wie die von ihnen angestrengten Prozesse enden konnten. Wichtiger war dabei das Sich-Aufspielen als die eigentliche Lösung von realen Problemen. Oft hatten wir dabei mit kafkaesken Zuständen zu tun. Dass dabei vor allem die Hausverwaltungen und diverse Kanzleien Geld verdienten und sich auf Kosten der Eigentümer bereicherten, ohne sich anzustrengen und eigentlich den Service, den sie liefern müssten, zu bieten. Noch erstaunlicher dabei war, dass je höher die Zahlungen ausfielen, desto weniger protestierten die Eigentümer, nahmen kaum die ganzen Umstände wahr und beschäftigten sich nicht damit, oder es wurde plötzlich auf einer Person herumgeritten, sie wurde beschuldigt, angeklagt; es kamen hunderte von Mails mit diversen abstrusen Vorwürfen, zu denen nur Halbwahrheiten verbreitet wurden, aber alle sich außerordentlich aufregten, um dann bei einem konkreten, realen Problem ganz still und indifferent zu bleiben. Aktionen wurden durchgeführt, ohne Absprache mit den anderen. Dann herrschte tiefe Stille und man wartete das nächste Gewitter und die nächste Katastrophe ab, um sich dann wieder auf jeden Fall nicht einigen zu können.

Für sie lautete die Ansage: kein kleines Bürgerhaus mit wenigen Parteien, da kennen sich alle und sind ganz zerstritten und es kommt nie zu einer sinnvollen Entscheidung. Hier war die große Eigentümergemeinschaft und sie war völlig dysfunktional; es waren zu viele Meinungen, Vorstellungen, Machtansprüche. Das alles zu bedienen ging nicht, doch insgesamt litt nur die Anlage selbst und der Geldbeutel der einzelnen Miteigentümer; sie zahlten für nicht erbrachte Leistungen, immer und immer wieder erhobene Sonderzahlungen und wunderten sich, dass niemand wirklich richtig dagegen protestierte, so als ob dieses Geldausgeben die einzige Aufgabe sei.

Die Anlage war, wie eine Burg, mit einer hohen Backsteinmauer und gusseisernen Gitterstäben umgeben, dahinter befand sich der wirklich besondere Wohnkomplex in der alten Geburtsklinik. Immer wieder kamen Menschen, Touristen in den kleinen Park vorne, um die alte Fassade zu fotografieren, die jetzt in ihrer Pracht wieder den Menschen diente. Manche fragten, was denn hier früher gewesen sei. Einmal verirrte sich eine ältere Frau, die bewusst nach den Spuren der alten Klinik suchte; ihre Tochter sei hier nämlich geboren worden. Sie zeigte ihr das Bild des Mädchens und dahinter die verwackelten Umrisse der Fassade. Sie war sich sicher, es müsste sich um diesen Ort handeln, nur konnte sie die alte Klinik irgendwie nicht erkennen. Natürlich wurde sie durch die Stockwerke reichende Kapelle mit bunten Glasfenstern; die hätte sie deutlich erkannt. Unsere chinesischen Nachbarn vermuteten viele Geister auf den langen Korridoren und Treppenhäusern, von den Kindern, die vielleicht hier auch gestorben waren. Auf jeden Fall spukten in der Anlage verschiedene Geister, für jeden sein eigenes; auch die nebenan neu gebaute psychiatrische Klinik steigerte die diffuse und morbide Stimmung des Ganzen, manchmal hörte man abends irgendwelche Schreie und Rettungswagen brachten öfters Patienten, auch nachts.

Die meisten Bewohner des alten Teils sind inzwischen in fortgeschrittenem Alter, eigentlich kam ich auf die Idee, darüber zu schreiben, nachdem ich das Buch von Julie Otsuka „Solange wir schwimmen“ gelesen habe (der Autorin des wunderbaren Texts „Wovon wir träumten“). Es gibt dort die Beschreibung einer besonderen Gemeinschaft von Leuten, die in einem privaten, exklusiven, im Tiefgeschoss eines Hochhauses gelegenen Schwimmbad zusammen schwimmen und die mich in ihrem privilegierten Eigensinn sehr eindringlich an unsere Wohngemeinschaft erinnern.

Otsuka: „In unserem ‘wirklichen Leben’ oben sind wir Vielesser, Nichtskönner, Hundesitter, Crossdresser, Strickverrückte (nur noch eine Reihe), heimliche Hamsterer, unbedeutende Dichter, nachziehende Ehepartner, Zwillinge, Veganerinnen, ‘Mami’, ein zweitklassiger Modedesigner, ein Ausländer ohne Papiere, eine Nonne, eine Dänin, ein Polizist, ein Schauspieler, der im Fernsehen gerade einen Polizisten spielt, eine Gewinnerin der Green-Card-Lotterie, eine zweifach nominierte Professorin des Jahres, ein landesweit bekannter Go-Spieler, drei Typen namens George (George, der Podologe, George der Neffe des in Ungnade gefallenen Financiers, George, der ehemalige Golden-Gloves-Boxer im Weltergewicht), zwei Roses (Rose und die andere Rose), eine Ida, eine Alice, ein selbsternannter Nobody (beachtet mich gar nicht), ein ehemaliges Mitglied der Studentenbewegung, zwei verurteilte Verbrecher, süchtig, kampfbereit, verbittert, Ladenhüter, Pechvögel, im Zwielicht glanzloser Maklerkarrieren, inmitten langwieriger, sich hinziehender Scheidungen (Es ist das siebte Jahr), unfruchtbar, in unserer Blüte, im Trott, auf Mission, in Remission, in der dritten Woche Chemo, in tiefer und elementarer Verzweiflung (Man gewöhnt sich nie dran) aber unten im Schwimmbad, sind wir nur eins von dreien: die Schnellen, die Durchschnittlichen oder die Langsamen.

Die Schnellen sind Alphatiere im Becken. Sie sind angespannt, aggressiv und überaus selbstbewusst in ihrem Schwimmstil… Sie haben breite Schultern und lange Oberkörper und teilen sich gleichmäßig auf in Frauen und Männer… Von ihnen hält man sich am besten fern…

Die Durchschnittlichen sind deutlich entspannter als ihre Schnellschwimmer-Kollegen. Es gibt sie in allen Formen und Größen, und falls sie je davon geträumt haben, irgendwann in einer schnelleren und besseren Bahn zu schwimmen, haben sie diesen Traum längst begraben… Hin und wieder jedoch gibt es jemanden, der der Versuchung erliegt und plötzlich und ungewollt nach Leibeskräften zu strampeln und zu rudern beginnt, als glaubte er für einen Augenblick seinem Schicksal trotzen zu können…

Die Langsamen sind meist ältere Männer, die kürzlich in Ruhestand gegangen sind, Frauen über neunundvierzig, Aquawalker, Aquajogger, Ökonomen, die aus küstenlosen Schwellenländern der Dritten Welt zu Besuch sind, wo sie angeblich das Schwimmen gerade erst lernen (Genau wie das Autofahren), sowie die gelegentliche Reha-Patientin. Seid nett zu ihnen. Ergeht euch nicht in Spekulationen…“ Das wäre auch für unsere Gemeinschaft ratsam, bleibt bei den Tatsachen und realistisch.

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