Monika Wrzosek-Müller
Wir alle haben seinen Roman „Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins“ gelesen, darüber diskutiert und uns ereifert. Das Schicksal, das die Tschechoslowakei mit der gewaltsamen Beendigung des „Prager Frühlings“ erleiden musste, hat uns alle beeinflusst und bewegt. Alle, die aus Polen dann später in die Emigration gingen, aber auch alle, die in ihrem Land gegen den Kommunismus kämpften. Kunderas persönliches Schicksal spiegelte die Zerrissenheit der Menschen in jenen Zeiten in der Heimat und im Exil nur allzu genau wider.
Am 11. Juli 2024 ist Kundera in Paris gestorben. Mich erreicht diese Nachricht interessanterweise in Prag; sein wichtigster Roman hatte mich exakt von Anfang an in Berlin begleitet. „Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins“ erschien auch in Deutschland gleich 1984. Darin schrieb er weise: “Man kann nie wissen, was man wollen soll, weil man nur ein Leben hat, das man weder mit früheren Leben vergleichen, noch im späteren korrigieren kann.“
Wie viele Oppositionelle im Osten hatte er ursprünglich an die Idee und die Durchsetzungskraft des Kommunismus geglaubt. Er trat der Partei bei, wurde gefeiert, unterrichtete an der bekannten Filmhochschule FAMU in Prag. Sein Verhältnis zur alten Heimat nach der „Samtenen Revolution“, zu Präsident Vaclav Havel war, später im Exil in Frankreich/Paris äußerst angespannt; man unterstellte ihm sogar, dass er einen tschechischen Dissidenten an die Organe der Staatssicherheit verraten habe. Kundera hat das immer abgestritten, doch die Aktenlage war eindeutig – es sei denn, man hätte sie fingiert. Dies führte dazu, dass Kundera und sein Heimatland eine sehr schwierige Beziehung pflegten, was darin zum Ausdruck kam, dass seine auf Französisch geschriebenen Romane erst Jahre später in der Tschechei erschienen. Sein Bestsellerroman „Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins“ erschien erst 2006 in Tschechien; umso erstaunlicher, als er in Kanada gleich 1985 in einer ganz kleinen Auflage auf Tschechisch veröffentlicht worden war.
Alle seine Romane handeln von der Zerrissenheit zwischen Heimat und Exil, sind sehr emotional, heben Liebe als die treibende Kraft im Leben hervor. Er schrieb unzählige Bücher: „Der Abschiedswalzer“ und „Der Scherz“ versuchen die Nachkriegssituation in der Tschechoslowakei zu erklären und vielleicht auch deren Weg zu rechtfertigen. Dann „Die Unsterblichkeit“, „Das Buch der lächerlichen Liebe“, „Das Buch des Lachens und des Vergessens“, dann „Die Langsamkeit“, „Die Identität“, „Die Unwissenheit“, fast jedes Jahr ein neues Buch. Er schrieb auch sehr viele Artikel zu ganz unterschiedlichen Themen. Mir fiel immer auf, dass dies, was er schreibt, sehr menschliche, humane Romane sind, sehr gut geschrieben, leichte Erzählkunst mit einer tieferen Reflexion; man las sie mit angehaltenem Atem in einem Zug durch. Die Figuren waren voller Emotionen, Leidenschaft, aber auch voller Widersprüche, mal verzweifelt, mal glücklich – und immer sexy. Wie das öfters bei Schriftstellern ist, spielte die eigene Biografie eine wichtige Rolle.
Erst 2019 nahm Kundera die tschechische Staatsangehörigkeit wieder an, schenkte seine Bibliothek seiner Geburtsstadt Brünn, versöhnte sich allmählich mit seiner Heimat. Dass er jahrelang als Kandidat für den Nobelpreis gehandelt wurde und diesen dann doch nicht bekam, erklärte ein bekannter französischer Philosoph so: Weder er noch Philipp Roth hätten den Preis bekommen können, denn sie passten nicht in das Bild des von Feminismus beherrschten Nobelpreiskomitees. Den Kontakt zu Philip Roth, lese ich in einem Artikel der FAZ, nahm Kundera schon ganz früh auf, er war es, der den Schriftsteller für „The New York Times Book Review“ interviewte, in dem sehr prägnante und für die heutige Welt wichtige Aussagen fielen. Auf die Frage „Glauben Sie, dass die Welt bald untergeht?“ antwortete er sehr weise: „Ein Mann weiß, dass er sterblich ist, aber er nimmt es als gegeben hin, dass seine Nation eine Art ewiges Leben besitzt“. Doch nach der Invasion in der Tschechoslowakei 1968 konnte ein anderer Gedanke aufkommen, seine Nation könnte „stillschweigend aus Europa getilgt werden, so wie in den letzten fünf Jahrzehnten vierzig Millionen Ukrainer stillschweigend aus der Welt verschwanden, ohne, dass es die Welt gekümmert hätte.“ Weiter führte er diesen Gedanken dann in seinem berühmten Essay „Un occident kidnappé – die Tragödie Mitteleuropas“: Die Menschen aus Polen, der damaligen Tschechoslowakei, Rumänien, dem ehemaligen Jugoslawien oder Ungarn seien Opfer eines Dramas geworden, das nicht als die Tragödie des Ostens sonders des Westens bezeichnet werden müsste. Der kulturelle Herzschlag des Westens poche nicht in den vom Kapitalismus abgestumpften und entkernten Gesellschaften Frankreichs, Englands, Westdeutschlands oder der USA, sondern in den unterdrückten kleinen Nationen hinter dem Eisernen Vorhang, in denen der Wunsch nach einem Leben in Selbstbestimmung loderte.
In diesem Sinne De mortuis nil nisi bene, doch für seine tschechischen Kollegen wird er immer der weltbekannte Schriftsteller bleiben, an dem man sich messen muss, und wird so weiter für Unruhe sorgen.
