Monika Wrzosek-Müller
Antalya – amore mio [sen askim]
Ist das Verreisen, sich auf die Reise machen nicht etwa eine Flucht vor sich selbst, vor den eigenen Problemen, den ewigen Freunden und Feinden, den gleichbleibenden Wegen, dem schlechten Wetter und dem gewohnten Essen, den Nachrichten des Tages, der ewigen Routine, der Langeweile…? Doch, man macht sich auf, fährt möglichst weit weg und nimmt sich selbst natürlich auch mit. So kann man den eigenen Weg immer fortsetzen, ganz weit weg fliehen, auf die Suche gehen und sich selbst doch dann auch überall mitnehmen, mit dem uns allen bekannten Don Quijote wandern. Manchmal aber reichen kleine Veränderungen, um etwas gelassener und optimistischer auf die Welt rundherum zu blicken; es ändert sich vielleicht das Wetter und die Ausblicke sind unbekannt und ganz neu, und wenn sie noch wirklich schön sind, die Menschen um einen herum herzlich, freundlich, zufrieden, dann lebt man auf, versucht neue Perspektiven auf eigenes Leben zu entwickeln. Also irgendwie doch ein Plädoyer für das Reisen?
Antalya – eine wirklich schöne Stadt, d.h. wunderschön gelegen, mit einer zauberhaften Altstadt und sehr verbauten sonstigen Wohngebieten, aber gut von öffentlichen Verkehrsmitteln erschlossen. An den Rändern der Stadt sind unheimlich viele Dependancen verschiedener ausländischer Unternehmen entstanden, dahin fährt die gut funktionierende Tram, die auch den Flughafen mit dem Zentrum verbindet. Schwierig ist nur, das System der Fahrkartenbeschaffung zu verstehen, an den meisten Bushaltestellen steht auch nichts, weder über die Buslinien noch über die Fahrzeiten. Man sitzt und wartet geduldig, was kommt; immerhin gibt es Sitzbänke und überdachte Haltestellen. Die schrecklichen Hotelburgen, die inzwischen in der dritten Reihe gebaut werden, befinden sich weiter südlich, an den Sandstränden Richtung Süden, Richtung Side und Alanya. Wir wohnen in dem gut bürgerlichen Wohnviertel Muratpasa mit Häusern hauptsächlich aus den 70er und späteren Jahren. Jeden Tag wird hier gründlich gefegt und jeden zweiten Tag wird der Müll abgeholt, es ist sauber. Vorne verläuft die Meerpromenade, natürlich mit Palmen gesäumt, und zu den steilen Klippen hin mit Parkanlagen und verschiedenen Lokalen bestückt. Die Parks sind überall mit Bewässerungssystemen durchzogen, wegen der extrem langen Trockenperioden im Sommer. Der Ausblick auf das Taurusgebirge und den kilometerlangen Kieselstrand Konyaalti ist mehr als imposant, es ist atemberaubend und erinnert an die französische Riviera, besonders jetzt, da manche Bergspitzen noch schneebedeckt sind und natürlich keine Menschenmassen umherrennen. Das Wetter ist wirklich herrlich, frühlinghafte 18/20 Grad, in der Nacht kann es aber auch noch richtig kalt werden.
Wir haben aber auch an zwei Tagen ein Horrorgewitter, Sturm, Hurrikan oder so was Ähnliches erlebt, mit Wassermassen, die wie eine Wasserwand vom Himmel niederkamen und die ganze Stadt fast überflutet haben; die Schulen waren für zwei Tage geschlossen, die Kommunikation funktionierte nicht, angeblich ist jemand in einer Unterführung gestorben, wo das Wasser nicht so schnell abfließen konnte. Der Regen kam von einem Augenblick auf den anderen, wie ein gewaltiger Wasserfall, der sich auf die Erde ergoss. Blitze und Donner in direkter Folge; man hatte den Eindruck, die Erde werde sich gleich spalten, auseinanderbrechen, wenigstens die Häuser. Die Autos rutschten auf den Straßen. Der Wind hat auch etliche Bäume umgestürzt, Äste abgerissen, und danach sah man viel mehr Schnee auf den Berggipfeln. Der Frühling, den wir hier schon in voller Blüte zu sehen meinten, ist wieder etwas in die Ferne gerückt. Doch irgendwo habe ich gelesen, dass eben wegen des schönen Wetters ca. 7.000 bis 10.000 Deutsche ständig in der Stadt leben, ohne die deutsch-türkischen Rentner mitzurechnen, die man aber überall trifft. Antalya pflegt seine Partnerschaft mit Nürnberg schon seit 1997; entlang der Seepromenade fährt normalerweise (dieses Jahr wurden die Schienen renoviert) eine wunderbare alte Straßenbahn, die ihr die Stadt Nürnberg geschenkt hat. In der letzten Zeit aber sind immer mehr russische Touristen und auch russische Dauerbewohner in der Stadt anzutreffen, man hört überall russisch sprechende Menschen. Die türkischen Zeitungen kommentierten das folgendermaßen: „Olga überholt Helga“. Ehrlich gesagt, kann man alle diejenigen verstehen, die es hierherzieht; das Wetter ist meistens fantastisch, Sonne mit ein paar Wolken am Himmel, Temperaturen zwischen 18 und 22 Grad, mit leichtem Wind, der sich manchmal warm und oft kühl anfühlt (er kommt oft von den Bergen – in Italien Tramontana genannt). Die Restaurants mit großer Auswahl an Gerichten für jeden Geschmack, Cafés mit vielen Leckereien, funktionierende Infrastruktur, gute Einkaufsmöglichkeiten und freundliche Bewohner.
Die Stadt verdankt ihr Flair nicht nur ihrer Lage; auch alte Bräuche werden kultiviert. Aus den Büchern von Orhan Pamuk und etwas auch aus den früheren Aufenthalten in der Türkei erinnere ich mich an die wandernden Straßenhändler, die jeden Tag durch die Straßen zogen. Nicht nur Muezzin ruft mehrmals am Tag, auch die Händler verkünden laut, was sie zu bieten haben. Hier verkaufen sie aber keinen Ayran, Tee oder Honig, sondern sie sammeln alle möglichen Elektrogeräte oder schleifen die Messer, es gibt auch Jungs, die altes Papier sammeln (in Polen sammelten wir auch „Makulatur“ und bekamen dafür ein paar Groschen). Alle diese Leute ziehen auf der Straße ihr kleines Wägelchen und sammeln, was sie bekommen. Das alles geschieht ohne Eile, ganz langsam und wie nebenbei, bedächtig und unaufgeregt. Fast jeden Tag rollen sie ihren Wagen die Straße entlang. Wir leben auch unweit einer Grund- und Mittelschule, die mich stark an meine alte sozialistische Schule in Polen erinnert, wahrscheinlich weil das Gebäude aus den siebziger Jahren stammt. Nur der Hof und Auslauf für die Kinder ist zu klein; sie drängeln sich auf den wenigen Plätzen um das Gebäude zwischen dem Sportplatz und dem öffentlichen Café. Als Klingelzeichen erklingt eine Melodie, die ich schon kenne, nur lange weiß ich nicht woher. Plötzlich erinnere ich mich daran, dass meine Nachhilfeschülerin aus Afghanistan in einer Berliner Grundschule, die eineinhalb Jahre in der Türkei gelebt hat und der es dort sehr gefallen hat, mir immer wieder diese Melodie vorgesungen hat. Mit dieser Melodie beginnen wir den aktiven Tag, der Muezzin ruft uns vergeblich.
Überhaupt hat man den Eindruck, die Menschen sind total ruhig und gelassen. Sie hetzen nicht, sie belehren die anderen nicht, sie drängeln sich nicht in die öffentlichen Verkehrsmittel, auch wenn man auf die Busse manchmal sehr lange warten muss. Es herrscht auch totale Freiheit und Lockerheit in der Art, wie sich die Leute kleiden. Man sieht Touristen in Shorts und T-Shirts sogar in Flipflops, aber auch Damen in langen Daunenmäntel und Winterstiefel; neben ganz legerer Kleidung haben wir auch einige ältere Herren in sehr sorgfältig gepflegten alten schwarzen Anzügen, mit Weste, Einstecktuch, Krawatte, weißem Hemd gekleidet, gesehen. Überall gibt es Cafés, wo ganz viele Menschen sitzen, auch länger beim Türkischen Tee, sprechen, lachen, verschiede Spiele spielen; die Trennung zwischen Männer- und Frauen-Cafés ist aufgehoben, auch mischen sich die Frauen im Kopftuch ganz zwanglos mit denen ohne. Es gibt, wie in Italien Bars, eher Cafés, wo die Preise wirklich niedrig gehalten werden und alle hingehen können (sie werden von Kooperativen betrieben). Leider fehlen uns die nötigen Sprachkentnisse, so dass die Kommuniktion eher mit Händen und Gesten vonstatten geht. Manche überraschen uns mit perfekten Deutschkentnissen, aber ansonsten ist eher das Notenglisch im Gebrauch; doch alle sind wirklich unheimlich freundlich und herzlich. Es gibt eine neue Gruppe von türkischen Rückkehrern aus Deutschland, neben den Rentnern kommen immer mehr junge Leute zurück, geboren in Deutschland mit perfektem Deutsch (und hoffentlich perfektem Türkisch), die ihr Glück in der Heimat ihrer Eltern versuchen. Viele von ihnen fühlen sich in ihrer deutschen Heimat nicht genug beachtet, angenommen; gerade höre ich im Radio die empörte Stimme von Illker Catak, der darüber erzählt, dass bei der Erwähnung des deutschen Beitrages für die Oskar-Nominierung für den diesjährigen ausländischen Beitrag sein Name nicht erwähnt wurde, sondern nur der der Hauptdarstellerin. Er kontert humorvoll, offensichtlich war sein Name für den Nachrichtensprecher zu schwer auszusprechen.
Auffällig viele junge Leute tragen schwarze Jogginganzüge und diverse Sneaker; das scheint der neueste Modetrend zu sein. Sie benutzen auch unzählige Typen von E-Rollern, es gibt auch etwas stabilere Varianten auf drei Rädern für ältere Menschen. Überhaupt scheint uns die Nutzung aller modernen Erzeugnisse sehr verbreitet; dass sie nicht immer funktionieren, ist andere Sache. Viele dieser Geräte stammen aus türkischen Fabriken. Unsere Wasch- und Spühlmaschine genauso wie der Staubsauger und das Herd sind türkischer Produktion; das erschwert für uns den Gebrauch, weil alles auf Türkisch beschriftet ist. Das erstaunt uns, denn sowohl in Polen als auch in der Tschechoslowakei und in Italien stammen die meisten dieser Produkte aus Deutschland oder allenfalls aus Schweden (Elektrolux).
Doch am auffälligsten ist die Zahl der Katzen und der Katzenliebhaber in der Stadt. Schon unser türkischer Freund hat uns erzählt, dass er sich um einige Katzen kümmert, sie zum Tieratzt bringt, sterilisiert, füttert und jemanden für das ganze Jahr beaftragt, der sie bei seiner Abwesenheit füttert, doch ich habe nie im Leben an solche Massen von diesen Tieren gedacht. Sie leben total friedlich auf der Straße, werden gestreichelt, gefüttert, einmal in der Woche schauen auch junge Tierärzte bei den Katzenscharen vorbei, sie werden dann geimpft, entlaust, entwurmt. Das Futter stellen die Katzenliebhaber kiloweise bereit, die Wassertränken werden aus alten großen Plastikflaschen zusammengebastelt (das ist dann im heißen Sommer besonders wichtig), wirklich ein erstaunliches Paradies und Harmonie für diese Tierart. Vielleicht haben sie wegen der hohen Zahl der Katzen auch keine Ratten in den Häusern und auf den zahlreichen Märkten. Das Zusammenleben der Katzen mit ein paar Straßenhunden, die wohl doch wesentlich schwieriger haben, aber alle mit Chips markiert und völlig harmlos sind, entwickelt sich problemlos, sie leben zusammen in einer erstaunlichen Harmonie. Natürlich schauten wir genau hin, denn unser kleiner Hund (ein Zwergdackel) ist kleiner als viele der Katzen, die auf dem Trottoire herumsitzen. In den ersten Tagen waren wir sehr in Sorge, wie wir das meistern würden, die Spaziergänge und das Zusammenleben mit diesen Katzenscharen, doch es stellte sich als völlig unkompliziert und für beide Tierarten harmlos heraus, auch wenn sie aneinander gerieten. Und das ungeachtet des (sowohl polnischen als auch deutschen) Spruchs „wie Hund und Katze“ [jak pies z kotem], also immer im Streit und agressiv; siehe da, es gibt auch andere Möglichkeiten des miteinanders.
Die Rufe des Muezzins, kurz vor sieben Uhr wecken mich nur, wenn ich schlecht schlafe. Sie sind nicht agressiv aber doch fremd, verteilt über den Tag, erinnern sie daran, dass man sich in einem anderen Kulturkreis befindet. Überhaupt fühlt man sich, vielleicht durch mangelnde Sprachkentnisse, fremd und einsam. Ab und zu sieht man ganz verschleierte Frauen, allerdings nicht in unserem Wohnviertel, eher in der Altstadt. Es sind manchmal Touristinnen, viele Einkaufstüten baumeln an den Händen von allen Familienmitgliedern. Die alte Moschee konnten wir leider nicht betreten, vielleicht waren wir zur unpassenden Uhrzeit da.
Antalya, das war auch die Lieblingsstadt meiner Freundin Ewa. Vor ungefähr dreißig Jahren war sie oft dorthin und in die Umgebung gereist, hatte dort ihren späteren Ehemann kennengelernt. Sie schwärmte von der Stadt, besuchte sie zu verschiedenen Jahreszeiten und behauptete, sie wäre immer gleich schön, so angenehm, und es herrsche immer schönes Wetter. Sie lernte viele der typischen Spiele spielen und kochte dann in Berlin auch türkisch. Das waren auch enorm leckere, aber aufwendige Gerichte: gefüllte Zuchcini, Auberginen (Imam Bayildi [der Imam fiel in Ohnmacht]), Paprika und Weinblätter, alles mit einer anderer Füllung, verschiedene Sorten von Pilav und viele andere Gerichte. Wir entdecken ein wirkliches Super-Restaurant,„7 Mehmet“, 1937 gegründet, das jetzt neu errichtet wurde, mit einer riesigen Tarasse über dem Meer, alles pickfein und modern, mit unheimlich guter Küche und teueren alkoholischen Getränken. Hauptsächlich wird das wirklich hervorragende Gemüse und zum Nachtisch auch das Obst aus der Gegend in verschiedenen Zubereitungsformen angeboten (zur Zeit ist die Ernte der Avocados und der Granatäpfel, nicht zu reden von den Orangen und Erdbeeren). Die Gewächshäuser ziehen sich entlang der Hauptstraße nach Süden, sind aber auch zwischen einzelnen Stadtvierteln zu sehen; die Erdbereen waren jetzt schon großzügig angeboten. Natürlich war Ewas Antalya noch keine Millionenstadt wie heutig. Die Bevölkerungsentwicklung verläuft hier rasant, noch in den achtziger Jahren war Antalya eine mittelgroße türkische Stadt mit ca. 250.000 Einwohnern, doch schon 2000 waren es über 600.000 und dann verdoppelten sich die Zahlen ganz schnell noch einmal, so dass man heute von fast drei Millionen spricht, mit Tendenz zu weiterem Wachstum.
