Monika Wrzosek-Müller
Das Buch von Robert Menasse und der Gedanke als solcher
Ein Film, ein Buch in so kurzer Zeit zu einem ähnlichen Thema, ein Zufall?
In Cannes wurde der neue Film Rapito [die Entführung] von Marco Bellocchio gezeigt. Der Film erzählt die Geschichte eines jüdischen Kinds, das 1858 in Bologna – die Stadt gehörte damals noch zum römisch-katholischen Kirchenstaat – von der päpstlichen Obrigkeit entführt wurde. Die Familie, wohlhabend und nach jüdischen Bräuchen lebend, konnte nichts dagegen unternehmen. Das Kind, Edgardo Mortara, war von einem katholischen Kindermädchen getauft worden, da diese dachte, das Kind liege im Sterben und sie müsse seine Seele durch eine Nottaufe retten. Naiv, wie sie war, erzählte sie diese Geschichte leider auch weiter. Zu Zeiten von Papst Pius IX. war dies ein zureichender Grund für die päpstlichen Milizen, das Kind zu verschleppen und nach Rom in eine päpstliche Schule zu verbringen. Diese sehr malerisch inszenierte Geschichte steht für viele ähnliche Schicksale in der Zeit des Kirchenstaats. Die katholische Kirche versuchte, die Ausbreitung des jüdischen Glaubens mit allen Mitteln zu verhindern. Die Methode, Kinder zu entführen und sie dann im anderen Glauben zu erziehen, findet leider auch in unserer Zeit Nachahmer (siehe die Entführungen ukrainischer Kinder durch die Russen, was den Regisseur zu einer Äußerung in der Reppublica veranlasste: „Ich habe mich der Geschichte verpflichtet gefühlt, ohne zu verurteilen. Aber wenn dann jemand politische Reflexionen über die Gegenwart anstellen sollte, würde ich ihm zuhören“). Der Film zeigt auch, wie empfänglich doch Kinder sind, sie werden durch Geschenke und autoritäre Erziehung folgsam gemacht; der junge Mortara will nach der Befreiung Roms 1870 nicht zu seiner Familie zurückkehren. Er bleibt dem Katholizismus treu bis zu seinem Tod 1940. Immerhin versucht sein Vater noch einmal, sein Recht vor Gericht zu erstreiten, was ihm aber misslingt. Der Fall Mortara scheint sehr gründlich untersucht und in Archiven dokumentiert zu sein.
In dem Buch Die Vertreibung aus der Hölle von Robert Menasse las ich: „Der harmoniesüchtige Diplomat Manasseh und der machtbewusste Politiker Aboab. Nur einer von ihnen konnte Oberrabbiner werden, Nachfolger ihres Lehrers. Einer von ihnen sollte es trotz ihrer Jugend werden. Die anderen, älteren Rabbiner steckten freiwillig zurück: Herschkowicz, der Rabbi der kleinen Schar armer Ostjuden in Amsterdam, hatte zu wenig einflussreichen Anhang; ebenso Goldstücker aus Glückstadt, der von der erst in Aufbau befindlichen deutschen Gemeinde nach Amsterdam berufen worden war; Rabbi Saul Levi Mortara, ein profunder Gelehrter und Wissenschaftler ohne rhetorisches Talent oder politisches Interesse, wollte nichts als die Leitung der Yeshiva, die der Schriftgelehrte auch bald zugesprochen bekam…“ so war die Familie Mortara wohl sehr gläubig und wirklich bekannt. Damit habe ich einen Übergang zu dem wirklich faszinierenden Buch von Robert Menasse gefunden.
Es werden zwei Biographien parallel erzählt, die von Viktor Abravanel, 1955 in Wien geboren, wo er auch aufwuchs und weiterhin lebt, einem Historiker und Spinoza-Forscher, und die von Samuel Manasseh bin Israel, geboren 1604 in Portugal, dann mit seinen Eltern nach Amsterdam geflüchtet, und dort als Yeshiva-Lehrer, Gelehrter und Autor tätig. Der Einband zeigt das bearbeitete Porträt des Rabbi Menasse nach dem berühmten Gemälde von Rembrandt.
Das Interessante und fast geniale dabei: diese beiden Lebensläufe gleichen sich immer wieder, obwohl zwischen ihnen etliche Jahrhunderte liegen und die Helden ganz unterschiedliche Persönlichkeiten sind. Sie werden auch so erzählt, dass man den Eindruck hat, sie überschneiden sich, und oft gelten oder passen die ersten Sätze eines Abschnitts für beide Geschichten. Noch interessanter: Viktor Abravanel scheint ein Nachkomme des Rabbiners Manasseh zu sein.
Das Buch beginnt mit einer Szene in dem Städtchen Vila dos Comecos in Portugal; da findet gerade ein Trauerzug statt, bei dem aber niemand trauert. Es wird nämlich eine Katze zu Grabe getragen, die vorher an einem Holzkreuz gekreuzigt worden war. So werden wir in die Szenerie des Kampfes gegen die Ketzer und Häretiker und das Wirken der Inquisition eingeführt. Den kleinen Manoel lernen wir mit der Schar der Kinder kennen, die in den Gassen herumlaufen und nach „Kryptojuden“ suchen. So wird die Atmosphäre des Terrors und der Angst sichtbar; dabei weiß der kleine Manoel offensichtlich nicht, dass er selbst zu den Verfolgten gehört.
Das nächste Bild oder Abschnitt beginnt genial mit einer Beschreibung eines Festessens zum fünfundzwanzigsten Abiturjubiläums der Klasse von Viktor. Wir lernen ihn also als erwachsene Person kennen. Das Essen sollte in dem renommierten Wiener Restaurant „Zum Goldenen Kalb“ unweit des Gymnasiums stattfinden. Doch Viktor verursacht willentlich einen Skandal, auf den er sich sogar vorbereitet hat. Alle sind gekommen: „vierzehn Burschen, acht Mädchen […] sieben ehemalige Lehrer und der Schuldirektor“. Alle sollen nun über ihr Leben in den letzten 25 Jahren erzählen, Viktor aber konfrontiert die ganze Lehrerschaft mit ihrer Nazi-Vergangenheit, indem er ihnen ihre NSDAP-Mitgliedsnummer vorliest. Daraufhin löst sich die ganze Gesellschaft auf; die Lehrer flüchten schneller als man sich hätte vorstellen können, auch die ehemaligen Schüler verlassen empört das Restaurant. Viktor bleibt mit Hildegunde, seiner ehemaligen Angebeteten zurück. Sie essen zusammen das bestellte Festmenü und fahren anschließend mit einem Taxi durch Wien. In der Retrospektive erfahren wir dann seine Lebensgeschichte. Auch er ist sich seiner jüdischen Herkunft lange nicht bewusst gewesen. Detailliert lernen wir Viktors Lebensweg kennen, seine Kindheit zwischen den geschiedenen Eltern und den Großeltern und seine Studienzeit mit einem unglücklichen Intermezzo mit seiner Jugendliebe Renate und dessen Folgen. Manche Kritiker werfen dem Schriftsteller eine allzu zwanghafte Komposition des Buches vor. Ich persönlich finde gerade diese Verstrickung und Ähnlichkeit der Empfindungen beider Helden sehr gelungen. Sie werden auf so geniale Weise erzählt, dass oft die ersten Sätze des nachfolgenden Abschnittes für beide Geschichten gelten und man am Anfang nicht weiß, zu welcher Geschichte sie gehören.
Denn wovon handelt das Buch eigentlich; das Leben der jüdischen (und vielleicht aller anderen Migranten, wenn auch weniger drastisch) Helden, die nicht einmal wissen, dass sie jüdisch sind, weil die Eltern, um sie zu schützen, ihnen das vorenthalten, von ihrer Einsamkeit und einem Kampf um Weiterkommen und Anerkennung. An keiner Stelle dieser beiden Schicksale hat man den Eindruck, dass der Held angekommen sei; weder in Portugal, noch in Amsterdam, noch, in Viktors Fall, in Wien, obwohl er dort geboren wurde. Im polnischen gibt es den Begriff des „Żyda tulacza“ [des ewig wandernden Juden – des Ahasver]. Ich denke, darüber erzählt das Buch, von dem ewigen Suchen und den Versuchen, eine eigene Identität, Souveränität zu finden; es liefert keine Lösungen, doch es macht sehr eindringlich deutlich, welche Schranken, Barrieren sie überwinden und mit welchen Ängsten und Unsicherheiten sie leben müssen. Das ist mehr als genug.
An einer Stelle gibt es auch ein paar Sätze über Don Quijote, in einem Gespräch zwischen Manoel und Estrela, zwischen Bruder und Schwester: „Oder denk an den Don Quijote de la Mancha. An wen? Don Quijote. Nicht gelesen? Hat das keiner bei euch hineingeschmuggelt ins Konvikt? Das neue Buch, über das jetzt alle Welt spricht. Jeder liest es. Eine Mitschülerin im Kloster hatte plötzlich ein Exemplar. Wir haben das Buch zerlegt in lauter einzelne Seiten, damit jede gelesene Seite gleich zur nächsten Mitschülerin weiterwandern konnte. Das ist ein Roman über einen Hidalgo, einen Altchristen, der natürlich alles wörtlich nimmt, was er liest. Und so und nur deshalb wird er zur lächerlichen Gestalt. Ein typischer Christenmensch. An seiner Seite einer, der es, wenn auch unbedacht, besser versteht: Samuel, genannt Sancho! Er weiß, wir wissen: Große Worte – lächerliche Taten! Ganz große Worte – mörderische Taten! Und wer hat dieses Buch geschrieben? Miguel de Cervantes Saavedra, wieder ein getaufter Jude!“ Ein Geschenk an Ewa.
