Michael Meinicke
Ein Tag im August
Sommerliche Hitze. Vom nahen Badesee klingt Kinderlachen herüber. Ich begebe mich auf den Weg zum deutschen Haus. Links und rechts gesäumt von Bäumen und Buschwerk. Das Grün ist besonders dicht und kräftig. Sehr gut gedüngt sind diese Pflanzen. Ich laufe auf eine pompöse Mauer aus Naturstein zu. Eine eindrucksvolle Kulisse für Politiker. Hier halten sie Reden. Hier steht schwarz über ihren Köpfen: DEN OPFERN. Ein schmaler Pfad führt um dieses Bauwerk. Versteckt dahinter befindet sich das deutsche Haus. Auf den ersten Blick ein Pissoir. Eine Hütte. Die Wände roh gemauert. Backstein von seltsamer Art. Durchsetzt von Löchern. Vollgesogene, aufgeschichtete Schwämme. An der einen Seite befinden sich zwei hölzerne, verschlossene Tore. Emaillierte Schilder mit EINS und ZWEI darüber. Abgesägte, verrostete Stahlträger eines ehemaligen Vordaches ragen aus den Fugen. Fenster in uralten Eisenrahmen. An der anderen Seite zwei Öffnungen, die in Schwärze führen. Hinein in den Hinrichtungsschuppen des Strafgefängnisses Plötzensee. Von 1933 bis 1945 gingen durch diese Löcher über zweitausendfünfhundert Menschen ins Nichts. Im ersten Raum sind schwach beleuchtete Texttafeln an die Wände gehängt worden. Dieselben Texte sind in bereitliegenden Broschüren zu lesen. In der Ecke ein Wandschrank, aus dem touristische Abfälle quellen.
Menschen, die ermordet werden sollten, wurden zuerst hier hineingeführt. Die Hände schon seit Tagen gefesselt. Mehrere Männer standen hinter einem Tisch. Funktionsträger: Der Vorsteher des Totenhauses Appelt, Staatsanwalt Stoltz, der Richter Manfred Roeder, Professor Stieve vom Anatomisch-Biologischen Institut der Friedrich-Wilhelm-Universität und mit gedruckter Einladungskarte in der Tasche Kommissar Strübing. Liane Berkowitz wurde gebracht. Sehr klein und zierlich. Neunzehn Jahre alt. Im Mai 1942 hatte sie eines Nachts Flugblätter auf dem Ku’damm geklebt. Gegen die Propaganda- Ausstellung “Das Sowjetparadies”. Am 26. September 1942 wurde sie morgens um sechs Uhr verhaftet. Sie lebte bei ihrer Mutter. Sie erwartete ein Kind. Im April 1943 wurde ihre Tochter Irene im Frauengefängnis geboren. Vier Monate später “verstarb” das Kind im Krankenhaus der SS in Eberswalde. Diese Nachricht wurde der Mutter noch übermittelt. Der Staatsanwalt sagte: “Scharfrichter, walten sie ihres Amtes!” Zwei kräftige Helfer packten die junge Frau und warfen sie unter das Fallbeil. Der Henker Roettker drückte auf den Knopf. 19 Uhr und 45 Minuten am 5. August 1943. Liane war die letzte von 13 Frauen, die seit 19 Uhr ermordet wurden. Roettker hatte dabei seine Zigarette nicht aus dem Mund genommen. Pro Kopf erhielt er 80 Reichsmark Prämie. Nun begann Professor Stieve mit seiner Auswahl. Hart hatte er in den vergangenen Wochen verhandelt. Seit Kurzem wurde nur noch abends gemordet. Eventuell störende Luftangriffe waren um diese Zeit seltener. Der Professor wollte aber den Anteil für seine Anatomie-Studenten rechtzeitig bekommen. Wenigstens die letzte Straßenbahn sollten sie nach dem Unterricht noch erreichen. Stieve zeigte selektierend auf die offenen Kisten. Die Frauen wurden ausschließlich gynäkologisch seziert. Die zerschnittenen Leichen wurden als Abfall beseitigt. Kommissar Strübing hatte für Lianes Vernehmungen 5.000 Reichsmark Prämie erhalten. 1.1967 verstarb er, geehrt als Mitarbeiter des Bundesnachrichtendienstes. 1951 wurde Roeder angeklagt. Das demokratische Gericht der Bundesrepublik verurteilte nicht ihn. Es sprach gegen die anklagenden Angehörigen der Ermordeten Geldstrafen wegen Verleumdung aus. Roeder lebte rehabilitiert im Kreise der Familie in seiner Villa. Der zweite Raum des Hinrichtungsschuppens enthält nicht einmal Texte an den Wänden. Ein dicker Berliner hat seinen spanischen Freund hergeführt. Er schimpft: „Wieso ist das Waschbecken abmontiert? Nur die gelben Kacheln dahinter sind geblieben. Wo sind die Holzstufen zum Galgen? Weshalb fehlen am Doppel T-Träger drei der ehemals acht Haken? Wo ist das Fallbeil geblieben?” Wir stehen in leerem Raum. Die Erinnerung soll schwinden. Der spanische Besucher geht hinaus. Unter Tannen ein idyllisches Häuschen. Der uniformierte Wächter öffnet. „Haben Sie die Gedenkbroschüre auf Spanisch?” „Nee! Jibs nich’!” „Französisch ginge auch.” „Französisch is’ aus!” Der Wächter schließt die Tür. Mit seinem guten deutschen Schäferhund geht er um die Ecke. Tischzeit. Mahlzeit. Über sechs Meter hohe Mauern weht der Geruch von Sauerkraut und Bauchfleisch. Plötzensee ist heute ein riesiges Knastgelände für Jugendliche. Für Frauen. Bei der Einweihung erwähnten die Politiker mit Stolz die Mutter-und-Kind-Zellen. Das Blut der bestialisch Gemordeten haben die Steine aufgesogen. Es lief in die Abwasserkanäle. Es düngte die Bäume und Pflanzen. Es klebt am Geld der damals Beteiligten. Überall in Deutschland lebten sie. Bauten den Nachkommen Häuser. Von Flensburg bis Freiburg quillt dickes Rot aus den Wänden…
***
Tibor Jagielski
tod im tegel
XXV SEPTEMBER
für hannelore
zuletzt schleppte sich eitelberg auf das dach
und sprang in die tiefe
er lebte im siebten stock und unter seiner loggia
wuchsen die zwergkiefern
er wollte auf numer sicher gehen,
darum erklomm er
mit letzter kraft die sechs etagen und stürzte sich
vom dreizehnten stock
auf die betonplatten; genau dort wo siebenhundert bewohner des hauses tagein tagaus
vorbeigehen; einen monat lang trat aus den poren des steines sein blut heraus
und färbte rostrot das grau, zwei handflächen gross.
neunundvierzig tage wollte ich an ihn denken.
manchmal legte ich eine wildrose, zog die mütze ab und blieb eine minute stehen,
doch meistens blieb es nur beim rose werfen
und mütze ziehen
(szybciej, franek, szybciej);
einmal wachte ich in der nacht auf, genau um die zeit als er sprang, und fragte mich: warum?
(ich suchte dann die brahmsplatte aus, weil bei ihm die träne, die von dem auge fällt das herz erleichtert);
ein paar mal sprach ich für ihn das vaterunser
(so wie ich es die ganze kindheit und jugend tat,
wenn jemand starb);
manchmal meditierte ich am seeufer oder dachte an ihn beim schwimmen;
doch es gab auch tage wo ich eitelberg komplett vergaß;
es ging schnell – so reisst sich leben von dem tode weg und versucht zu fliehen.
es ging schnell: zuerst verschwand die leiche,
dann die polizei, die gaffer und die reporter;
reinigungsarbeiter schütteten den sand und kamen
drei tage hintereinander mit den besen;
keiner legte einen blumenstrauss oder zündete eine kerze – tschüss, erledigt;
– eeyyy!!! läßt es liegen…- rief ich einmal so laut
wie ich konnte,
als irgendwelche idioten meine blume zertraten
(sie wurden plötzlich zehn zentimeter kleiner und bogen im rudel brav um die ecke), es war mitternacht und
später, viel später,
kurz vor dem sonnenaufgang,
flog das reiherpaar mit dem jungen am rostroten himmel vorbei und dahin.
am siebenunddreißigsten tag fing es zu regnen an;
die wolken kamen aus dem westen
und brachten näße drei tage lang;
dann fuhr ich weg auf die insel gepeitscht vom wind
und von zweifel; doch die ließen bald nach, als ich die wellen umarmte, sanddorn pflückte und schnitt ab den
flundern die köpfe; es wurde stiller und stiller; bis die feuerquallen an den strand kamen
und tanzten im seichten
gewässer;
sie waren rostrot;
doch ich ging am fünfzigsten tag
mit undine
in das blau
an ihnen vorbei.
2009

