Monika Wrzosek-Müller
Jede Nacht gab es einen Ton, der wie ein Metronom, gleichmäßig und metallisch klang; er kam von verschiedenen Stellen vom Campingplatz nebenbei. Wir dachten alle, es wäre eine Art Alarm, ein Sicherheitssystem oder eine Abschreckungsvorrichtung gegen Mäuse, Ratten oder Geckos, oder vielleicht auch gegen Mücken. Der Ton setzte in der Dunkelheit ein und dauerte immer ziemlich lang. Irgendwann hielt ich es nicht mehr aus, und nach der nächsten unruhigen oder eher durchwachten Nacht, in der nicht nur ich den Ton gehört habe, sondern noch zwei junge Leute, die bei uns zu Gast waren, lief ich zum Campingplatz und fragte ganz sachlich den Besitzer.
Was das nun eigentlich sei, wir wären doch Nachbarn und es könnte ihm doch nicht daran gelegen sein, so unsere gute Beziehungen zu zerstören. Er tat erst mal überrascht und dann verstand er sofort, worauf ich hinaus wollte, wahrscheinlich sah ich auch sehr unausgeschlafen aus. Er sagte ganz knapp: „Das ist ein Vogel.“ – „Ein Vogel?“ Ich konnte mein Staunen nicht unterdrücken, die Skepsis klang auch ganz stark mit. Er nahm ein Stück Papier und schrieb mir nur ein Wort mit Druckbuchstaben auf: L`ASSIOLO, dazu sagte er: „Schauen sie im Internet nach. Wir haben versucht ihn abzuschießen, ging nicht, ist zu klein, versteckt sich in den Baumkronen“. Er war ein netter Mann, ich habe ihn früher schon mal beobachtet, wie er die Blätter fegte und sehr ordentlich die Einfahrt zum Campingplatz sauber machte. Es blieb mir nichts anderes übrig, als mich zufrieden zu geben; ich fragte nur um mein Mistrauen auszudrücken: „Wir kommen seit vielen Jahren hierher, der Vogel muss extra dieses Jahr gekommen sein“. „So ist es; er kommt und fliegt auch weg, manchmal bleibt aber doch länger, baut sich ein Nest“. Nun blieb mir nichts anderes übrig als „Danke“ zu sagen und zu gehen.
Natürlich schaute ich sofort im Internet nach: da fand ich otus scops, Zwergohreule. In Deutschland kommt sie eher selten vor, doch in Toskana, in Italien, ist sie sehr verbreitet. In Wikipedia fand ich folgende Beschreibung des Lauts vor: „Er ist ein peilsenderartiges, fast immer einsilbiges, etwas nasales und nicht besonders lautes ‘Djü‘, das in Abständen von zwei bis 3,5 Sekunden oft stundenlang wiederholt wird. Die Gesangaktivität beginnt kurz nach Sonnenuntergang und endet in der Morgendämmerung; nach Mitternacht geht die Rufaktivität für ein zwei Stunden deutlich zurück.“ Die Beschreibung passt, wir haben es genau so erlebt; unsere italienische Freundin wusste sofort Bescheid. Sie lachte und sagte: „Ach ihr leidet also auch unter dem Vogel“.
Dass ich in Italien immer wieder Menschen kennenlerne und mit ihnen ins Gespräch komme, läge, dachte ich, an meinen Italienisch-Kenntnissen, dem ist, war aber nicht so. An einer eher absurden Stelle, in einem kleinen italienischen Städtchen, erlebte ich in diesem Sommer eine unglaubliche Begegnung. Sonst sind die Begegnungen auch nett, von gegenseitigem Interesse geprägt, aber eher recht gewöhnlich.
In der Fischereigenossenschaft von Orbetello traf ich einen netten Fischverkäufer, der uns seine frischen Fische sehr preiswert verkaufte und dazu weit ausholende Erklärungen gab, welchen Fisch man warum nehmen sollte. Er war so freundlich und gesprächig, dass wir länger in dem kleinen Laden standen, und zwischendurch auch mal unter uns Polnisch redeten – bis wir merkten, dass an der Wand des Geschäfts eine kleine Karte mit einer Ansicht aus Litauen und auch litauische Flagge hingen. Da sprach uns der Mensch an der Theke in gutem Polnisch an; er war Litauer, der aber fließend polnisch sprach und offensichtlich sein Land sehr liebte und sich danach sehnte. Er fing an zu erzählen, wie toll es den Menschen in Litauen jetzt gehen würde und wie schön das Land sei. Ich tat unvorsichtig und ziemlich plump die Äußerung: „ach, Vilnius ist ja eine wunderschöne polnische Stadt“. Daraufhin sprang er fast in die Luft: Vilnius wäre seit Jahrtausenden eine litauische Stadt. Es prasselte die ganze Geschichte von Litauen und Polen auf mich nieder. Wahrscheinlich war es ein Hobby von ihm, die Geschichte seines Landes auf den Internetseiten zu präsentieren; auf jeden Fall bekam ich dann, beginnend mit dem Jahr 1008, in zum Glück verkürzter Version die Geschichte des kleinen Landes zu hören. Man muss sich das vorstellen, eine kleine pescheria, hier die toten Fische und da der Computer mit einem großen Bildschirm, auf dem die ganze Geschichte Litauens ablief: da ein Radziwiłł und dort ein Jagiełło und irgendwelche Schlachten und Unionen. Er kommentierte alles noch eingehend folgendermaßen: damals war Litauen viel größer als Polen etc… Natürlich kam dann auch irgendwann die Ermahnung, Vilnius wäre die Hauptstadt von Litauen und nicht eine polnische Stadt. Polen lebten dort und haben die Stadt verschönert, das gab er zu, aber sie war immer litauisch. Ich wand mich in Entschuldigungen und meinte, es wären da so viele für Literatur und Geschichte bedeutende Polen geboren, nur deswegen hätte ich das erwähnt. Er ließ mir mein Fauxpas nicht so einfach durchgehen. Ich musste beteuern, dass ich jetzt verstanden habe; es wäre die litauische Hauptstadt. Der größte Vorwurf kam dann auch gleich: wieso wären wir da noch nicht gewesen? Als Patriot und Pole müsste man Litauen gesehen haben. Wir beteuerten, dass es unser nächstes Ziel sein würde und versuchten zu verschwinden, was auch nicht so leicht war, denn er redete nun mal gerne Polnisch.
Auf jeden Fall empfahl er uns das Fischrestaurant in der Genossenschaft, an der Lagune, das offensichtlich sehr angesehen und gefragt war, denn als wir am Abend vorbeischauten und dort essen wollten, standen schon Schlangen vor der Anmeldung. Wir wurden in eine Ecke gezwängt und haben unsere Fische, ohne Beilage bekommen. Nicht, dass es irgendwie besonders geschmeckt hätte.
Die nächste Begegnung ereignete sich auf einer Fähre zu einer kleinen Insel nahe Monte Argentario. Wir fuhren mit einer Gruppe von Italienern; manche griffen sofort nach ihren Essenspaketen. Wir setzten uns auf dem Deck hin und eigentlich gleich danach, sprach mich ein junger Mann in bemüht korrekten Deutsch an. Er wäre ein Student aus Triest und würde Spanisch und Englisch studieren, aber eigentlich würde er lieber arbeiten, doch eine Arbeit bekommt ein junger Mensch in Italien sehr selten, so muss er eben studieren… und Sprachen wären doch nicht schlecht, nicht wahr? Seine Mutter würde ihm immer sagen, studieren wäre was Gutes und er hätte eben auch etwas Deutsch gelernt, damit er über Anorexie lesen könnte. Seine Schwester würde immer weniger essen und hätte große psychischen Probleme, und er würde sich Sorgen machen. Das alles prasselte auf mich in einem Gemisch aus Italienisch und Deutsch ein und er war nicht aufzuhalten. Und was würden wir auf so einem Schiff machen, mit dem eigentlich nur Italiener fahren, und ob ich denn alle toskanischen Inseln kennen würde und warum gerade die Insel Giannutri, und ohne meine Antwort abzuwarten, legte er gleich wieder los. Er würde an der Grenze zu Latio wohnen, am Lago di Bolsena, und es sei eine wunderschöne Gegend, doch so im Sommer langweilig, also macht er so einen Ausflug, außerdem hätte er beschlossen alle Inseln im Sommer zu besichtigen und das macht er also jetzt.
Bald haben wir dann auch die Insel erreicht und waren erstaunt als wir feststellen mussten, dass es kein Café und kein Restaurant auf der Insel gab. Wie das so auf einer kleinen Insel ist, bald darauf trafen wir den jungen Mann wieder, an einem Strand mit den Ruinen einer römischen Villa. Natürlich setzte er sich zu uns und setzte seine Erzählung fort… Das Beste für uns waren seine panini, die ihm seine Mutter gemacht hat und die er mit uns teilte. Wir schwammen zusammen in einem antiken Becken, schnorchelten und er erzählte immer wieder, was er denn gerne machen würde und noch nicht getan hätte.
Beim Sonnenuntergang fuhr unser Schiff nach Porto S. Stefano zurück. Ich habe mich leider nur flüchtig von dem jungen Mann verabschiedet, hätte ihm meine Telefonnummer, E-Mail geben sollen, denn Geschichten erzählen konnte er schon.
Eine nette und überraschende Begegnung geschah in einer Pizzeria, in die wir seit Jahren gehen, auch mit unserem Sohn und seiner Freundin, auch mit anderen Gästen, weil sie die netteste, preiswerteste und schmackhafteste in Orbetello ist. Nie im Leben hätten wir gedacht, dass…
Also dieses Jahr kam auch meine Schwester mit ihrem Sohn uns in Italien zu besuchen. Natürlich gingen wir in unsere kleine Pizzeria; wir bestellten meistens unsere gewöhnlichen, sehr einfachen Sachen, trinken auch dazu den Hauswein (immer gut sortiert); sie probierte alles, alle Salate und Stücke von Pizza und Crostini auch Fische etc… natürlich sprachen wir dann alle Polnisch miteinander, denn sie wollte auch alles wissen. Was das sei? Und wie es auf Italienisch heißen würde. Daraufhin sprach uns eine Bedienung in der Pizzeria im reinsten und klarsten Polnisch an und sie meinte: „seit Jahren beobachte ich sie und weiß nicht, was sie sind, Deutsche oder doch Polen. Jetzt aber traue ich mich, sie anzusprechen. Wir machen hier schon Wetten, wer sie sind. Meine Kollegin hat richtig getippt und gewonnen…“ Daraufhin stürzten noch zwei Frauen aus der Küche in den Laden; wie sich herausstellte allesamt Polinnen. Wir haben alle vorzüglich gegessen, Polnisch gesprochen und gelacht. Die Frauen, muss ich zugeben, sprachen exzellent Italienisch, sie wohnten auch da, waren verheiratet, hatten Familien…
